Eroberung von Aleppo - „Es geht darum, die Demografie des Landes zu verändern“

Das Assad-Regime hat die Schlacht um Aleppo gewonnen. Ein Ende des Krieges in Syrien ist damit aber längst nicht in Sicht, sagt Nahost-Experte Daniel Gerlach. Daran habe das Regime auch gar kein Interesse

Aleppo: Trümmerhaufen mit hoher Symbolkraft / picture alliance
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Herr Gerlach, ist mit der Eroberung Aleppos der Krieg in Syrien nun entschieden?
Der Krieg wird sicher weitergehen. Langfristig wird er aber niedrigschwelliger sein, also sich in einen wirklichen Guerilla-Krieg wandeln, der auch keine Fronten mehr kennt. Darauf hat sich das Regime auch eingerichtet, denn so ein „Krieg gegen den Terror“ lässt sich bei der Bevölkerung viel einfacher legitimieren. Mit so einem Kampf kennt sich das Regime auch besonders gut aus.

Wie wichtig ist die Eroberung Aleppos als Propagandaerfolg für Assad?
Sehr wichtig. Jetzt kann das Regime zeigen, dass es auch mal eine Schlacht gewinnen kann. Der Einmarsch der Truppen wirkt propagandistisch viel stärker als die ständigen Bombardements.

Wegen der Bombardements ist der Ostteil Aleppos ja, zynisch gesagt, ein ziemlicher Trümmerhaufen. Spielt die Stadt strategisch überhaupt noch eine Rolle?
Es ist immer noch eine sehr große Stadt und sie war ein wirtschaftliches Zentrum Syriens. Deswegen hat die Bevölkerung ja auch nicht gewollt, dass der Krieg dorthin kommt. Die Rebellen haben ihn gegen ihren Willen dorthin getragen. Man muss auch wissen, dass Macht in Syrien nicht in der Währung Territorium gemessen wird, sondern in Bevölkerung. Und Aleppo ist immer noch die zweitbevölkerungsreichste Stadt Syriens.

Daniel Gerlach

Wie meinen Sie das?
Wer die Bevölkerung kontrolliert, der hat die Legitimation zur Herrschaft. Deswegen geht es auch darum, die Demografie der Stadt zu ändern. Die Bevölkerungsteile, die man als nicht loyal erachtet, hauptsächlich Sunniten, sollen aus den Stadtzentren vertrieben werden, um diese neu zu besiedeln.

Müssen wir in Aleppo jetzt also vermehrt mit Vergeltungsaktionen rechnen? Es gibt Berichte über zahlreiche Hinrichtungen.
Man hat die Parole herausgegeben: Wer jetzt noch nicht weg ist, der ist selbst schuld. Aber man muss sich auch die Methoden der Assad-Milizien vergegenwärtigen. Man hat ja bewusst keine Angehörigen der syrischen Armee dort hineingeschickt, sondern ortsfremde Milizen. Und die zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Gefangenen machen. Es findet auch keine Gesinnungsprüfung statt, ob jemand den Rebellen angehört oder Zivilist ist.

Ist da nicht auch etwas dran, dass jemand, der jetzt noch in Aleppo ist, leicht in den Verdacht gerät, ein Rebell zu sein? Der Bevölkerung wurden zum Beispiel Fluchtkorridore angeboten.
Natürlich. Zwar nimmt das Regime viele Tote in Kauf, hat aber auch kein genuines Interesse daran, die gesamte Stadtbevölkerung umzubringen. Die Bevölkerung sollte ja in die Regime-Gebiete fliehen. Voneinander getrennt in Flüchtlingslagern ist sie viel einfacher zu kontrollieren.

Es gab auch Berichte darüber, dass die Rebellen Zivilisten daran gehindert haben, zu fliehen.
Das kann ich nicht verifizieren, mir aber sehr gut vorstellen. Erst einmal ist da die zynische militärische Überlegung, in den Zivilisten menschliche Schutzschilder zu haben. Es geht aber auch darum, die Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Wenn keine Zivilbevölkerung vorhanden ist, müssen die Rebellen alles selbst erledigen, vor allem die medizinische Versorgung und die Beschaffung von Lebensmitteln.

In diesem Krieg geht es auch immer um Begrifflichkeiten. Muss man eigentlich von Rebellen oder von Islamisten sprechen?
Das ist eine sehr asymmetrische Unterscheidung. Das eine beschreibt eine Handlung, das andere eine Gesinnung. Tonangebend bei den Rebellen sind aber ganz klar Leute, die eine islamistische Agenda haben. Da aber zwischen gemäßigt und radikal zu unterscheiden, finde ich aber angesichts der Brutalität der Regime-Truppen ziemlich heuchlerisch. Man muss eher zwischen den Zielen unterscheiden. Viele sind gegen Assad und kämpfen dafür, ihn loszuwerden. Viele, und dieser Teil wächst,  sind aber auch gegen alle Alawiten und sprechen ihnen ihr Existenzrecht als Bürger Syriens ab.

