Demokratiebewegung in Hongkong - „Unsere schlimmsten Albträume sind wahr geworden“

Knapp zwei Jahre ist es her, dass in Hongkong eine Protestwelle gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz mit China begonnen hatte. Heute ist vom Geist der Revolution nicht mehr viel zu finden. Ein Gespräch über den neuen Alltag mit einem Hongkonger Studenten.

Ein vermummter Demonstrant vor der Hong Kong Polytechnic University im November 2019/ dpa
Anzeige

Autoreninfo

Alissa Kim Neu studiert Kulturwissenschaften und Romanistik in Leipzig. Derzeit hospitiert sie bei Cicero.

So erreichen Sie Alissa Kim Neu:

Anzeige

Jason ist Student aus Hongkong. Er hat an den regierungskritischen Protesten 2019/2020 teilgenommen. Aus Sicherheitsgründen möchte er weder seinen Namen noch weitere Details in der Öffentlichkeit bekannt geben.  

Jason, kann ich frei mit Ihnen reden? Oder sollten wir für unser Interview auf eine sicherere Plattform wechseln?

Nein, noch können wir frei reden. (lacht)

Wann waren Sie das letzte Mal für Proteste auf der Straße?

Im November 2019 habe ich mit vielen anderen eine Hongkonger Universität besetzt. Wir haben damals versucht, die Gebäude zu verbarrikadieren. Am Ende stürmte die Polizei das Gelände gewalttätig mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen. Viele wurden verletzt. Über 1.000 Menschen wurden festgenommen. Danach wurde die Universität geschlossen, und ich nahm auch nicht mehr an Protesten teil.  

War das der Höhepunkt der Proteste 2019?

Nein, schon ab Juni hatte es damals große, friedliche Proteste gegeben, die sich gegen ein geplantes Auslieferungsabkommen mit China und gegen Chinas wachsenden Einfluss auf unser Rechtssystem richteten. Die Polizei ging oft massiv gegen die Demonstranten vor. Bis Januar 2020 gab es weitere große Kundgebungen. Je nach Reaktion der Polizei verliefen die mehr oder minder friedlich.

Warum kam die Bewegung dann von Januar 2020 an zum Erliegen?

Durch die Corona-Pandemie hatten wir Angst, uns gegenseitig anzustecken. Auch die offiziellen Regeln wurden damals verschärft. Die Proteste wurden nicht mehr genehmigt. Wir Studenten hatten plötzlich kaum noch Kontakt miteinander; der Universitätsalltag lief im Fernstudium ab.

Haben Sie selbst auch aufgehört zu protestieren?

Ja, im November. Ich fühle mich oft schuldig deswegen. Ich bereue es manchmal, dass ich nicht jedes Mal mit auf die Straße gegangen bin, weil meine Eltern mich abhielten oder weil ich zu viel Angst hatte. Auf der anderen Seite sehen wir jetzt Aktivisten wie Joshua Wong und Agnes Chow: Sie haben ihre ganze Zukunft hingegeben, und was bekommen sie nun dafür? So viele geben sich der Sache hin, und trotzdem verlieren wir immer mehr Rechte.

Wie ist die Situation Hongkongs heute?

Allgemein kann man eine große Resignation verspüren. Viele Hongkonger haben ihren Glauben an Veränderung verloren. Noch während der Corona-Pandemie wurden wichtige Anführer der Proteste verhaftet, und im Juni 2020 wurde das neue Sicherheitsgesetz verabschiedet. Von da an wurden unsere schlimmsten Albträume wahr: China bekam so viel mehr an Kontrolle und konnte fortan jeglichen Protest unter dem Deckmantel der „Nationalen Sicherheit“ mit hohen Haftstrafen ahnden.

Was hatte das Gesetz konkret für Folgen?

