Russland und Polen streiten über den 2. Weltkrieg - Geschichte als Politik

Der 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wird von einem Streit zwischen Russland und Polen überschattet. Russlands Präsident Wladimir Putin wirft Polen eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg vor. Seine Attacke folgt einem bewährten Muster – und sie geht auf Kosten der Holocaust-Opfer

Streiten um die Deutungshoheit über den 2. Weltkrieg: Wladimir Putin und Andrzej Duda / picture alliance
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Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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In den staatlichen Medien in Polen war man sich am gestrigen Donnerstag einig. „Das war ein großer Erfolg der polnischen Diplomatie“, verkündeten diese einstimmig und meinten damit nicht irgendwelche polnischen Regierungspolitiker, sondern den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin. Denn bei seinem Auftritt bei dem Welt-Holocaust-Forum in Jerusalem hielt Putin eine zurückhaltende Rede. In den vergangenen Wochen hatte er den Hitler-Stalin-Pakt als einen reinen Nichtangriffspakt verharmlost und Polen Antisemitismus und eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg vorgeworfen. Über Wochen andauernde Attacken, die nicht nur zu einem polnisch-russischem Geschichtsstreit führten, sondern auch das Welt-Holocaust-Forum überschatteten. 

Anfang Januar verkündete der polnische Staatspräsident Andrzej Duda, dass er nicht an dem Welt-Holocaust-Forum teilnehmen werde und begründete dies mit dem ihm verweigerten Rederecht bei der Veranstaltung. Warschau fürchtete, dass Putin die Veranstaltung, hinter der mit Mosche Kantor auch noch ein Kreml-naher Oligarch steckt, für erneute Vorwürfe gegen Polen nutzen werde. Ohne dass Duda auf diese reagieren könne. Eine Absage, welche die Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Vorfeld dominierte, an der neben Bundespräsident Steinmeier auch Staatsoberhäupter und Vertreter von 40 Staaten teilnahmen. 

Putins erinnerungspolitische Wende  

Doch was steckt hinter den jüngsten Aussagen Putins über den Hitler-Stalin Pakt? Will der russische Präsident die Geschichte der Sowjetunion reinwaschen? Immerhin gehört der „Große Vaterländische Krieg“, dessen Ende am 9. Mai in Moskau mit allem Pomp gefeiert wird, auch zu den wichtigen historischen Narrativen des heutigen Russlands. „Was Putin momentan betreibt, dient allein nur der Politik“, sagt Martin Aust, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität in Bonn, gegenüber Cicero

„Noch vor 10 Jahren verurteilte er den Hitler-Stalin-Pakt", so der Historiker und erinnert an den 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen im Jahr 2009. „Bei seiner Rede auf der Westerplatte in Danzig sagte Putin, dass die Rote Armee kein Befreier sein konnte, weil sie selbst nicht frei war. Ein Jahr später gedachte er in Katyn gemeinsam mit dem damaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk der vom NKWD ermordeten polnischen Offiziere. Und als kurz darauf der polnische Staatspräsident Lech Kaczyński bei dem Flugzeugabsturz von Smolensk ums Leben kam, lief im Ersten Kanal, dem russischen Staatsfernsehen, Andrzej Wajdas „Das Massaker von Katyn“. „Noch 2007, als der Film rauskam, wurde er nur für kurze Zeiten in einigen russischen Kinos gezeigt", sagt Aust.

Streitpunkt: die Ostseepipeline Nord Stream 2

Es war eine heute kaum noch vorstellbare historische und politische Annäherung zwischen Polen und Russland, die einen simplen politischen Hintergrund hatte. „Russland wollte damals in die Welthandelsorganisation WTO eintreten. Polen hatte Bedenken", erklärt der Bonner Historiker. Und ähnlich sei die Situation heute. Russland ist zwar seit 2012 Mitglied der WTO, doch mit der sich im Bau befindlichen Ostseepipeline Nord Stream 2, durch das Deutschland direkt mit russischem Gas beliefert werden soll, gibt es einen neuen Streitpunkt.

Polen gehört in Europa zu den größten Kritikern des Projekts und befürwortet die im Dezember von den USA erlassenen Sanktionen gegen die am Bau der Pipeline beteiligten Firmen. Mit dem Zeitpunkt der US-Sanktionen begannen auch Putins verbale Angriffe gegen Polen. Dabei griff Putin auf eine Strategie zurück, die er bereits 2014 angewendet hat. „Schon die Annexion der Krim begründete Putin mit einer sehr einseitigen historischen Argumentation“, sagt Aust.

Das Schicksal der Holocaust-Opfer tritt in den Hintergrund

Der aktuelle russisch-polnische Geschichtsstreit hat aber noch eine andere Seite. Die in Warschau regierende PiS betreibt selbst eine sehr offensive, einseitige Geschichtspolitik und macht sich dadurch selbst verwundbar. Bestes Beispiel dafür ist das 2018 von den Nationalkonservativen initiierte IPN-Gesetz, das in Deutschland besser als „Holocaust-Gesetz“ bekannt ist. Dieses hat Warschau aufgrund der internationalen Kritik zwar entschärft, doch Wissenschaftler wie Jan Grabowski oder Barbara Engelking, welche dem nationalkonservativen Narrativ von Millionen heldenhaften Polen widersprechen, die während des II. Weltkriegs Juden gerettet haben sollen, sind in Polen starker Kritik ausgesetzt.

Was jedoch kein Grund ist, Polen in dem aktuellen Streit mit Russland alleinzulassen. „Auch wenn die polnische Regierung eine sehr einseitige, nationalistische Geschichtspolitik betreibt. Gegen die aktuellen Angriffe aus Russland, die nicht anderes sind als eine Umschreibung der Geschichte, muss man Polen schützen“, betont Aust. Was aber Russland und Polen rund um den 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz schmerzhaft zeigen: Das Schicksal der Opfer der NS-Vernichtungspolitik tritt in den Hintergrund. Die Schlagzeilen dominiert ihr geschichtspolitischer Streit.

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