Flüchtlinge in Italien - „Das ist verdeckte Sklaverei“

Die Flüchtlingskrise kennt auch Gewinner: Für die italienische Mafia ist der Zustrom von illegalen Migranten das ganz große Geschäft. Sogar Politik und Kirchen verdienen mit. Ein korruptes Netzwerk hat sich schon lange auf den Ausnahmezustand vorbereitet

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Nachschub für die Mafia: Flüchtlinge kommen an Bord eines Bootes der Küstenwache in Sizilien an / Francesco Bellina
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Petra Reski lebt in Venedig, schreibt über Italien und immer wieder über die Mafia. Zuletzt erschien ihr Roman „Bei aller Liebe“ (Hoffmann&Campe). Foto Paul Schirnhofer

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Bakary ist 17, kommt aus Gambia und will Journalist werden. Warum? „Du bist unabhängig, du kämpfst für die Rechte der Leute, du kannst sagen, was du willst. Und du bist stolz auf deine Arbeit, weil sie nützlich ist.“ Erste Erfahrungen hat er während eines Interviews mit Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando gesammelt, der einige Migranten zu einem Treffen im Rathaus der sizilianischen Hauptstadt eingeladen hatte. „Mein Hauptinteresse sind natürlich minderjährige Migranten“, sagt Bakary und fügt entschuldigend hinzu, dass er den Bürgermeister auch zur Mafia befragen wollte: „Aber dann war die Zeit zu kurz.“ Natürlich haben sie alle schon von der Mafia gehört, die Nigerianer, Gambier, Bangladescher und Ivorer, die hier im Halbdunkel zwischen Kabelgewirr, ausrangierten Kirchenbänken und mit Kissen gepolsterten Holzpaletten sitzen, die Gesichter vom Display ihrer Telefone erleuchtet.

Was aussieht wie eine Kifferhöhle der siebziger Jahre, ist ein Ableger des italienischen Bürgerrechtsvereins Arci in Palermos Altstadt: der Club Porco Rosso, benannt nach dem Helden eines Comicfilms, einem schweinsköpfigen Kampfpiloten. Bakary verbringt seine Nachmittage oft hier – nicht nur wegen der stabilen Wifi-Verbindung, sondern wegen der Studenten, jungen Anwälte und Übersetzer, die täglich Schneisen durch das bürokratische Dickicht aus Verwaltungskürzeln, Vorschriften und Verfügungen, aus Anträgen und Anordnungen schlagen. Neun Monate dauerte Bakarys Wanderung nach Europa. Von Gambia durch Senegal, Mali, durch die Wüste der Sahelzone bis nach Libyen, über das Mittelmeer nach Sizilien. Jeder einzelne Migrant hier ist der Held einer Odyssee. Wer gebettelt, gehungert und um sein Leben gebangt hat, lässt sich nicht davon beeindrucken, dass sich nur wenige Meter vom Porco Rosso entfernt ein Versammlungsort der Mafia befindet: Im Beerdigungsinstitut des kürzlich verhafteten Bosses Alessandro D’Ambrogio besprachen Mafiosi ihre Geschäfte.

Neues Geschäftsfeld für die Mafia

Nachmittags ist Hochbetrieb im Porco Rosso. Fausto Melluso, ein bärtiger Aktivist, kontrolliert, ob den Migranten das ihnen zustehende Taschengeld von 2,50 Euro am Tag wirklich ausgezahlt und nicht durch ein Päckchen Waffeln im Wert von 50 Cent ersetzt wird; er verspricht zu prüfen, warum es in der Flüchtlingsunterkunft in Corleone kein warmes Wasser gab, und forscht nach, warum das Aufnahmezentrum in Isnello unweit von Palermo immer noch überfüllt ist, obwohl Aktivisten die Präfektur und das Innenministerium bereits im Januar über dessen Zustand informiert und die Schließung des Zentrums gefordert haben. Fausto erklärt, dass die schlechte Zahlungsmoral des italienischen Staates einer der größten Schwachpunkte bei der Unterbringung der Flüchtlinge ist: Weil die staatlichen Gelder mit großer Verspätung eintreffen, werden diejenigen Betreiber begünstigt, die sich auf große Geldreserven stützen können. Und das sei nun mal die Mafia.