Für mich selbst kann ich sagen, dass es mir große Angst macht. Anführer der Proteste setzen sich schnellstmöglich ins Ausland ab oder werden verhaftet. Verurteilte Protestler wie Jimmy Lai wurden bis dato noch nicht nach diesem Gesetz verurteilt. Denn jetzt sind noch weit höhere Haftstrafen möglich. Ein erster Prozess gegen Verstöße dieses „Security Act“ wird derzeit vor Gericht verhandelt. Es wird sich zeigen, wie hoch das Strafmaß sein wird. Lebenslänglich wäre möglich, denn das Gesetz ist so vage formuliert, dass jegliche Protesthandlung als Verstoß interpretiert werden kann.

Wird es so etwas wie eine Hongkonger Diaspora geben?

Das kann ich mir gut vorstellen. Nicht nur sind wichtige Gesichter der Freiheitsbewegung ins Ausland geflohen, auch in meinem persönlichen Umfeld denken viele über das Auswandern nach. Vor allem Kanada und Großbritannien sind beliebte Ziele. So etwas geht natürlich nicht spontan, aber viele sparen Geld und planen, nach dem Studium ins Ausland zu gehen.

Sie auch?

Ja, ich überlege mir das schon.

Ist die Protestbewegung am Ende?

Nein, es gibt noch Proteste, und es gibt auch noch kleine Freiheiten. Zum Beispiel werden jetzt besonders die Geschäfte unterstützt, die aus Hongkong kommen. Es ist der Wunsch der meisten Hongkonger, eine freie Stadt zu werden.

Wie hat sich der Alltag verändert?

Wir sind ängstlicher geworden. Ein Freund von mir wurde erst kürzlich verhaftet und muss nun für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Wenn man so etwas sieht, dann beunruhigt das. Gefühlt kann es einfach jeden treffen. Es gehört zum Alltag, dass man seine Freunde immer wieder anschreibt und sie fragt, ob alles okay ist. Wir haben eben alle Angst davor, dass es nicht so sein könnte.

Vorige Woche musste die oppositionelle Zeitung Apple Daily schließen, wie informieren Sie sich seither?

Das Internet ist noch frei nutzbar, wird aber immer mehr eingeschränkt. Viele überprüfen mittlerweile ihre Social-Media-Profile und machen eine Art Selbstzensur, damit ihnen nichts vorgeworfen werden kann. Über Social Media bleiben wir in Kontakt und tauschen uns aus, aber es ist schwieriger geworden.

Wie ist die Situation an der Universität?

Viele sind verunsichert, wie die Universitäten mit dem neuen Sicherheitsgesetz umgehen werden. Freiheiten werden immer mehr eingeschränkt, Studentenwerke werden nicht anerkannt, an den Eingängen gibt es ID-Checks, und ein offenes Sprechen wird immer schwieriger. Dozenten, die an den Protesten teilgenommen haben, wird gekündigt und kritische Projekte wie Debatten, die es bis vor ein paar Jahren noch gegeben hat, werden nicht mehr angeboten.

Ist die Bevölkerung Hongkongs in ihrer Ablehnung des neuen Gesetzes geeint?

Nein, so einfach ist das nicht. In den Klassen, unter Freunden, aber auch in Familien entstehen große Dispute. Ich habe Freunde, deren Eltern Chinesen sind oder in China arbeiten, die sind besonders darauf bedacht, sich nicht mit China anzulegen; sie verbieten ihren Kindern jegliche kritische Äußerung. Auch bei mir zu Hause streiten sich meine Eltern: Ein Elternteil stammt aus China und hat nichts gegen engere Verbindungen, der andere stammt aus Hongkong und würde die Stadt aus Protest am liebsten verlassen.

Welche Rolle sollte die internationale Staatengemeinschaft in diesem Konflikt spielen?

Ach, ich glaube nicht, dass irgendeine westliche Macht den Konflikt mit China suchen wird, nur um unserer kleinen Stadt zu helfen. In China leben über eine Milliarde Menschen, in Hongkong keine acht Millionen. Die Stadt ist keine Weltmacht. Ich werfe da niemandem vor, dass er sich nicht genug für uns einsetzt.

Die Fragen stellte Alissa Kim Neu.

Anzeige