Emmanuel Macron - Tragischer Absturz eines Hoffnungsträgers

Es wird einsam um Emmanuel Macron. Weil 26 Mitglieder seine Partei LREM verlassen haben, hat sie im Parlament die absolute Mehrheit verloren. Seine Politik sei zu rechtslastig, lautet der Vorwurf. Dabei werden seine Sozialreformen von Leuten abgelehnt, die ihn dafür gewählt hatten.

Unter Druck: Emmanuel Macron
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Ganz ohne jeden Zweifel: Emmanuel Macron steht mächtig unter Druck. Es wird zunehmend einsam um ihn. Während der Präsident mit großem Aplomb auf einer gemeinsamen Videopressekonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel ein gewaltiges 500-Milliarden-Euro-Hilfspaket ankündigt, verabschieden sich nahezu zeitgleich in Paris weitere sieben Abgeordnete aus der Fraktion der Macron-Partei LREM. Die absolute Mehrheit von La Republique En Marche (LREM) in der Pariser Nationalversammlung ist damit Geschichte, perdu. Insgesamt haben jetzt 26 Abgeordnete in den vergangenen 3 Jahren die Fraktion verlassen.

Nun ist Macron nicht in Gefahr, sein Amt zu verlieren. Ein französischer Präsident kann auch ohne oder gar gegen das Parlament regieren. Die Macht verleiht ihm die Verfassung der fünften Republik. Er gibt die Linien vor, die sein(e) Premierminister und deren Kabinett(e) umzusetzen haben. Aber ein Zeichen ist es natürlich. Und was für eines. Zur Erinnerung: Am 7. Mai 2017 wurde Emmanuel Macron mit satter Mehrheit zum Präsidenten gewählt, und zwar ausdrücklich für die zwei zentralen Themen seines Wahlkampfes: Grundsätzliche und tiefe Reformen der französischen Gesellschaft in den Bereichen Arbeit, Wirtschaft und Rente und das bei dezidiert pro-europäischer Ausrichtung der Politik.

Hoffnungsvoller Start 

Mehr noch: bei den im Juni folgenden Parlamentswahlen errang die von Macron gegründete neue Partei LREM aus dem Stand mit 314 Mandaten die absolute Mehrheit. Es war ein glatter Durchmarsch. Das Quorum zur Mehrheit liegt bei 289 Stimmen. 

Das Feld war also bereitet für den jungen, eloquenten, strahlenden Präsidenten, und mit der vielbeachteten Sorbonne-Rede schien der sich auch direkt heftig ans Werk zu begeben, Frankreich zu modernisieren und umzukrempeln. Und er betonte immer wieder sein Mantra: „Ich bin gewählt worden, um die Transformation unseres Landes voranzubringen. Ich werde meine Politik nicht ändern. Unsere Priorität ist nicht, an der Macht zu bleiben, sondern zu handeln, um zu verbessern.“

„Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“

Erste Rückschläge, wie der unerwartete Rücktritt des populären Vizepremiers und Umweltministers Nicolas Hulot nach nur einem Jahr im Amt, schienen Macron nicht allzu viel auszumachen. Auch die Proteste der Gelbwesten, die ihm hart zugesetzt haben, hatte Macron im Prinzip unbeschadet überstanden. Aber die Corona-Epidemie, die hat seine gesamte Politik zerschossen. Der Kern seiner Politik ist zerlegt. 

Die beschlossene Rentenreform wurde ausgesetzt – die Reform der Institutionen ebenso – das erreichte Wirtschaftswachstum brach völlig in sich zusammen – ein ausgeglichener Haushalt ist nicht einmal mehr frommer Wunsch. Dazu kommt, dass die Franzosen, die Macron für exakt benannte Reformen ins Amt gewählt hatten, nun, wo es konkret wird, genau diese vehement ablehnen. Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.