Migranten, die gerade im Aufnahmelager von Trapani angekommen sind, studieren eine Broschüre mit ersten Informationen

Nach dem Gesundheitswesen, der Müllbeseitigung und der Windenergie hat sich mit der Flüchtlingskrise für die Mafia ein neues Geschäftsfeld eröffnet. Das Zauberwort heißt emergenza: Notstand. Wie nach Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen spekulieren die Bosse darauf, dass es Geld regnet, sobald der Ausnahmezustand ausgerufen wird und niemand mehr durchblickt, wohin das Geld fließt. Für jeden Flüchtling zahlt der italienische Staat den Betreibern der Flüchtlingsheime zwischen 35 und 38 Euro täglich, für einen Minderjährigen sogar 80 Euro: ein Kopfgeld, das den Appetit der Bosse stimulierte. Öffentliche Gelder in ihre Taschen umzuleiten, ist die Königsdisziplin der Mafia. Es war die Cassa del Mezzogiorno, die Entwicklungshilfe für den Süden Italiens, die der bäuerlichen Mafia einst den Sprung vom Viehdiebstahl zum internationalen Heroinhandel ermöglichte, in dessen Folge sie zum multinationalen Mafiakonzern der Gegenwart aufsteigen konnte.

Sizilien war schon immer ein Laboratorium für kriminelle Strategien im Verbund mit Politik und Wirtschaft, die sich in der ganzen Welt ausbreiteten. Seit der Schließung der Balkanroute und dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei wurde Italien förmlich überrannt: Der Schicksalsweg führt jetzt von Libyen nach Sizilien, in den ersten fünf Monaten dieses Jahres kamen über 70 000 Flüchtlinge in Italien an, rund 20 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres – bis Innenminister Marco Minniti im Sommer die Notbremse zog: „Ich habe um den demokratischen Bestand Italiens gefürchtet“, sagte er, nachdem er den privaten NGO-Rettungsschiffen einen Verhaltenskodex auferlegt hatte und dafür sorgte, dass sie nicht mehr vor der libyschen Küste kreuzen. Im Frühjahr wird in Italien gewählt, da war Eile geboten.

Lange Vorbereitung auf den Notstand

Anders als der italienische Staat war die Mafia dank der ihr eigenen Weitsicht für die Ankunft der Migranten schon lange gerüstet: Wie der abtrünnige Mafioso Maurizio Di Gati zu Protokoll gab, bereitete sich die sizilianische Cosa Nostra schon vor mehr als zehn Jahren auf das Geschäft mit den Flüchtlingen vor: In einer Zeit, als es noch gar keinen „Flüchtlingsnotstand“ gab, aber afrikanische Migranten bereits zu Zehntausenden über das Meer kamen, kauften die Bosse in der Provinz Agrigent leer stehende Lager und Fabrikhallen auf und rüsteten sie mit staatlichen Geldern zu Aufnahmelagern um. Di Gati berichtete von einem Mafioso, der nicht nur mit dem – später verhafteten – Vizepräsidenten des sizilianischen Regionalparlaments befreundet war, sondern auch mit dem für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Lampedusa verantwortlichen Beamten des Polizeipräsidiums – dem er seine Aufnahmelager anbot, die von einem Strohmann an den italienischen Staat vermietet wurden.

Ein Geschäftsmodell, das bis heute funktioniert. Dass die Mafia mit Flüchtlingen Geld verdient, drang zum ersten Mal vor drei Jahren ins öffentliche Bewusstsein, als der Skandal um die römische Hauptstadtmafia bekannt wurde: Mafia Capitale. Einer der Protagonisten, Carmine Buzzi, ehemaliger Totschläger und Herr über 40 linke Genossenschaften, prägte den magischen Satz: „Wir verdienen mit den Migranten mehr als mit dem Drogenhandel.“ Buzzi erfreute sich bester Kontakte ins rechte und linke politische Lager: Der ehemalige Chefberater des römischen Bürgermeisters Walter Veltroni saß mit den Mafiosi im Boot und mit den Ministern am Tisch – und sorgte dafür, dass die Aufnahme und Unterbringung der Flüchtlinge von Einrichtungen übernommen wurden, die von den Genossenschaften der Mafia Capitale betrieben wurden.

