Bürgerräte in Frankreich - Menschengemachter Demokratiewandel

Die Klimabewegung Extinction Rebellion fordert Bürgerräte, um Konzepte gegen den Klimawandel zu entwickeln. In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron solche Klimaräte per Losverfahren bereits gegründet und mit Millionenetat ausgestattet. Kann das funktionieren?

Was können wir in Sachen Klimaräte von Frankreich lernen? / picture alliance
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Greta Thunberg gehört unbestreitbar das Verdienst, Klimaveränderung als wichtigstes Thema durchgesetzt zu haben, weltweit und in allen Köpfen – selbst bei denen, die sie persönlich scharf ablehnen und die Bedeutung des Themas bestreiten. Wahrscheinlich muss jede Generation das Rad ganz neu erfinden. Vor allem, wenn es darum geht, Themen auf die politische Tagesordnung zu setzen und an zentraler Position zu verankern. Vor gut 30 Jahren sind schon die Grünen rund um das Thema Ökologie als Partei und politischer Faktor entstanden.

Mit missionarischen Eifer drängen nun die selbsternannten Klimaretter von Extinction Rebellion (XR) in den Vordergrund. Die im Oktober 2018 in London gegründete Graswurzelbewegung proklamiert als Ziel nicht weniger, als die Welt retten zu wollen (zu müssen), die durch die Klimaveränderungen unmittelbar in ihrer Existenz bedroht sei. Ob es auch ne Nummer kleiner geht? Aber das soll hier gar nicht debattiert werden. Vielmehr der Weg zur Weltrettung.

Mehr politische Teilhabe

Denn als dritte Kernforderung propagiert XR unter der Überschrift „Beyond Politics – Politik neu leben“ die Einrichtung von Bürgerversammlungen als „Ausdruck partizipatorischer Demokratie“, um die Klimaprobleme lösen zu können.

Und eine Idee ist ja nicht deshalb schon falsch, weil sie weder besonders neu ist, zudem mit großem Pathos vorgetragen wird oder auch nur von den „falschen Leuten“ betrieben wird. Denn das Ziel, mehr demokratische Teilhabe zu organisieren und damit mehr Menschen für die Demokratie zu begeistern ist ganz sicher lohnenswert, vor allem ist es richtig. Aber was sind Bürgerversammlungen oder Bürgerräte? Welche Erfahrungen gibt es ?

Keine neue Idee

Gemeinsam ist allen Varianten von Bürgerräten oder citizen's assemblies der Grundgedanke, politische Entscheidungen auf eine breitere Basis zu stellen, mehr unterschiedliche Menschen an Diskussion und Problemlösung zu beteiligen und damit deren Akzeptanz zu erhöhen. Deshalb sollen die Mitglieder der Räte nicht gewählt, sondern ausgelost werden. Zwar repräsentativ, aber doch zufällig zusammengesetzt. Der Zufall verhindere Ämterhäufung und Machtmissbrauch.

Das Prinzip stammt aus der Antike: schon in Athen wurden die Mandatsträger ausgelost, ebenso in den mittelalterlichen italienischen Stadtstaaten Venedig und Florenz. Die Idee dahinter: Jeder kann mitbestimmen. Jeder kommt mal dran. Jeder muss deshalb Rücksicht auf Nachbarn, Nachfolger wie Vorgänger im Bürgerrat nehmen. Wie gesagt, neu ist die Idee nicht, aber es gibt gute Erfahrungen damit – auch in der Moderne.

Ernstzunehmende Ratschläge

Irland hat sehr positive Erfahrungen mit gelosten Bürgerversammlungen. Die „Ehe für alle“ und das neue Abtreibungsrecht wurden so vorbereitet und zur Volksabstimmung gebracht. Vor allem: Die extrem emotionsgeladenen, strittigen Debatten konnten so versachlicht werden, der Konflikt gelöst. Während der großen Regierungskrise Belgiens 2010 (18 Monate ohne Regierung), übernahmen in Ostbelgien Bürgerräte teilweise deren Funktion, fällten Entscheidung per öffentlicher Online-Petition oder nach eintägiger Beratung.

In Frankreich führte Präsident Emmanuel Macron schon seine grand débat zum Teil mit ausgelosten Bürgerversammlungen. Dort wurde dann die Idee zur Einsetzung eines nationalen Klimarats, der „Convention Citoyenne pour le Climat“ entwickelt: 150 per Losentscheid ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, ausgestattet mit einem Etat von vier Millionen Euro, haben nun offiziell den Auftrag, die Politik zu beraten. Dieser Rat gibt sich seine Themen selbst, diskutiert diese an 17 Beratungstagen, lädt als Experten, wen immer er hören will und formuliert schließlich seine Ergebnisse. Diese Ergebnisse sind Vor- und Aufgaben für die Politik. Je eine Vertreterin von Parlament und Senat garantieren, das es nicht beim Papier bleibt, sondern die Ratschläge Ernst zu nehmen sind.

Eine gute Idee

Alle Teilnehmer des Bürgerrats – ob reich oder arbeitslos – erhalten Reisekosten und die nämliche  Aufwandsentschädigung von 10 Euro pro Stunde plus Geld für Kinderbetreuung (falls notwendig), insgesamt maximal 1.462 Euro. Ègalité à la francais: Niemandem soll man nachsagen können, nur wegen des Geldes teilzunehmen; Niemand soll die Ausrede vorbringen können, sich das bürgerschaftliche Engagement nicht leisten zu können.

Der französische Klimarat kann jetzt beweisen, bessere Ergebnisse zu liefern, als die etablierte Politik. Die wiederum muss beweisen, diese Ergebnisse angemessen umzusetzen. Dann hätte der Bürgerrat nicht nur viel für das ökologische Klima getan, sondern ebenso für das politische Klima in Frankreich. Und Deutschland könnte sich der eigenen Geschichte erinnern: Vor 50 Jahren, am 28. Oktober 1969, sagte der neugewählte Kanzler Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Der legendäre Leitspruch für die Zeit des großen Aufbruchs der Bundesrepublik, das moderner, liberaler, weltoffener, nicht zuletzt gebildeter und wirtschaftlich erfolgreicher wurde.

Mehr Demokratie wagen hieß bei Brandt, eine Gesellschaft anzustreben, „die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert“. Wie gesagt, neu ist die Idee mehr Bürgerbeteiligung zu wollen nicht – aber sie ist gut. Die größte Empörung zog sich Brandt 1968 übrigens zu, als er am Schluss seiner Rede ausführte: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie. Wir fangen erst richtig an.“

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