Ein Plädoyer für Europa - „Über und für die Werte Europas streiten“

Die Verfasstheit einer Gesellschaft erkennt man auch an den Seitenstreifen der Straßen. Gut, dass wir diese Streifen haben. Der tschechische Journalist Karel Hvížďala legt dar, was Demokratie in der Praxis bedeutet

Europäische Werte: Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit / Illustration: Martin Haake
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Karel Hvížďala ist einer der bekanntesten Journalisten und Essayisten Tschechiens. Die Bücher des 1941 geborenen Havel-Biografen sind auch auf Deutsch erschienen.

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Eine Lobeshymne auf Europa? Das mag in Zeiten des Brexit anachronistisch anmuten. Aber gerade jetzt braucht es Europäer, die daran erinnern, was diesen Kontinent lebenswert macht und warum wir die Europäische Union brauchen. Bereits vor zwei Jahren veröffentlichte Cicero in seinem Jubiläumstitel die leidenschaftlichen Plädoyers zehn namhafter Autoren. Diese Texte aus unserem Archiv möchten wir in den kommenden zwei Wochen mit Ihnen teilen.
Für den fünften Teil unserer Europareihe schreibt Karel Hvížďala über Demokratie in Europa.

Als ich im Sommer 1978 ins Exil ging, sagte mir ein deutscher Freund: „Stell dir vor, ich war vor kurzem in der Tschechoslowakei, und das totalitäre Regime kann man bei euch bereits auf dem Weg vom Flughafen erkennen. Es fehlen die weißen Seitenstreifen an den Straßen. Die Bürger wissen also nicht, wo die Grenzen des Bereichs verlaufen, für den der Staat haftet, und ab welcher Stelle der Fahrer die Verantwortung übernimmt. Das ist in einer funktionierenden Demokratie unzulässig.“

Was Demokratie in der Praxis bedeutet


Damals ist mir zum ersten Mal klar geworden, was Demokratie in der Praxis bedeutet: eine Gemeinschaft vollberechtigter Bürger, die die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten und somit auch der öffentlichen Straßen übernehmen. Sie schützt die Bürger – und dient nicht einer kleinen Anzahl von manipulativen Machthabern. Im heutigen Europa sind weiße Seitenstreifen fast allgegenwärtig, sie enden irgendwo in Polen hinter Bialystok und in der Slowakei hinter Košice. Wir teilen gemeinsam einen vernetzten Raum und somit auch die Regeln und Vorstellungen darüber, wie man Demokratie weiterentwickeln kann.

Grenzüberschreitungen ins freie Europa


Ich erinnere mich bis heute, wie wir das erste Mal aus Deutschland über Österreich in die italienischen Alpen zum Skifahren gereist sind und unterwegs nicht ein einziges Mal angehalten wurden. Nur mein kleiner Sohn beschwerte sich, denn für ihn waren die Grenzüberschreitungen ins freie Europa so etwas wie ein Actionspiel gewesen. Er musste dann immer so tun, als ob er im Auto auf dem Rücksitz schlafen würde, während unter ihm gestapelte Manuskripte versteckt waren. Hätten die Zollbeamten sie entdeckt, wären wir im Gefängnis gelandet. Heute können meine Enkel solche Geschichten nicht glauben.


Wer heute von Berlin nach Prag fährt, wird nicht an der Grenze abgebremst, sondern erst dort, wo die Autobahn endet – und zwar von protestierenden Umweltschützern, die verhindern wollen, dass diese neue und wichtige Verkehrsader die herrliche Natur des Böhmischen Mittelgebirges zerstört. Auch das ist Demokratie: Die Bürger haben das Recht, ihre Landschaft zu verteidigen.

Demokratie ist kein starrer Zustand


Demokratie ist jedoch kein starrer Zustand, sondern ein endloser Prozess, der mit der jeweiligen Tradition in den unterschiedlichen Ländern zusammenhängt. Sie wird in Großbritannien, wo ihr Beginn markiert wird von der mythischen Magna Carta aus dem Jahr 1215, anders verstanden als in Frankreich, wo sie ihre Wurzeln hat in der Französischen Revolution des Jahres 1789. Anders auch in Deutschland und Österreich, wohin sie nach 1945 exportiert wurde. In Mitteleuropa konnte die Demokratie sogar erst nach 1989 Fuß fassen. Heute bauen wir in Europa an einer neuen, gemeinsamen demokratischen Tradition – was dazu führt, dass man anfängt, über die Demokratie anders zu denken. Der Soziologe und Philosoph Ralf Dahrendorf fasste es vor einigen Jahren in seinem Buch „Der Wiederbeginn der Geschichte“ zusammen.

Eine noch engere Zusammenarbeit


Die gegenwärtig nachklingende Krise der Europäischen Union sowie die aggressive Annexion der Krim durch Russland, die der Annexion des Sudetenlands durch Deutschland im Jahr 1938 sehr ähnlich ist, könnten für die gesamte Europäische Union womöglich eine große Chance sein, um Veränderungen herbeizuführen. Ich denke da beispielsweise an eine noch engere Zusammenarbeit, insbesondere was Verteidigung und Sicherheit betrifft.

Grundwerte als Basis eines gemeinsamen Kontinents


Es sind letztlich einige Grundwerte, die die Basis unseres gemeinsamen Kontinents bilden: Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Prinzipien der Demokratie. Europa ergibt einen Sinn, solange wir noch über und für diese Werte streiten. Es ist ein Streit über das Wesen Europas. Solange wir diesen Streit mit Ausdauer und ohne Unterlass führen, wie Nietzsche sagte, befinden wir uns in Europa.

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