Emmanuel Macron - Eine Volksdebatte ohne Volk

Den Namen der kleinen Gemeinde, 130 Kilometer nördlich von Paris, kannte bislang auch kaum ein Franzose. Ausgerechnet in Bourgtheroulde, in der normannischen Provinz, will Emmanuel Macron seine Präsidentschaft retten. Doch der Dialog mit dem Volk fand ohne Volk statt

Emmanuel Macron näher sich den Gelbwesten an, aber womöglich nicht genug / picture alliance
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Bourgtheroulde, von Einheimischen ausgesprochen klingt sehr ähnlich wie ein norddeutsch vernuscheltes Buxtehude – und so ähnlich sieht es auch aus: flaches Weideland, darüber ein tiefhängender grauer Himmel, Apfelbäume. Der Weg in den Ort führt an diesem 15. Januar über drei Polizeisperren, mindestens. Alle Kreisverkehre im Umkreis von 10 Kilometern sind besetzt. Diesesmal stecken Polizisten in den gelben Westen. Dreimal Ausweiskontrolle – wohin wollen Sie, zum Präsidenten – zweimal Kofferraumkontrolle. Der Eindruck: Nicht jeder ist erwünscht bei der großen nationalen Debatte, die der Präsident für die kommenden sechs Wochen bis zum 15. März angekündigt hat. Wer nicht in Bourgtheroulde wohnt, muss entweder akkreditierter Journalist sein, Bürgermeister einer nordfranzösischen Gemeinde, oder er muss draußen bleiben.

Im Ort selbst sind fast alle Geschäfte verrammelt, nur die Bar-Tabac L’Imprévu am Platz neben der Kirche macht das Geschäft des Jahres. Davor die angereisten Journalisten und circa 150 Gilets-Jaunes, die es trotz aller Sperren in den Ort geschafft haben. „Über die Felder“, sagt Dimitri, knapp dreißig, Kapuzenpulli: „wir kennen uns aus, wir sind von hier“. „Macron muss gehen“, findet er. Lösungen von der Politik, die erwartet er „schon lange nicht mehr“. Ob nun Mélonchon (Ultralinks) oder Le Pen (extreme Rechte), „alle aus einem Sack“. Und was dann, frage ich. „Egal, nur Macron muss weg“. Seine Freundin Allison assistiert: „Ist das etwa Demokratie, wenn man sich im eigenen Dorf nicht mehr frei bewegen kann? Überall nur Polizei, gepanzert und schwer bewaffnet?“

Keine Aggressionen und keine Gewalt

Anders als in Paris ist die Stimmung null aggressiv, nicht gegen Journalisten, nicht gegen die Polizei, ja nicht einmal gegen Macron – nur völlig desillusioniert. Nach der letzten Polizeisperre dann das Sportzentrum „Benedetti“. Hier warten 600 geladene Bürgermeister/innen auf den Präsidenten. Die schmucklose Wellblechhalle von der Größe eines Handballfeldes hat den Charme einer ehemaligen Geflügelzucht. Auf Plastikstühlen im Karree fast alle Ortsvorsteher der Region, angetan mit blau-weiß-roter Schärpe; die Stimmung: höfliche Anspannung. „Man muss doch reden miteinander: Reden, keine Gewalt“, sagt Amel, maghrebinischstämmiger Bürgermeister der 900 Seelengemeinde Gauciel im schweren nordfranzösischen Dialekt.

So wie Amel sehen das die meisten hier. Und das, obwohl nur die allerwenigsten der Partei des Präsidenten La République En Marche angehören. Aber den Verdruss und die Wut der Bürger bekommen sie als erste ab, egal ob Konservative, Kommunisten oder Parteilose. LaREM hat kaum kommunale Mandatsträger. Deshalb ist Marcron jetzt auf sie angewiesen. Sie müssen den Kontakt zu den Bürgern herstellen. Daher wird der Präsident in seinem kurzen, siebenminütigen Auftaktstatement erklären, „die künftigen politischen Lösungen werden näher am Terrain sein, als das bisher der Fall war“.

Macron greift Themen der Gelbwesten auf

Er sei gekommen um zuzuhören, erklärt Macron, nachdem er vier Themenbereiche vorgegeben hat Steuern (Welche können gesenkt werden?), staatliche Strukturen (Welche sind einzusparen?), ökologischer Umbau (Wieviel ist nötig?) und Demokratie (Wie kann mehr Beteiligung organisiert werden?). Das sind exakt die Themen, die auch die Gilets-Jaunes fordern. Aber das kommt bei ihnen nicht im Geringsten an, auch weil sie eben nicht zu den Geladenen im Saal gehören. „Es darf in der Diskussion keine Tabus geben“, erklärt Macron den Amtsträgern, „Sagen Sie mir offen, was Sie auf dem Herzen und in den Köpfen haben“.

