Europäische Armee - Der Blick des Westens auf Russland ist verengt

Angela Merkel unterstützt Emmanuel Macrons Vorschlag für eine europäische Armee. Damit richtet sich der französische Präsident explizit auch gegen die angebliche Bedrohung aus Russland. Ex-Generalinspekteur Harald Kujat warnt vor einer solchen Dämonisierung

Nato-Manöver Trident Juncture: höchst gefährliches Gelände / picture alliance
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Autoreninfo

Harald Kujat ist ein deutscher General a. D. der Luftwaffe. Er war von 2000 bis 2002 der 13. Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.

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Wenn man einen Weg in schwierigem Gelände sucht, sollte man zunächst feststellen wo man sich befindet. Und die heutige Außen- und Sicherheitspolitik ist nicht nur schwieriges sondern höchst gefährliches Gelände.

Das Ende des Kalten Krieges hat in Europa zu geopolitischen Veränderungen historischen Ausmaßes geführt. Durchaus vergleichbar mit den Ergebnissen des Wiener Kongresses. Wie 1815 wurde die geopolitische Landkarte Europas neu gezeichnet. Daran hat die Nordatlantische Allianz mit der Erweiterung um die Staaten des Warschauer Paktes, einschließlich der drei baltischen Staaten als ehemalige Sowjetrepubliken einen großen Anteil. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch das Programm „Partnerschaft für den Frieden“, der Euro-atlantische Partnerschaftrat sowie die strategische Partnerschaft mit Russland.

Tektonische Platten in Bewegung

Möglich wurde dies, weil die Sowjetunion implodierte und der Warschauer Pakt sich auflöste. Für die osteuropäischen Staaten öffnete sich ein Fenster nach Westen. Aber niemand wusste, wie lange es geöffnet bleiben würde. Deshalb drängten sie darauf, schnell in die Nato aufgenommen zu werden. Auch Russland suchte eine Annäherung an die Nato. Die Wirtschaft lag am Boden, das Militär war auf einem Tiefstand und das Land politisch gespalten. In dieser Situation strebte Russland zwar nicht die Mitgliedschaft in der Allianz an, aber doch ein gewisses Mitentscheidungsrecht. Darauf konnte sich die Allianz nicht einlassen. Immerhin wurde vereinbart, dass die Nato und Russland in Fragen, die ihre jeweiligen Sicherheitsinteressen berührten, in konstruktiver und vertrauensvoller Weise eine beiderseits akzeptable Lösung suchen würden. Man muss offenbar von Zeit zu Zeit daran erinnern

Das Ende der Ost-West-Konfrontation hatte tektonische Platten in Bewegung gesetzt, die an den Bruchlinien politische Eruptionen und Konflikte auslöste. Beispiele dafür sind der Balkan, aber auch Georgien, Transnistrien und Nagorny-Karabach. Selbst die Entwicklungen in der Ukraine sind in gewisser Weise ein Nachbeben dieser Phase des Übergangs im Ost-West-Verhältnis.

Neue Phase der Konfrontation

Insbesondere die strategische Partnerschaft der Nato mit Russland hatte gegenseitiges Vertrauen aufgebaut und zu einer engen politischen Abstimmung und zu konstruktiver militärischer Zusammenarbeit geführt. Wer weiß eigentlich heute noch, dass es nach dem Kursk-Unglück gemeinsame Übungen zur Rettung von Uboot-Besatzungen gab. Oder dass im Kosovo-Einsatz russische Verbände der Nato unterstellt waren.

Die Übergangsphase nach dem Ende des Kalten Krieges mit seinen starren, aber weitgehend stabilen Fronten ging mit dem Georgien-Krieg 2008 und der Annexion der Krim 2014 zu Ende. Eine neue Phase der Konfrontation Russlands mit dem Westen mit ständig zunehmenden politischen Spannungen und militärischen Konfrontationen in einem komplexen, dynamischen Beziehungsgeflecht begann. Seither haben sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland dramatisch  verschlechtert. Gegen alle Erfahrungen und gegen alle Regeln eines erfolgreichen Krisenmanagements hat der Westen die entstandenen Bindungen gekappt: Der Nato-Russland-Rat wurde suspendiert und Präsident Putin von den G8-Gipfeltreffen ausgeladen.

Der ukrainische Tunnelblick

Der Westen definiert seine Beziehungen zu Russland heute überwiegend als Folge der Ukraine-Krise. Man könnte auch sagen, der Blick auf Russland ist verengt, es ist sozusagen ein ukrainischer Tunnelblick. Begründet wird dies mit einer werteorientierten Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem mit dem Hinweis auf das Völkerrecht. Eine Haltung, die man nach den völkerrechtswidrigen Angriffen westlicher Staaten auf Syrien durchaus hinterfragen könnte. Wie auch immer, diese Politik ist weder Realpolitik noch rationale Interessenpolitik. Die Menschen verstehen immer besser, dass diese Politik mit den nationalen Sicherheitsinteressen kollidiert, mit dem Interesse an der Einhegung und Begrenzung von Konflikten, mit dem Interesse, die massenhafte Einwanderung als Folge von Krieg und Gewalt abzuwenden.