Eine davon war das Cara di Mineo, eine ehemalige Wohnanlage für US-Soldaten auf Sizilien und umfunktioniert zum größten europäischen Flüchtlingslager mit 2000 Plätzen, auf denen 4000 Migranten untergebracht wurden. Eine öffentliche Ausschreibung für die Betreiber, die pro Monat vier Millionen Euro vom italienischen Staat einnahmen, gab es nicht: Mehr als 100 Millionen Euro in drei Jahren – eine Gelddruckmaschine. „Die Versorgung, die Verträge, die Ausschreibungen des Cara di Mineo werden erst seit 2014 kontrolliert, seit die Staatsanwaltschaft in Rom ermittelte“, sagt der italienische Parlamentarier Erasmo Palazzotto. Er gehört der kleinen linken Partei Sinistra Italiana an und hat zusammen mit anderen Aktivisten dafür gesorgt, dass die Leitung des Aufnahmelagers nun einer Kommission untersteht: „Drei Jahre lang, von 2011 bis 2014, war da ein schwarzes Loch. Das war natürlich nur dank eines politischen und institutionellen Schutzes möglich. Das Innenministerium hat nicht eingegriffen.“

Mit den Geldern stabilisiert die Mafia ihr Machtsystem

Innenminister war damals der jetzige italienische Außenminister Angelino Alfano: Der Sizilianer und Gefolgsmann von Silvio Berlusconi ist Gründer der rechten Splitterpartei NCD. Die Bürgermeisterin von Mineo war lange Jahre Direktorin des Cara di Mineo und gehört Alfanos NCD an, die landesweit nur auf 3 Prozent kommt, in der Stadt Mineo jedoch 40 Prozent der Wählerstimmen verzeichnet: Die Angestellten des Cara di Mineo wurden aufgefordert, der NCD als Parteimitglieder beizutreten. Alle Verantwortlichen, gegen die im Zusammenhang mit dem Skandal rund um das Cara di Mineo ermittelt wird, sind Parteimitglieder des NCD.

Schlaflager für Migranten, die im sizilianischen Campobello di Mazara als Saisonarbeiter ein Auskommen finden

Mit den Geldern für die Migranten und den damit verbundenen Arbeitsplätzen stabilisiert die Mafia ihr Machtsystem: Das Kartell aus Genossenschaften, das bei den Ausschreibungen für den Betrieb eines Flüchtlingszentrums als Sieger hervorgeht, kassiert die öffentlichen Gelder und stellt diejenigen ein, die vom örtlichen Potentaten ausgesucht werden – dem diese sich wiederum bei den nächsten Wahlen mit ihren Stimmen erkenntlich zeigen: Stimmenkauf in Gegenden, in denen oft 50 Wähler ausreichen, um den Bürgermeister zu bestimmen. In der kalabrischen Provinz Crotone deckten die Ermittler im Sommer auf, dass der Clan der Familie Arena im Flüchtlingszentrum von Isola Capo Rizzuto Unsummen mit den Flüchtlingen verdiente: Sage und schreibe 103 Millionen Euro wurden veruntreut. Betreiber der Einrichtung war die Bruderschaft der Barmherzigkeit unter ihrem Chef Leonardo Sacco, der zusammen mit dem Pfarrer Don Edoardo Scordio dafür sorgte, dass Mafia-Firmen den Zuschlag bei den Ausschreibungen erhielten: für das Catering, die Wäscherei, die Handwerksbetriebe.