Das wird er bekommen. Laurance Bussière fragt zum Auftakt höflich, aber bestimmt: „Herr Präsident, welche Antwort geben Sie den Kommunen, damit wir uns alle ernstgenommen fühlen (können)?“ Jean-Paul Legendre, Bürgermeister eines Bauerndorfs im Departement Eure ergänzt: „Wir arbeiten ja mit Ihnen zusammen, aber haben Sie bitte auch Vertrauen in uns, und halten Sie die Maschinerie an, die Bürgernähe kleinhäckselt“. Joel Bruneau, Bürgermeister der Hafenstadt Caen erklärt, das Vertrauen der Bürger in die Nationalversammlung sei „komplett zerstört“, weil ständig und enorm zeitaufwendig jede kommunale Entscheidung auf mindestens drei höheren Staatsebenen neu abgesegnet werden müsse. Valéry Beuriot, Kommunist aus Brionne, weist auf einen Widerspruch in Macrons Vorgaben hin, es solle keine Tabus geben, aber andererseits bliebe es definitiv bei der Abschaffung der Vermögenssteuer: „Diesen Widerspruch müssen Sie auflösen, Herr Präsident.“

Zugeständnisse für eine Dezentralisierung

Und so geht es immer weiter. Macron stellt sich dem, hört geduldig zu, macht sich Notizen zu jeder Wortmeldung. Die Liste wird lang. Allerdings: Angela Merkel bekäme sinngemäß vom deutschen Städte- und Gemeindebund ziemlich genau das Gleiche mit auf den Weg. Auch die Bitte eines Bürgermeisters und Unternehmers: „Wir stehen jeden Morgen um sechs Uhr auf, um nach Rouen oder Dieppe dreißig, vierzig Kilometer zur Arbeit zu fahren. Wir arbeiten gerne und viel, für unsere Familien, unsere Kinder, unser Land. Geben Sie uns das Gefühl, dass Sie das auch wertschätzen.“

Nach anderthalb Stunden wird Macron antworten, penibel alle Forderungen und Einlassungen abarbeiten, wissend, wer wo sitzt und was gesagt hat. Erstaunen bei den Bürgermeistern. Und Beifall, als er erklärt, die neue Gemeindeordnung (das Loi Notre) zu öffnen, den Kommunen mehr Eigenständigkeit zu geben, staatliche Zwischenebenen abzuschaffen. Er geht auf ganz konkrete Forderungen ein, sagt, die Ausgabe von Personalausweisen, Pässen und KFZ-Scheinen könne dezentralisiert und in die Kommunen rückverlagert werden.

Die Debatte ist ein Anfang, doch sie bleibt hermetisch

Aber er schmeichelt den Bürgermeistern, die er so dringend als Multiplikatoren und Vermittler braucht, auch nicht, etwa in der umstrittenen Frage der Vermögenssteuer. „Pour la Pipe“ – sinngemäß übersetzt mit „geschissen“ – sei die These, auch nur einem einzigen Gilet-Jaune ginge es besser, wenn die wieder eingeführt werde. Es sei doch wahr, dass die wirklich Reichen höchst erfolgreiche Systeme zur Steuervermeidung hätten. Um Gleichheit herzustellen, bedürfe es dagegen guter Schulen, Teilhabe an Kulturangeboten und sozialen Serviceleistungen. Das müsse man gemeinsam herstellen. „Meine Devise“, sagt er, „lautet seit jeher: Ich werde niemanden im Regen stehen lassen“. Am Ende bekommt er auch dafür Beifall. Und wer geglaubt hatte, der Aufschlag der Grand Débat sei mit der ersten Antwort des Präsidenten nach dreieinhalb Stunden beendet, der irrt. Der Präsident nimmt sich Zeit für eine zweite Runde. Man kann ihm sicher nicht nachsagen, er habe den Ernst der Situation nicht verstanden.

La Cholère, die Wut der Menschen draußen, hat er damit ebenso sicher (noch) nicht beendet. Zumindest nicht jener, die frierend weiter auf dem Dorfplatz von Bourgtheroulde ausharren. Aber vielleicht hat er einige Zuschauer der landesweiten Liveübertragung im Fernehen erreicht. Vierzig Prozent aller Franzosen wollen sich in den kommenden Wochen an der Debatte beteiligen, hat eine Umfrage ermittelt. Denen ist Macron die angekündigten Lösungsvorschläge schuldig, die muss er überzeugen. Gut möglich, dass es dafür nicht ausreicht, in einer nahezu hermetisch abgeschirmten Dorfturnhalle mit Bürgermeistern zu diskutieren. Gut möglich, dass er dafür selbst auf die Plätze und zu den Menschen gehen muss.

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