Im Kern besteht die Gefahr des heutigen Ost-West-Verhältnisses vor allem darin, dass sich Russland und die Vereinigten Staaten nicht mehr als stabilisierende Führungsmächte übergreifender, wenngleich entgegengesetzter Systeme oder auch Ideologien, aber doch gegenseitig respektierter strategischer Interessen verstehen, sondern sich als Vertreter nationaler Interessen begreifen. Das Zeitalter der großen Allianzen einer bipolaren Welt ist damit Geschichte. Hinzu kommt das Weltmachtstreben Chinas, das ein Macht-Parallelogramm der großen Mächte zur Folge hat. Die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten, China, Russland und Europa – politisch, technologisch, wirtschaftlich und militärisch – ist der bestimmende Faktor der Zukunft.

Geschlossenheit wäre Gebot der Stunde

In dieser neuen, multipolaren Welt mit ihren komplexen politischen Spannungen und militärischen Konfrontationen reicht die Bandbreite der Gegensätze von der Wirtschaftspolitik bis zu der Konkurrenz um geopolitische Einflusszonen. Zudem hat die konventionelle und nukleare Aufrüstung der Vereinigten Staaten, Russlands und Chinas eine neue Dynamik entwickelt. Kleinere und mittlere Mächte streben ebenfalls nach dem Besitz von Massenvernichtungswaffen und führen wie Saudi Arabien und Iran einen Stellvertreterkrieg um regionale Vorherrschaft. Auch dieser Konflikt erhält übrigens durch die Unterstützung der USA für Saudi Arabien und für den Iran durch Russland den Charakter einer Konfrontation zwischen dem Westen und Russland.

Währenddessen wachsen die zentrifugalen politischen Kräfte in Europa, obwohl in einem vom amerikanischen Präsidenten entfachten Handelskrieg mit unserem wichtigsten transatlantischen Verbündeten das Gebot der Stunde Geschlossenheit wäre. Ähnlich ist es auch in der Nato, denn unter den europäischen Mitgliedstaaten gibt es gravierende Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Bedeutung der Bündnisverteidigung und der dafür aufzuwendenden Mittel. Ein Druckmittel, mit dem die Vereinigten Staaten die innereuropäischen Widersprüche noch verstärken.

„Point of no Return“ rückt näher

Auf der militärischen Seite führt uns die innere Dynamik des Rüstens mit der Nutzung neuester Technologien sowohl in den konventionellen wie in den nuklearen Waffensystemen unter der ständigen Drohung menschlichen und technischen Versagens immer näher an jenen „Point of no Return“, den zu überschreiten niemand wirklich wagen oder wollen kann. Zumal dringend benötigte neue Führungsinformationssysteme, die einen Zugriff von außen verhindern und Schutz gegen Hacker und Cyberangriffe bieten, keine Priorität vor neuen Waffentechnologien erhalten. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind ebenso wie die Bereitschaft zu militärischen vertrauensbildenden Maßnahmen schon seit Jahren nicht mehr vorhanden.

Bei alledem dürfen wir die globalen Herausforderungen nicht aus den Augen verlieren:

– Die andauernde Klimaveränderung, verbunden mit Dürre und Wassermangel, zerstört die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen in vielen Teilen der Welt. Wirtschaftliche Unterentwicklung, Übervölkerung und Analphabetentum machen die Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft vieler kommender Generationen zunichte.

– Militärische Stärke und wirtschaftliche Macht sind zur Triebfeder geworden, die Unabhängigkeit und das Selbstbestimmungsrecht souveräner Staaten zu missachten und den politischen Einfluss regional und global auszuweiten.

– Stellvertreterkriege, auch unter Einsatz verdeckter, irregulärer Kräfte steigern das Risiko einer direkten militärischen Auseinandersetzung der Großmächte

Mängel bei Weitsicht und Strategie

Russland strebt nach einer langen Schwächeperiode wieder nach politischem Einfluss und Anerkennung als Großmachtins besondere im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Die Durchsetzung russischer strategischer Interessen, beispielsweise gegenüber der Ukraine oder im Nahen und Mittleren Osten stößt jedoch auf den Widerstand des Westens. Der Westen – und insbesondere Europa – muss darauf eine eigene Strategie entwickeln. Bisher war die Antwort des Westens an ein wieder politisch selbstbewusstes und militärisch erstarktes Russland jedoch eine höchst gefährliche Abkehr von einer interessengeleiteten Realpolitik.

Vielmehr gilt es, gemeinsam Wege aus den Krisen und Konflikten unserer Zeit zu suchen. Dazu gehört auch, wo immer notwendig und vertretbar, zu einem Interessenausgleich bereit zu sein. Ein Interessenausgleich könnte Katalysator für politische Vernunft sein, setzt aber nachvollziehbare politische und strategische Interessen in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik voraus.