Der Extremismus wächst also auf allen Seiten?
Ja. Es gibt einfach keine unbeteiligten Zivilisten mehr nach dieser Logik. Auch Aufständische haben ganz gezielt Zivilisten angegriffen.

Die internationale Gemeinschaft scheint in Syrien nur noch ohnmächtig zuzuschauen. Was kann man dort noch tun?

Momentan ist der Karren sicherlich vor die Wand gefahren. Es gab aber durchaus Gelegenheiten, wo man etwas hätte tun können und müssen. Nicht indem man einen Regimewechsel herbeizuführen versucht hätte, aber indem man Assad durch gezielte militärische Aktionen gezwungen hätte, seine Taktik zu ändern und bereiter für Kompromisse zu sein. Außerdem hat die westliche Allianz fälschlich geglaubt, Assad würde sowieso vor dem Ende stehen. Dadurch wurde versäumt, den Teilen der Bevölkerung etwas anzubieten, die zwar loyal zu Assad sind, aber hauptsächlich aus Mangel an Alternativen. Nur auf den bewaffneten Arm der Opposition zu setzen, war ein großer Fehler.

In den USA gibt es nach den Präsidentschaftswahlen ein Machtvakuum. Liegt es auch daran, dass Aleppo jetzt erobert wurde?
Absolut. Ich bin mir aber auch nicht sicher, wie es wäre, wenn Obama noch ein Jahr zu regieren hätte. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Amerikaner und andere Staaten sich längst damit abgefunden haben, dass das Regime die Kontrolle gewinnt, weil sie hoffen, dass dieses Abschlachten aufhört.

Ist das denn realistisch?
Leider eher nicht. Die Intensität des Konflikts wird vielleicht nachlassen. Aber viele können sich ein friedliches Zusammenleben mit Angehörigen anderer Konfessionsgemeinschaften nicht mehr vorstellen. Viele Alawiten und Christen sind fest davon überzeugt, dass die sunnitische Mehrheit von 75 Prozent nur mit einem autokratischen Regime unter Kontrolle zu halten ist. Und für radikale Kräfte unter den Rebellen ist die Zeit definitiv vorbei, in der sich, aus ihrer Sicht, eine Minderheit das gelobte Land unter den Nagel reißen durfte. Genau auf diesen inneren Konflikt haben sich alle syrischen Sicherheitskräfte seit Jahren vorbereitet.

Hat das Regime denn überhaupt ein Interesse daran, den Konflikt zu beenden?
Eigentlich schon. Aber der Preis, also die nötigen Kompromisse, wäre zu hoch. Und es braucht diesen Kampf vorerst noch, denn sonst werden andere Kämpfe aufkommen, vor allem um die Verteilung. Die Bevölkerung ist hoch frustriert, die Wirtschaft liegt am Boden. Mit dem Krieg kann man diese Zustände rechtfertigen. Deswegen wird das Regime den Krieg fortführen.

Welche Rolle spielt dabei der sogenannte Islamische Staat? Gerade hat der ja die Stadt Palmyra zurückerobert.

Der lacht sich momentan ins Fäustchen, denn zuletzt hat das Regime alle Truppen auf Aleppo konzentriert, und da kommt der Islamische Staat nicht vor. Entscheidend ist dabei die Rolle der Kurden. Bisher gab es eine unausgesprochene Allianz zwischen deren YPG-Truppen und jenen von Assad gegen andere bewaffnete Gruppen. Aber auch da gab es schon Zusammenstöße. Wenn die Regime-Truppen weiter voranschreiten und tatsächlich die Absicht haben, das gesamte Territorium zurückzuerobern, werden sie natürlich mit den Kurden in Konflikt geraten. Ich habe den Verdacht, dass es eine Absprache zwischen Assad, Russland und der Türkei gibt: dass die Türken ihre Unterstützung für die Rebellen reduzieren und Assad im Gegenzug verspricht, das Kurdenprojekt von einem eigenen Staat, Rojava, zu vereiteln.

Daniel Gerlach ist Mitherausgeber und Chefredakteur des Magazins „Zenith“, das sich mit der arabisch-islamischen Welt beschäftigt. Gerlach studierte Geschichte und Orientalistik in Hamburg und Paris.

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