EU - Der umgedrehte Domino-Effekt

Nach dem Brexit warnten viele, dass die Staaten aus der EU kippen würden wie Dominosteine. Tatsächlich steht die Gemeinschaft pünktlich zum Jahrestag der Römischen Verträge fest wie lange nicht

Mit der EU nichts am Hut haben zu wollen, geht eindeutig gegen den Trend / picture alliance
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Vor kaum etwas haben Staatsmänner so viel Angst wie vor Dominosteinen. Der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower formulierte diese Furcht als erster 1954, als die Franzosen sich bei Dien Bien Phu den Nordvietnamesen ergeben mussten. Wenn ein Land kommunistisch werde, so warnte Eisenhower, würden bald auch die benachbarten Länder der „populistischen Kraft der Ideologie“ des Kommunismus erliegen. Die Theorie verfing schnell, eigentlich legte sie die Grundlage für die USA-Strategie im Kalten Krieg, von der Kubakrise bis zum Prager Frühling.

Zerfall wie in der Sowjetunion?

Als die Briten im Sommer 2016 für den Austritt aus der EU votierten, griff die Domino-Furcht in Europa um sich. Indem sie den ersten Schritt wagten, hätten die Briten den ersten Stein umgestoßen, auf den viele weitere folgen würden, bis bald das gesamte EU-Gebäude in Trümmern läge. Einige meinten sogar, es würde ähnlich geschehen wie damals, als die einst so mächtige Sowjetunion zerfiel

Und es sah ja auch wahrlich nicht gut aus für die EU. Die Wirtschaft lag in den Ländern am Mittelmeerraum danieder, in den nordeuropäischen Ländern wuchs der Verdruss, dafür womöglich die Zeche bezahlen zu müssen. Außerdem ächzte der Kontinent unter dem Druck der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten.

Nach Brexit schienen Nexit und Frexit nah

Fast überall konnten Parteien deutlich hinzugewinnen, die ganz offen für einen Austritt aus der EU warben. Und die Befürworter wirkten zu kraftlos und leer, um ihnen ernsthaft entgegentreten zu können. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, dass auf den Brexit der Nexit (Niederlande) und vielleicht sogar der Frexit (Frankreich) folgen würde. Da verwundert es kaum noch, dass beim ersten Anruf von Mitgliedern der Donald Trump-Regierung bei EU-Ofiziellen laut Financial Times die Frage fiel, welches Land die EU denn als nächstes verlassen würde. Hatte Donald Trump doch schon die Pro-Brexit-Kampagne unterstützt und nach dem Votum die gleiche Firma dafür beauftragt, mit Big Data den Wahlkampf zu fokussieren.

Wenn man heute aber, nicht einmal ein Jahr nach dem Brexit und zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge, nüchtern auf die Fakten blickt, muss man feststellen: Der gefürchtete Domino-Effekt ist nie eingetreten. Im Gegenteil, die wackelnden Steine der EU stehen wieder fest und aufrecht wie lange nicht.

In Spanien begann der Gegentrend

Heute kann man den Beginn dieses Rückwärts-Domino-Effekts gleich drei Tage nach dem Brexit ausmachen, und zwar in Spanien. Die dortigen Wahlen führten trotz zäher Verhandlungen letztlich zu einer Verlängerung der Amtszeit des Regierungschefs Mariano Rajoy, Anführer der zentristischen Partido Popular und ein stoischer Verteidiger der von der EU geforderten Haushaltsstabilität. Trotz der strengen Sparauflagen gab es in Spanien nie eine Bewegung für einen EU-Austritt. Noch immer gilt die EU vielen Spaniern als Synonym für die Überwindung der Franco-Dikatatur und den Schritt in die Moderne. Podemos, die EU-kritischste Partei, musste gleich nach dem Brexit einen Einbruch der Umfragewerte hinnehmen und schnitt bei der Wahl enttäuschend ab. Derzeit wächst die Wirtschaft in Spanien kräftig, auch wenn es weiterhin viele Arbeitslose gibt.

Der nächste Stein, der nicht fiel, war Österreich. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2016 setzte sich mit Alexander van der Bellen der pro-europäische Kandidat deutlicher als erwartet gegen den rechten Norbert Hofer durch. Und schon zuvor hatten Hofer und seine Wahlstrategen die Idee aufgegeben, dass Österreich die EU verlassen sollte. Auch in den Niederlanden konnte der Möchtegern-EU-Aussteiger Geert Wilders sich nicht durchsetzen und blieb bei den Wahlen überraschend deutlich hinter EU-Befürworter und Premier Mark Rutte zurück.