Während den Flüchtlingen ein „Schweinefraß“ vorgesetzt wurde, wie der ermittelnde Staatsanwalt feststellte, schrieb der mit einem Antimafia-Etikett geschmückte Pfarrer in seiner Gemeindekirche die getürkten Steuererklärungen und falschen Rechnungen aus und steckte sich für „spirituelle Hilfe“ 132 000 Euro ein. Allein mit dem nicht ausgezahlten Taschengeld von 2,50 Euro pro Flüchtling verdiente man in Isola Capo Rizzuto täglich 3750 Euro, was multipliziert mit der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 21 Monaten mehr als zwei Millionen Euro ergibt. Der Erfolg der Bruderschaft der Barmherzigkeit war so durchschlagend, dass Leonardo Sacco auch den Zuschlag für ein Aufnahmezentrum auf Lampedusa erhielt – das zuvor von einem entfernten Verwandten des damaligen Innenministers Angelino Alfano betrieben worden war.

 

Ein typischer Verschlag nahe dem Ballarò-Markt in Palermo, der illegalen Flüchtlingen als Unterkunft dient

„Der Zustand des Flüchtlingszentrums in Isola Capo Rizzuto war seit langem bekannt“, sagt Laura Ferrara, eine Europaabgeordnete der Fünf-Sterne-Bewegung, die den Mafia-Skandal um das Aufnahmelager öffentlich machte. Journalisten wird der Eintritt in Flüchtlingslager meist verwehrt, einzig Parlamentarier haben die Möglichkeit, unangekündigt Kontrollbesuche zu machen. Laura Ferrara nutzte diese Möglichkeit. Und erstellte einen Bericht, den sie an die zuständigen Stellen schickte, unter anderem an das Innenministerium. Für den (dem Innenministerium unterstellten) Präfekten von Crotone war dennoch alles in Ordnung. Erst als Laura Ferrara zwei parlamentarische Anfragen im Europaparlament gestellt und Journalisten berichtet hatten, wurde eine Lawine von Ermittlungen ausgelöst. Bei denen stellte sich heraus, dass der Arena-Clan, der auch über beste Verbindungen nach Deutschland verfügt, sein Geschäftsmodell mit den Flüchtlingen bis ins norditalienische Veneto ausgedehnt hatte.

Illegale Migration: Konjunkturspritze für schwache Gebiete

In der westsizilianischen Provinz Trapani, wo man bei gutem Wetter sogar bis nach Afrika blicken kann, leben 3000 Flüchtlinge und 500 Minderjährige, was einen Umsatz von mindestens 130 000 Euro pro Tag bedeutet: eine Konjunkturspritze für dieses strukturschwache Gebiet. Seit dem Arabischen Frühling und der damit verbundenen Migrationswelle sind die Immobilienpreise explodiert: Altersheime, Hotels und Resorts wurden in Flüchtlingsheime umfunktioniert. Am Stadtrand wurde mit staatlichen Zuschüssen eine Häuserzeile für Polizisten gebaut – und derart schnell zum Flüchtlingsheim umfunktioniert, dass die Kabel noch nicht unter Putz gelegt sind. Im Hof steht ein Nigerianer, der seit anderthalb Jahren darauf wartet, dass die Kommission seinen Asylantrag prüft. „Mein bester Freund ist mein Telefon“, sagt er. Ob hier Italienisch­unterricht erteilt wird? „Manchmal“, sagt er und grinst. Als wir mit ihm reden, kommt ein Aufseher und wirft uns raus.

Ein Migrant im Porco Rosso, einer Hilfseinrichtung für Flüchtlinge in Palermo mit stabiler Wifi-Verbindung

Das größte Aufnahmelager von Trapani, Salina Grande, ist mittlerweile verlassen, die Fenster hängen schief in den Angeln, im Hof wächst Unkraut aus den Ritzen des bröckelnden Betons. Einst war hier ein Heim für minderjährige Mütter untergebracht. Zum Aufnahmelager umfunktioniert, brachte es der Stadt monatlich 17 000 Euro Mieteinnahmen ein. Trapani gilt als eherner Sockel der Cosa Nostra, weil es in der Gegend keine Abtrünnigen gab und der seit 23 Jahren flüchtige Boss Matteo Messina Denaro unangefochten das Territorium regiert. Etliche Kommunen der Provinz wurden wegen Mafia-Infiltration aufgelöst.

