Demokratie 4.0 - Der politische Frühling klopft an die Tür

Kolumne: Schöne Aussicht. 2016 war ein Jahr voller politischer Erschütterungen. Doch das muss nicht schlecht sein. Im Gegenteil: Wir erleben heute erste Anzeichen einer Wiederbelebung dessen, was früher eine lebendige demokratische Politiklandschaft war

Demokratisches Recht: Lautstarker Protest gegen die Verfassungsreform in Italien / picture alliance
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Autoreninfo

Matthias Heitmann ist freier Publizist und schreibt für verschiedene Medien. Kürzlich hat er das Buch „Entcoronialisiert Euch! Befreiungsschläge aus dem mentalen Lockdown“ veröffentlicht. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.

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Das Jahr 2016 ist zweifellos ein Jahr großer Entscheidungen und auch großer Unsicherheiten und Verwerfungen. Im Juni haben die Briten in überraschender Eindeutigkeit für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gestimmt. Und nicht nur dort verschaffen sich die EU-kritischen Stimmen Gehör: Beinahe in allen Staaten der Union ist Europa zu einem Thema politisch kontroverser und handfester Auseinandersetzungen geworden – und zwar nicht nur in radikalen Kreisen, sondern in der breiten Öffentlichkeit. Dabei ist auch deutlich geworden, dass die Konfliktlinien nicht zwischen den nationalen Eliten und „denen in Brüssel“ verlaufen, sondern zwischen den nationalen Regierungen mitsamt den großen Medien auf der einen und großen Teilen der Bevölkerung auf der anderen Seite.

Dass gerade die immer wieder als verdrossen, minder gebildet oder nicht zukunftsfähig abgestempelten „Modernisierungsverlierer“ nach Jahren der Abstinenz nun wieder ihre Stimme erheben und in Wahlen abgeben, kann aus demokratischer Sicht nur begrüßt werden. Eine funktionierende Demokratie ist kein weich gepolsterter Ort der reinen Schönheit und der wohltemperierten Salonkultur. Sie ist ein Kampfplatz, an dem gegensätzliche Interessen klar formuliert und Konflikte mit harten Bandagen ausgetragen werden, an dem es kracht und quietscht, qualmt und stinkt, an dem man sich schmutzige Schuhe, zerrissene Hemden oder auch mal ein blaues Auge holt. Demokratie ist nicht schön, aber sie ist der produktivste Weg, um aus unterschiedlichen Dynamiken Energie für ein Gemeinwesen zu gewinnen und Fortschritte zu erreichen.

Lange so lebendig wie ein Fischstäbchen

Wir erleben heute erste Anzeichen einer Wiederbelebung dessen, was in der Vergangenheit einmal eine lebendige demokratische Politiklandschaft war. Seit vielen Jahren war „Politik“ in dieser dynamischen Form nicht existent und für viele Menschen ungefähr so lebendig wie ein Fischstäbchen: Man erahnt am Geschmack, dass es mal schwimmen konnte, aber Lust auf Meer macht es nicht. Doch spätestens seit dem Frühsommer 2016 bricht die Eisschicht auf, unter der das Politische so lange tiefgefroren schlummerte.

Das große Tauen hat eingesetzt: Hatte man bis gestern zwar kaum Halt, aber zumindest eine harte Oberfläche unter den Füßen, so ist nun der Untergrund schwierig, teilweise glitschig und schlammig. Und er riecht modrig, denn es wird auch vieles aufgetaut, was eigentlich schon lange das Zeitliche gesegnet hat. Aber auch das Übelriechende, das Gestrige und Rückwärtige hat seine Berechtigung, denn ohne dies kann nichts Neues entstehen. Genauso, wie Tauwetter tiefgefrorene Böden nicht automatisch in blühende Wiesen, sondern zunächst einmal in grau-braunen Morast verwandelt, so entstehen auch politische Landschaften – vorausgesetzt, die Prozesse des Stoffwechsels werden nicht künstlich unterbunden.