Die Einsicht scheint zu wachsen, dass Europa sich zwischen Russland und den Vereinigten Staaten behaupten muss. Aber ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler hat schon vor einigen Jahren den Mangel an qualifizierten Politikerpersönlichkeiten in Führungspositionen beklagt. Offenbar mangelt es vielen heutigen Politikern an der sicherheitspolitischen Weitsicht und dem strategischen Urteilsvermögen um die Gefahr zu erkennen, dass wir ähnlich wie 1914 wie Schlafwandler in einen militärischen Konflikt taumeln könnten.

Handelskrieg der USA schwächt die Nato

Die Nordatlantische Allianz, die über Jahrzehnte ein Anker der Stabilität und des Gleichgewichts im Ost-West-Verhältnis war, gerät durch die Politik des amerikanischen Präsidenten in ein schwieriges, ja, gefährliches Fahrwasser. Als sich der Warschauer Pakt auflöste, sprach Russland auch der Nato das Existenzrecht ab. Nun sind es die Vereinigten Staaten, die mit einem Handelskrieg gegen ihre Verbündeten den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der Allianz gefährden. In Artikel 2 des Nordatlantikvertrages heißt es: „Sie (die Mitgliedstaaten) werden bestrebt sein, Gegensätze in ihrer internationalen Wirtschaftspolitik zu beseitigen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen einzelnen oder allen Parteien zu fördern.“

Leider trägt auch die deutsche Bundesregierung mit ihrer Weigerung, einen der Größe und der Wirtschaftskraft des Landes angemessenen militärischen Beitrag zur kollektiven Verteidigung der Nato zu leisten, dazu bei, dass das politische Fundament der Allianz, die Solidarität der Verbündeten untereinander, immer weiter bröckelt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vor kurzem beklagt, dass es keine Vertrauensbasis zwischen dem Westen und Russland gibt. Eine wesentliche Ursache dafür ist der Antagonismus zwischen den Großmächten, ist der Informationskrieg, dem wir täglich ausgesetzt sind, sind Provokation und Gegenprovokation, Verdächtigung und Beschuldigung, Drohung und Gegendrohung, Sanktionen und Gegensanktionen.

Bewährte Mechanismen müssen wieder aktiviert werden

Die Politiker müssen verstehen, dass uns dieser Weg in eine Sackgasse führt. Der Weg aus den Krisen und Gefahren unserer Zeit führt über die Stationen Entspannung und beiderseitiges Vertrauen. Vertrauen entsteht aber nur durch gemeinsam gesuchte Wahrheit. Und es ist vor allem die Wahrheit, die in den letzten Jahren unter die Räder gekommen ist. Man könnte auch etwas zynisch sagen, vor dem zweiten Irak-Krieg hat man sich immerhin noch darum bemüht, Beweise zu konstruieren. Heute wird erwartet, dass die Menschen Vermutungen als hinreichenden Grund für einen Konflikt akzeptieren.

Die gegenwärtigen Konflikte können nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und Russland gelöst werden. Aber auch Europa und insbesondere Deutschland können dazu einen Beitrag leisten. Die Geschehnisse in der Ukraine und in Syrien dürfen uns nicht gleichgültig sein. Deshalb ist es wichtig, die bewährten politischen Mechanismen wieder zu aktivieren. Ich denke dabei vor allem an das G8-Forum. Zudem sollten Sanktionen und Gegensanktionen, die einer engeren Zusammenarbeit im Wege stehen, abgebaut werden. Vertrauensbildende militärische Maßnahmen tragen ganz entscheidend dazu bei, dass die Eskalationsschraube sich nicht weiter dreht und auch komplexe militärische Situationen nicht außer Kontrolle geraten.

Mehr Berechenbarkeit für neue Impulse

Verantwortungsbewusstes politisches Handeln bedeutet im Sinne gemeinsam gesuchter Wahrheit und gemeinsam angewandter Vernunft, Wege zu mehr Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit des politischen Handelns, zu Verständigung, Interessenausgleich und gegenseitigem Vertrauen zu suchen und der Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie vertrauensbildenden militärischen Maßnahmen neue Impulse zu geben.

Nur gemeinsam können die großen Mächte die Krisen und Konflikte unserer Zeit lösen und die Ursachen für das Entstehen neuer Gefahren beseitigen. Nur gemeinsam können sie die Lebensverhältnisse in den ärmsten Ländern der Welt verbessern, die destabilisierenden Migrationstsunamis verhindern, den internationalen Terrorismus erfolgreich bekämpfen, die Ursachen für ethnische und religiöse Konflikte beseitigen sowie den freien Welthandel und das friedliche Zusammenleben der Nationen fördern.

Einen Vortrag mit dem Text dieses Artikels hielt Harald Kujat an der Landesverteidigungsakademie, Wien am 06. Juni 2018

 

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