Korrupter Priester als Spinne im Netz

Hier lief das mafiose Geschäft mit den Migranten besonders ausgeklügelt ab: Um der Flüchtlingswelle Herr zu werden, hatte der Präfekt nach dem Arabischen Frühling dafür plädiert, mehrere kleine Flüchtlingszentren anstelle eines großen einzurichten – mit der Folge, dass sich drei mafiose Kartelle das Geschäft mit den Flüchtlingen teilten: 31 Flüchtlingsheime wurden von zwei Personen verwaltet. Spinne im Netz war ein Priester: Don Sergio Librizzi, der im Januar dieses Jahres wegen Nötigung und sexuellen Missbrauchs von Flüchtlingen zu neun Jahren Haft verurteilt wurde. Don Librizzi war Pfarrer der Gemeinde San Pietro von Trapani, Präsident der Caritas und Mitglied der regionalen Kommission, welche denjenigen Migranten Aufenthaltsgenehmigungen erteilte, die Don Librizzi sexuell zur Verfügung standen. „Dank der Ämter, die Don Librizzi ausübte, war er in der Lage, das Leben eines Migranten mit einem Wort zu ändern, indem er ihm eine Aufenthaltsgenehmigung erteilte oder seinen Flüchtlingsstatus anerkannte“, schrieben die Richter in ihrer Urteilsbegründung. Don Librizzi kontrollierte ein Netz aus Genossenschaften, Wohlfahrtseinrichtungen und Gesellschaften: eine „Holding“, dank der er das Monopol über alle Aufnahmelager in der Provinz Trapani innehatte. Er herrschte nicht nur über die Migranten, sondern auch über die Arbeitsplätze für Italiener, indem er die Verträge bestimmte und die Jobs im Identifikationszentrum von Trapani sowie im Aufnahmelager von Salina Grande verteilte.

Ein Drogenhändler vom Ballarò-Markt in Palermo zeigt seine Ware in Form von Heroinkügelchen

Obwohl bekannt war, dass Don Librizzi die Flüchtlinge sexuell missbrauchte, wurde er nicht einmal vom Bischof daran gehindert: Dank des mafiosen Geschäftsmodells wurden alle reich und waren am Erhalt des Status quo interessiert. Wer es wagte, Don Librizzi anzuzeigen, wurde von der Polizei aufgefordert, die Anzeige zurückzuziehen und zu schweigen. Über bevorstehende ministerielle Inspektionsbesuche wurde Don Librizzi stets informiert, was den mafiosen Strohmännern die Arbeit erleichterte. Nach Bekanntwerden des Skandals wurde der Bischof vom Vatikan versetzt; die Ermittlungen um die von Don Librizzi verwalteten Aufnahmelager sind bis heute nicht abgeschlossen.

Absurdität der Dublin-Verordnung

Die Aufnahme der Flüchtlinge in Italien kostet jährlich rund vier Milliarden Euro: 3,5 Milliarden zahlt der italienische Staat, 558 Millionen kommen von der EU. Das wirkt wie eine verhältnismäßig geringe Summe, wenn man bedenkt, dass Italien seit Jahrzehnten das europäische Land ist, das bei der Erstaufnahme der Migranten die Hauptlast zu bewältigen hat – mit Seenotrettung, Gesundheitschecks und Screenings. Und das mit der Dublin-Verordnung sein eigenes Schicksal besiegelte: Unter der Regierung Silvio Berlusconi unterzeichnete Italien 2003 die Verordnung, der zufolge ein Flüchtling in jenem Staat um Asyl bitten muss, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat. Eigentlich eine Absurdität für ein Land, dessen Außengrenze zu 90 Prozent aus Küste besteht und das schon seit 1999 Ziel afrikanischer Bootsflüchtlinge war.

