Fünf Jahre Brexit-Referendum - Weder Katastrophe noch Erfolgsstory

Großbritannien behauptet sich auch ohne die EU. Doch die Wirtschaftsleistung liegt heute noch knapp neun Prozent unter dem Niveau von Ende 2019. Und die Zukunft Schottlands und Nordirlands im Verband mit England wird von den kleineren Nationen hinterfragt.

Der Union Jack, die Flagge von Großbritannien, im Jahr 2016 vor dem EU-Gebäude Foto: Laurent Dubrule/dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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In der Nacht vom 23. Juni auf 24. Juni 2016 verkündete Nigel Farage, damals Chef der „United Kingdom Independence Party“: „Der Tag für ein unabhängiges Vereinigtes Königreich bricht an!“ Da hatten die Briten gerade denkbar knapp mit 51,9 zu 48,1 Prozent in einem Referendum für den Austritt aus der EU gestimmt.

Hinter Farage, der die Brexit-Kampage betrieben hatte, standen strahlende Mitstreiter, die in Jubel ausbrachen, als er fortfuhr: „Das ist ein Sieg für die normalen Leute! Wir haben gegen die Multinationalen gekämpft, gegen die Banken, gegen die große Politik, gegen Lügen und Korruption … und heute hat der Glaube an die Nation gewonnen!“

„Tiefe Krise“

Fünf Jahre später ist der Brexit vollzogen. Der Austrittsprozess aus der Europäischen Union war mühseliger, als von den Brexit-Fans erwartet. „Ich würde es nicht gerade einen Krieg nennen wollen“, sagt Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng bei einer Veranstaltung der Londoner „Resolution Foundation“ am Dienstag, „aber wir Briten gingen durch eine tiefe Krise. Wir hatten drei Premierminister, noch nie dagewesene Vorgänge im Parlament, Parteien unter Stress und alle möglichen juristischen Herausforderungen.“

Die schwierigen Verhandlungen mit der EU nach einem knappen halben Jahrhundert Zugehörigkeit erschütterten die politische Szene gehörig. Erst trat David Cameron nach dem Referendum 2016 als Premierminister und Parteichef der konservativen Tory-Partei zurück. Ihm folgte Theresa May, die glücklos über ein Scheidungsabkommen mit der EU verhandelte. Dann übernahm 2019 Boris Johnson, drückte einen Brexit-Deal erst mit der EU und dann im Parlament durch, gewann damit die Wahlen im Dezember 2019 und führte die Briten am 31. Januar 2020 zum „Independence Day“. Eine Übergangsfrist dauerte noch bis Ende 2020, seitdem gehört Großbritannien auch nicht mehr zum EU-Binnenmarkt und zur EU-Zollunion. Auch Programme wie das europäische Erasmus-Programm für Studierende gehören der Vergangenheit an.

Nur Brexit-Hardliner in der Regierung

Dafür heißt es jetzt: Neue Freihäfen, die erst gebaut werden müssen, sollen den Übersee-Handel beflügeln. Wird „Global Britain“ die Europäische Union ersetzen können? Wer gehört zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern des Brexit?

Minister Kwasi Kwarteng selbst ist ein Gewinner der Brexit-Krise. Die Regierung von Boris Johnson ist durch die Bank mit harten Brexit-Befürwortern besetzt. Moderate Konservative sitzen heute auf den Hinterbänken im Unterhaus. Auch die Labour-Party wurde durch die Brexit-Frage gespalten. EU-Skeptiker Jeremy Corbyn wurde im April 2020 durch den moderaten Keir Starmer ersetzt – doch auch er versucht sein Bestes, möglichst wenig über den Brexit zu sprechen aus Angst, die alten Gräben wieder aufzureißen.