Marine Le Pen kann kaum gewinnen

Bleibt der dickste aller Steine, Frankreich. Fiele die Grande Nation, wäre die EU nur noch ein Gerippe, dem Tode geweiht. Und ähnlich dramatisch lasen sich viele Texte zur Wahl in der Grande Nation. Viele Kommentatoren sagten düster voraus, dass Marine Le Pen mit ihrem Front National der EU den Todesstoß versetzen würde. Wenn man sich die Daten aber genauer anschaut, kommt man schnell zu dem Schluss, das Marine Le Pen der Präsidentschaft nicht näher ist als ihr Vater Jean-Marie vor 15 Jahren, der es zwar in den zweiten Wahlgang schaffte, dort aber krachend gegen Jacques Chirac unterging.

Seit 2013 wabert die Unterstützung für Le Pen in den Umfragen bei rund einem Viertel der Wähler herum. Das könnte zu einem Sieg im ersten Wahlgang reichen, auch weil ihre Anhänger geschlossen hinter ihr stehen, während sich die vielen Kandidaten der Linken und gemäßigten Rechten gegenseitig die Stimmen wegnehmen.

Aber in einem zweiten Wahlgang sieht sie keine Umfrage oder Studie auch nur in der Nähe eines Sieges. Sogar der Konservative François Fillon, dessen Wahlkampf bisher eine einzige Katastrophe ist, würde sie bequem schlagen, vom Obama-haften Aufsteiger Emmanuel Macron ganz zu schweigen. Der Anteil derjenigen Wähler, die Le Pen ablehnen, liegt konstant bei über 50 Prozent. Anders als in den USA, wo die Ablehnung gegen den späteren Präsidenten Donald Trump ähnlich hoch lag, braucht Le Pen aber mindestens einen Wähler mehr als die Hälfte, um zu gewinnen. Doch selbst wenn Le Pen es in den Elysée-Palast schaffen sollte, bedeutet das noch nicht den EU-Austritt Frankreichs. Dafür bräuchte sie eine Mehrheit in der Nationalversammlung. Momentan stellt der Front National dort zwei Abgeordnete von 557.

Unterstützung für EU wächst überall

Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass Le Pen erfolgreicher wäre, wenn sie nicht für einen EU-Austritt werben würde. Laut einer Umfrage der Zeitschrift Les Echos unterstützen 72 Prozent der Franzosen die Euro-Währung. Bei einem Referendum, legen Umfragen nahe, würden die Frexit-Befürworter krachend verlieren mit mehr als 20 Prozent. Sogar im Front National und in der Le Pen-Familie selbst ist die EU-Politik umstritten. Marion Maréchal Le Pen, Marines Nichte, spricht darüber deutlich weniger drastisch als die Präsidentschaftskandidatin.

Den Trend aus den nationalen Wahlen und Wahl-Prognosen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten bestätigen Umfragen in allen EU-Ländern. Laut des Eurobarometers fühlen sich 77 Prozent der Deutschen und  67 Prozent der Befragten in anderen Mitgliedstaaten wohl als Bürger der Europäischen Union. Der einzige Mitgliedstaat, in dem die EU weiterhin konstant negativ behaftet bleibt, ist das krisengeschüttelte Griechenland. Doch auch dort spricht seit dem „Bail-out“-Referendum in 2015 niemand mehr von einem „Grexit“. Die Popularitätswerte von Premierminister Alexis Tsipras, der Nemesis von Wolfgang Schäuble, befinden sich im freien Fall. Währenddessen gewinnt Tsipras schärfster Konkurrent Kyriakos Mitostakis, ein resoluter, proeuropäischer Reformer, stetig hinzu und hat den Premier längst überflügelt.

Brexit schreckt vor Spaltung ab

Tatsächlich erlebt die EU also gerade eine Beliebtheitswelle, die sie lange nicht gekannt hat und die wohl viele Politiker, Kommentatoren und Bürger nicht mehr für möglich gehalten haben. Anstatt nach und nach wegzukippen, stehen die Mitgliedstaaten fest auf der EU-Seite. Vielleicht weil die Bürger ganz genau nach Großbritannien schauen, um zu sehen, was passiert, wenn denn ein Land die Union verlässt: nicht viel Gutes. Die Folgen waren bisher: Tiefe Risse in den beiden größten Parteien, ein Wiederaufleben der möglichen schottischen Abspaltung, eine abgewertetes Pfund, ein rekordhohes Handelsdefizit. Übrigens hat schon Dwight D. Eisenhower mit seiner Dominotheorie nicht recht behalten. Südostasien blieb trotz der Erfolge der Viet Cong zum großen Teil frei vom Kommunismus.

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