Nächtliche Szene in der Umgebung des Ballarò-Marktes, Palermos wichtigstem Aufenthaltsort für gestrandete Migranten

Bis letztes Jahr sind die meisten Flüchtlinge, vor allem auch die minderjährigen, schwarz über die Grenze ins Ausland gegangen – nach Frankreich, in die Schweiz, nach Schweden oder Deutschland. Seit Herbst 2016 aber werden die meisten aufgrund der stärkeren Kontrollen wieder nach Italien zurückgeschickt, wo sie dann illegal irgendwo unterkommen. In Palermo ist das oft in der Altstadt, wo sich die illegalen Flüchtlinge mit arbeitslosen Italienern um das Revier eines inoffiziellen Parkwächters streiten –  wenn sie nicht gleich Drogen verkaufen: Seit die nigerianische Mafia mit Zustimmung der Cosa Nostra das Drogengeschäft im Herzen von Palermos Altstadt kontrolliert, hat sie viele Flüchtlinge als Drogenhändler rekrutiert. Das Geschäft wird auf dem Markt von Ballarò zwischen Schweinsfüßen und Schwertfischen abgewickelt, in Verschlägen hinter den Gemüseständen wird Crack geraucht; die Dealer stehen mit einer Hand in der Hosentasche voller Heroinkügelchen an der Ecke und warten neben nigerianischen Prostituierten auf Kunden. Allerdings verläuft das Zusammenleben zwischen Cosa Nostra und den afrikanischen Migranten nicht immer harmonisch: Einem jungen Gambier wurde mitten in der Fußgängerzone der Via della Libertà in den Kopf geschossen, weil er sich einem Boss gegenüber nicht ehrfürchtig genug benommen hatte. Wenig später ging alles weiter wie immer.

Die Flüchtlinge sind Rohstoffe für alle

„Nur 3 Prozent der Flüchtlinge erhalten in Italien politisches Asyl, wer Glück hat, bekommt ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen. Der Rest bleibt – ohne Wohnung und ohne Aufenthaltsgenehmigung“, sagt der Jurist Fulvio Vassallo, der an der Universität Palermo Asylrecht lehrt. „Manche arbeiten irgendwo auf dem Land oder auf einer Baustelle. Hier ist es voll mit Leuten, die schwarzarbeiten. Und je mehr Illegale es gibt, desto mehr profitiert die Mafia davon.“

Ein Migrant aus dem Senegal über den Dächern von Palermo. Die Mafia macht mit Menschen wie ihm das große Geschäft

Die Flüchtlinge sind Rohstoff für alle: für die Betreiber der Flüchtlingsheime, für Fälscherwerkstätten und für die Vermieter der Schuppen in Catania, Gela oder Palermo, in denen sich die illegalen Migranten verstecken. Und natürlich auch für die landwirtschaftlichen Kooperativen, die sie als Schwarzarbeiter in Orangenhainen, Weinbergen und Tomatenfeldern einsetzen. „Das ist verdeckte Sklaverei, nichts anderes“, sagt der Gewerkschafter Dino Paternostro. Er sitzt auf der Piazza von Corleone gegenüber der mit Mafia-Folklore geschmückten Bar Centrale. Der Stadtrat von Corleone wurde wegen Mafia-Infiltration aufgelöst. Seither kümmern sich drei von der Regierung bestimmte Kommissare um die Geschicke des südlich von Palermo gelegenen Städtchens, zu dem auch ein Flüchtlingsheim gehört, das sich etwas außerhalb im Hotel Belvedere befindet und vor dem gerade ein lehmverschmierter Fiat vorfährt. Hinter dem Steuer sitzt ein Bauer, der einen Migranten von der Arbeit zurückbringt.

Seit vergangenem Jahr steht die Vermittlung von Schwarzarbeit in Italien unter Strafe – was den Flüchtlingen aber egal ist. Selbst wenn sie nur fünf Euro am Tag verdienen statt der 40 Euro, die ein Italiener für die gleiche Arbeit bekäme: Wenig Geld ist besser als gar keines. „Wir müssen die Rechte der Migranten schützen, damit hier kein unlauterer Wettbewerb entsteht“, sagt Dino Paternostro, der sich darum sorgt, dass in Corleone ein Krieg unter Armen ausbricht: mittellose Migranten gegen arme Bauern, die nur dank der Schwarzarbeit wettbewerbsfähig sind. Vom europäischen Traum jedenfalls ist hier nicht viel übrig geblieben.

Dies ist ein Artikel aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.









 

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