Einbruch des Wirtschaftswachstums

„Brexit ist wie eine Zitrone, die wir ausgelutscht haben“, sagt Boris Johnson. Für die britische Politik stimmt das. Der Austritt aus der EU ist nicht mehr zu ändern und Politiker aller Seiten wenden sich neuen Themen und Krisenherden zu. Vordringlich ist seit März 2020 die Corona-Pandemie. Die Folgen des weltweit grassierenden Virus, die das öffentliche und wirtschaftliche Leben mehr als ein Jahr lang in weiten Bereichen stark eingeschränkt haben, überdecken die Konsequenzen des Austritts aus der EU.

Knapp vor dem Ausbruch der Covid-Pandemie knickte das Wirtschaftswachstum allerdings wegen des Brexit doch merklich ein: Das britische Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeigte im Dezember 2020 nach Angaben des „Office for National Statistics“ noch 1,3 Prozent Wachstum und im Januar 2021 minus 2,5 Prozent. Die Wirtschaftsleistung liegt heute noch knapp neun Prozent unter dem Niveau von Ende 2019, den Vor-Brexit-Zeiten.

14 Milliarden Euro Handelsverluste

Am schlimmsten wurde der Handel getroffen. Seit dem Austritt aus dem Binnenmarkt fallen neue Zollerklärungen für Waren an. Britische Exporte brachen von Dezember bis Januar 2021 um knapp 41 Prozent ein, die Importe um 29 Prozent. Das waren Verluste in Höhe von etwa 14 Milliarden Euro. Der Handel britischer Unternehmen außerhalb der EU stieg im Vergleich nur wenig.

Diese anfänglichen Schwierigkeiten zwingen die britische Wirtschaft nicht in die Knie. Brexit-Fans sagen außerdem, die Briten kompensierten die Ausfälle damit, dass sie keine EU-Mitgliedsbeiträge in Milliardenhöhe mehr in Brüssel abliefern müssten. Brexit-Gegner halten dieses Argument aus vielen Gründen für zu kurz gedacht. Großbritannien habe aus vielen EU-Töpfen auch Zuschüsse zurückbekommen und obendrein bereichere die EU-Mitgliedschaft alle Teilnehmer auf verschiedenen Ebenen. Nicht zuletzt in der Mitbestimmung über künftige Entscheidungen.

Filialeröffnungen in der EU

Die Langzeitfolgen des Brexit beginnen sich erst langsam zu zeigen. Derzeit eröffnen in Britannien beheimatete Firmen Filialen in der EU, um die neuen Handelsbedingungen besser zu meistern. Diese Entwicklung bedroht auch den Finanzstandort Londoner City. Laut einem Report des Thinktank „New Financial“ im April 2021 haben mehr als 440 Unternehmen aus der Finanzbranche zumindest Teile ihrer Dienstleister nach Frankfurt und andere europäische Finanzzentren übersiedelt. Bisher sind nur 7.400 Mitarbeiter konkret betroffen, doch so manche Übersiedlung wurde wegen der Pandemie nur vertagt.

Protest gegen den Brexit kommt inzwischen nicht nur von den Pro-Europäern aus dem politischen und gesellschaftlichen Establishment. Eher beschweren sich jetzt ausgerechnet jene über unerwünschte Brexitfolgen, die für den Austritt aus der EU gestimmt haben.

Fischer bleiben auf ihrem Fang sitzen

Viele Fischer etwa träumten vom „Unabhängigkeitstag“, weil sie die EU-Fischer aus den britischen Küstengewässern vertreiben wollten. Die Fischindustrie macht zwar nur 0,12 Prozent der britischen Wirtschaft aus, hat aber für die Insel hohe symbolische Bedeutung. Der mit der EU vereinbarte Deal wird sich erst 2026 bemerkbar machen, wenn 25 Prozent der EU-Fischereirechte an die Briten übertragen werden.

Dank der neuen Zolldokumente verzögert sich allerdings der Transport und Export der britischen Meeresfrüchte; das kann bei frischem Fisch schnell den Ruin bedeuten. Der Export wird auch teurer, weshalb britische Fischer derzeit oft auf ihrem Fang sitzen bleiben. Sollten die Briten die eigenen Fischer zu sehr bevorzugen, könnte die EU mit Strafzöllen antworten. Den Fischern dämmert – wie auch der Autoindustrie, dass sie zu den Brexit-Verlierern zählen.