Macron, der „Genosse der Bosse“

Und jetzt ist auch noch die Parlamentsmehrheit verloren. Ja, die Regierung kann sich zwar wohl auf die zusätzlichen 46 Stimmen der Mouvement Démocrate (MoDem) von Francois Bayrou verlassen, aber ihr fehlt eben seit dem 19. Mai 2020  mindestens eine Stimme zur eigenen Mehrheit. Und bei den Gegangenen zählen ja nicht nur die Anzahl, sondern auch die Namen. Der schillernde Mathematiker Cédric Villani wurde schon vor Wochen aus der Partei ausgeschlossen, weil er partout an seiner Kandidatur zum Pariser Bürgermeister gegen die offiziell gewählte LREM-Bewerberin Agnès Buzyn festhielt. Nun sind mit Matthieu Orphelin und Aurelien Taché zwei weitere in Frankreich bekannte Kritiker aus der Partei ausgeschieden. 

Der Vorwurf, den die Abtrünnigen an Macron richten, ist immer der nämliche: Seine Politik werde zu rechtslastig, richte sich zu sehr an den Bedürfnissen der Wirtschaft und des Kapitals aus. „Genosse der Bosse“ hieß das mal in Deutschland. Und es stimmt ja auch, dass der Ex-Sozialist Macron in der Innenpolitik eher von konservativen denn von linken Leitbildern gesteuert wird. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass Frankreichs Wirtschaft dringend der Modernisierung bedarf und dass der Inhalt der Reformen vor der Wahl angekündigt war – und zwar genau so. Überrascht zumindest sollte also niemand tun. Auch warum der Austritt genau zu dem Zeitpunkt erfolgt, an dem das Duo Macron-Merkel den 500-Milliarden-Hilfsfond mit dem Ziel ankündigt, den Green-Deal der EU zu stärken, ist nur schwer nachvollziehbar.

Der übliche Streit der Linken um die reine Lehre?  

Manche in der LREM wollen die Abspaltungen deshalb abtun als den üblichen Streit der Linken um die „reine Lehre“, eben weil das Gros der Abtrünnigen aus der PS stammt und sich der neuen Gruppierung „Ökologie, Demokratie, Solidarität° angeschlossen hat. Doch das greift zu kurz. Ebenso die wilden Spekulationen in den Medien, ob Macron nun Neuwahlen oder ein Referendum ausrufen werde, sich zu einer formalen Koalition mit MoDem oder gar zu einer Regierung der nationalen Einheit bekennen solle. Ob er den Premierminister Edouard Philippe austauschen müsse, womöglich gegen Xavier Bertrand. Warum der das tun sollte, obwohl der Ex-Konservative selbst der aussichtsreichste Nachfolger für den Präsidentenstuhl ist, bleibt schleierhaft.

Es geht im Kern um die ganz alte Frage, wo das Primat für „Modernisierung der Gesellschaft“ liegen soll, auf dem Bedürfnissen und Forderungen der Wirtschaft oder dem Wohlergehen der Mehrheit der Menschen. Wo immer hier ein Gegensatz entsteht, ruft die französische Linke ebenso reflexhaft nach mehr Staat und mehr Umverteilung, wie der deutsche Konservatismus erklärt: „Aber nicht mit unserem Geld“. Als ob sie es jemals hätten bezahlen müssen! Aber Macron wird erklären müssen, was die Aufgaben und Ziele seiner noch mindestens zweijährigen Amtszeit seien sollen.

Und es geht zweitens um die Frage der Partizipation. Zur Zeit beschäftigt sich die politische Klasse Frankreichs mal wieder ausschließlich mit sich selbst und ihren Machtoptionen. LREM war vor 3 Jahren so erfolgreich, weil sie genau diese Selbstreferenzialität aufgebrochen hat, zugunsten der Teilhabe vieler sehr unterschiedlicher Menschen. Man müsste das neu erfinden. Nur, wer soll das tun?

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