Deutsche Afghanistanpolitik - Das grün-linke Evakuierungsmärchen

Die Grünen und die Linkspartei behaupten seit Tagen, schon im Juni im Bundestag die Evakuierung afghanischer Ortskräfte gefordert zu haben. Das klingt lobenswert, hat mit der Realität aber wenig zu tun. Tatsächlich ging es ihnen um Visa-Erleichterungen.

Die Bundeswehr hat ihre Evakuierungsmission für Deutsche und einheimische Ortskräfte in Afghanistan am Donnerstag fortgesetzt / dpa
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Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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Was die Entwicklung in Afghanistan, den raschen Vormarsch der Taliban und die Einschätzung der Lage in Berlin angeht, gibt es nicht viel schönzureden. Das war auch Bundeskanzlerin Angela Merkel klar, als sie gestern im Bundestag ihre Regierungserklärung zur Lage in Afghanistan abgab. „Die gesamte internationale Koalition, wir alle haben die Geschwindigkeit dieser Entwicklung ganz offensichtlich unterschätzt. Und das gilt auch für Deutschland“, erklärte sie. Eine Rede, der eine hitzige Debatte folgte, bei der das Wort „Desaster“ eine wahre Konjunktur hatte. Was bei den aktuellen Bildern vom Kabuler Flughafen wenig erstaunlich ist. Zum Ende der fast drei Stunden dauernden Debatte stimmte der Bundestag mit 538 Ja-Stimmen nachträglich dem Evakuierungseinsatz der Bundeswehr zu.

Angela Merkel gab gestern aber noch einen weiteren bemerkenswerten Satz von sich. „Hinterher, im Nachhinein, präzise Analyse und Bewertungen zu machen, das ist nicht wirklich kompliziert. Hinterher, im Nachhinein, alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen, das ist relativ mühelos“, erklärte die Bundeskanzlerin bezüglich der afghanischen Ortskräfte. Eine wie Merkel betonte „persönliche Anmerkung“, die sich vor allem an die Grünen und die Linke richtete.

Die Erzählung von der Evakuierung

Denn diese werfen der Bundesregierung seit dem Einmarsch der Taliban in Kabul vor, die afghanischen Ortskräfte nicht rechtzeitig aus dem Land evakuiert zu haben, so wie es die beiden Parteien selbst vor Wochen bereits im Bundestag gefordert haben. Dies behaupten jedenfalls namhafte Politiker der beiden Parteien und berufen sich dabei auf einen Antrag der Grünen, der am 23. Juni von der Regierungskoalition aus CDU/CSU und der SPD sowie mit den Stimmen der AfD abgelehnt wurde. „Am 23. Juni haben die Grünen im Bundestag beantragt, die Ortskräfte zu evakuieren“, twitterte Katrin Göring-Eckardt, die Fraktionsvorsitzende der Grünen, am 16. August. Sevim Dagdelen von der Linkspartei erklärte am Dienstag in einem Interview mit dem Spiegel, dass die Grünen und die Linke mit Anträgen „auf die Evakuierungen gedrängt“ hätten. Und auch der Linke-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch verwies bei der gestrigen Bundestagsdebatte auf frühere Evakuierungsforderungen.

Es sind Behauptungen, die zum Großteil auch von der Presse wiedergegeben werden. So leitete beispielsweise die Hamburger Morgenpost ein Interview mit Göring-Eckhardt mit der Behauptung ein, dass die Grünen bereits „im Juni im Bundestag über einen Antrag zur raschen Evakuierung einheimischer Ortskräfte und Deutscher abstimmen ließen“.

Gruppenverfahren statt Evakuierungen

Doch wenn man sich den nun seit fast zwei Wochen oft erwähnten Antrag der Grünen vom 23. Juni anschaut, muss man feststellen, dass in diesem das Wort Evakuierung der afghanischen Ortskräfte gar nicht vorkommt. Vielmehr fordern die Grünen die Einführung eines Gruppenverfahrens „für die großzügige Aufnahme afghanischer Ortskräfte“ sowie deren Familienangehöriger, „die für deutsche Institutionen arbeiten oder gearbeitet haben“. Als Begründung verweisen sie auf die Probleme in Afghanistan, die, nicht nur wegen des Vormarsches der Taliban, es den Ortskräften erschwerten, Visa für Deutschland zu erhalten, sondern auch wegen hoher bürokratischer Hürden. Nachdem im Mai 2017 ein Bombenanschlag auf das Diplomatenviertel in Kabul verübt wurde, wurde an der deutschen Botschaft die Visastelle geschlossen.

„In meinem Verständnis ist dies ein Antrag für Visaerleichterungen, nicht aber für sofortige Evakuierungen“, sagt Carlo Masala, Lehrstuhlinhaber für Internationale Politik an der Bundeswehruniversität in München, gegenüber Cicero. Sofortige Evakuierungen wurden auch nicht von den Grünen und Linken gefordert bei der Aktuellen Stunde zum geordneten Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan, wenige Stunden vor der Abstimmung über den Antrag der Grünen. Dies kann man jedenfalls dem Sitzungsprotokoll entnehmen.

Berechtigte Forderungen

Auch von der Linken findet man keine Forderungen nach einer sofortigen Evakuierung der afghanischen Ortskräfte. Zumindest keine, die schon vor Wochen geäußert wurden. Sevim Dagdelen forderte erst am 11. August in einer Pressemitteilung eine sofortige Evakuierung des deutschen Botschaftspersonals aus Kabul. Zwei Tage später folgte von ihr auch eine Forderung nach einer Evakuierung der Ortskräfte. Aber immerhin hat Dagdelen damit mehr Weitsicht und Realität bewiesen als das Auswärtige Amt, wo man noch am Vorabend des Einmarsches der Taliban Warnungen der deutschen Botschaft in Kabul ignorierte.

„Das bedeutet aber nicht, dass die Anträge der Grünen und der Linken nach Visaerleichterungen falsch sind“, sagt Masala und wird dabei von dem CDU-Politiker Roderich Kiesewetter bestätigt. „Es war ein großer und gravierender Fehler, den Antrag der Grünen – aus Prinzip – abzulehnen. Punkt“, gab der Obmann im Auswärtigen Ausschuss auf Twitter zu.

Ortskräfte als Wahlkampfthema

Die große Frage ist nur, weshalb dies der Fall war. „Ich vermute, dass man das Thema Ortskräfte aus dem Wahlkampf raushalten wollte. Meiner Meinung nach haben auch deswegen das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium in den Monaten zuvor den afghanischen Ortskräften die Visavergabe erschwert“, sagt Masala.

Eine Wahlkampftaktik, die sich jedenfalls als ein großes Geschenk für die Opposition entpuppte. Ob nun die Grünen, die Linken oder die FDP, die in einem Antrag vom 22. Juni ebenfalls Visaerleichterungen für afghanische Ortskräfte forderte, auch ohne die angeblich verlangten Evakuierungen hätten die Forderungen nach Visaerleichterungen wahrscheinlich mehr Menschenleben retten können, als mit der nun endenden Luftbrücke tatsächlich gerettet wurden.

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