Streit um britische Würste

Noch viel heikler sind die Brexit-Folgen für Nordirland. Um die grüne Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu erhalten, bleibt Nordirland laut Austrittsauskommen im EU-Binnenmarkt. Da Boris Johnson die Briten zu einem harten Brexit führte, trat Großbritannien aber aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion aus. Johnson stimmte damit einem EU-Scheidungsabkommen zu, das eine Zollgrenze in der irischen See schuf. Seit Monaten wird jetzt intensiv um die Einfuhr britischer Würste nach Nordirland gestritten – das ist gemäß den EU-Binnenmarktregeln nach der Übergangsphase von sechs Monaten vom 1. Juli an nicht mehr möglich. Großbritannien droht damit, das Nordirland-Protokoll des Austrittabkommens mit der EU zu brechen. Die EU droht ihrerseits mit rechtlichen Schritten.

Innerhalb der nordirischen Politführung knirscht es deshalb gehörig. Die bisherige nordirische Regierungschefin Arlene Foster von der demokratisch-unionistischen DUP wurde von den Hardlinern in der Partei bereits gestürzt. Ihr Nachfolger blieb nur drei Wochen. Die gemeinsame Regierung mit der irisch-republikanischen Sinn Fein droht zu scheitern, bevor sie ihre Arbeit aufnimmt. Man kann sich nicht einigen, die irische Sprache in Nordirland im Amtsgebrauch zu stärken.

Zweites Unabhängigkeitsreferendum in Schottland

In Nordirland unterminieren die Spannungen den fragilen Frieden zwischen unionistischen Protestanten und irisch-republikanischen Katholiken. Wenn sie nicht beigelegt werden können, droht Gewalt. Die katholischen Nordiren könnten den Iren im Süden näherrücken.

Auch im Norden der britischen Insel droht dem Vereinigten Königreich eine sehr ernsthafte Herausforderung. Die Schotten haben bei den Wahlen zu ihrem Parlament im Mai den schottischen Nationalisten der SNP und den Grünen, die beide für ein unabhängiges Schottland eintreten, zu einer klaren Mehrheit verholfen mit 72 von 129 Sitzen. Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum steht in den kommenden Jahren an, wobei die Modalitäten dafür noch nicht geklärt sind. Da die Mehrheit der Schotten gegen den Austritt aus der EU war, hat der harte Brexit der konservativen Engländer die schottische Unabhängigkeit beflügelt.

Enorme Spannungen

Als Nigel Farage den „Unabhängigkeitstag“ der britischen Nation vor fünf Jahren feierte, war ihm vielleicht nicht bewusst, welche Spannungen der Austritt aus der EU in Schottland und Nordirland auslösen würden. Vielleicht aber beschwor er „den Glauben an die Nation“ nur mit dem Gedanken an die dominierende Nation England.

Der Brexit ist keine Katastrophe, aber eine Erfolgstory ist der Alleingang der Briten bisher jedenfalls nicht. Die Vision von Global Britain kämpft nach wie vor mit der von Little England. So leicht können mittelgroße Nationen in einer Welt, die von großen Handelsblöcken dominiert wird, keine Triumphe erzielen.

„Historisches“ erstes Freihandelsabkommen

Angesichts der eher mäßigen Brexit-Erfolge blickt der britische Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng deshalb zum fünften Jahrestag des EU-Referendums lieber beherzt in die Zukunft: „Die Corona-Pandemie ist unter Kontrolle, die Impfkampagne lief gut und ein Austrittsabkommen mit der EU erlaubt uns einen neuen Anfang.“ Ein erstes Freihandelsabkommen, das das unabhängige Britannien mit Australien unterzeichnete, wird als „historisch“ verkauft. Regierungsquellen aber geben zu, dass der Deal das britische BIP nach 15 Jahren nur um 0,02 Prozent vergrößert haben wird.

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