Angst vor Veränderung ist groß

Das politische Europa ist in einem solchen Zustand des Übergangs: Der Eispanzer der Alternativlosigkeit ist löchrig geworden, an einigen Stellen bricht er auf. Es zeigen sich erstaunliche und wenig dauerhafte Blüten, und es bilden sich morastige, unsichere Täler und Untiefen. Doch noch ist unklar, ob dies nur ein kurzes Frühlingserwachen ist. Denn es gibt Kräfte, die versuchen, den Automatismus des Tauens zu verhindern. Sie tun dies, indem sie alles, was nicht aus weißem Schnee oder klarem Eis besteht, als Dreck bezeichnen und die Werbetrommel rühren für die Schönheit, die Verlässlichkeit, die Sauberkeit und die Ruhe der politischen Eiswüste.

Die europäischen Verfechter des politischen Dauerfrosts sind damit nicht unerfolgreich: Ihr Einfluss fußt unter anderem darauf, dass die Zeiten der verordneten Alternativlosigkeit bereits so lang andauern, dass viele Menschen gar keine eigenen Erfahrungen mehr mit politisch lebendiger Wirklichkeit haben. Hier verfängt die Argumentation, derzufolge das Aufbrechen alter Strukturen und Denkweisen unweigerlich die Zerstörung Europas zur Folge hat. Viele wissen nicht, dass lediglich der Eispanzer zerbricht und das eigentliche Europa darunterliegt. Die schockierten Reaktionen vieler junger Briten auf das Ergebnis des Referendums offenbart, wie sehr sie Kinder der Alternativlosigkeit sind und wie fremd und bedrohlich die Erfahrung politischer Alternativen auf sie wirkt.

Das Paradoxe an der Entwicklung in Europa ist: Der politische Frühling klopft an die Tür, aber die Angst vor Morast und Unsicherheit, vor Veränderung und Wachstum ist so groß, dass viele gerade junge Menschen sich nicht trauen, ihre Iglus zu verlassen. Sie wünschen sich den politischen Winter zurück, bemalen die vereisten Wände ihrer Behausungen mit den buntesten Farben der Demokratie, erklären den Frühling zum Beginn einer apokalyptischen Klimaveränderung und behandeln diejenigen, die sich dennoch herauswagen, wie Verrückte, Minderbemittelte oder Ewiggestrige.

Widerstand, Zwist und offene Debattenkultur

Das Grandiose an der Menschheit aber ist, dass sie sich kontinuierlich verändert und entwickelt. Das kann niemand ganz verhindern, nicht einmal sie selbst. Die bemalten Wände des obrigkeitsstaatlichen Gebildes namens Europäische Union mögen noch so bunt verziert sein, irgendjemand kratzt immer am Lack. Und das sind oft gerade nicht die Nettesten, nicht die Sympathieträger und nicht die friedfertigen Schöngeister. Es sind die Querulanten und Einzelgänger, die intellektuellen Heckenschützen, die Sturköpfe und Besserwisser, die notorischen Nörgler und Rechthaber. Aber das, was sie tun, macht einen Unterschied. Diese Unterschiede zu verbieten, schützt vielleicht die Harmonie unserer Kleingeistigkeit, aber gleichzeitig mauern wir so die Tür zu, an die der Frühling klopft.

Wenn also die Repräsentanten des europäischen Establishments und die großen Medien uns unisono verkünden, dass diejenigen, die Regierungen ablösen wollen und sich gegen den Willen der Mächtigen stemmen, in Wirklichkeit Feinde der Demokratie und Feinde Europas sind, dann sollten wir uns vergegenwärtigen, dass es nichts Europäischeres gibt als Widerstand, demokratischen Zwist und eine offene Debattenkultur. Wenn der Ministerpräsident eines europäischen Landes Teile des bisher demokratisch gewählten Parlaments mit handverlesenen Technokraten besetzen will, dann ist dies einfach undemokratisch. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass dieser Italiener sowie ein Freund der Europäischen Union ist und Matteo Renzi heißt. Der Widerstand gegen eine solche Reform ist nicht nur demokratisches Recht, für manche sogar eine demokratische Pflicht – auch dann, wenn dieser Widerstand als „populistisch“ gebrandmarkt wird. Denn wer lieber mit Experten regiert anstatt mit Volksvertretern, der sollte aufhören, sich selbst Demokrat zu nennen und andere der Demokratiefeindlichkeit zu bezichtigen.

Es geht nicht um Ästhetik, sondern um Bewegung

Dasselbe gilt auch für Politik-Akteure, die zuerst die Menschen an die Urnen rufen, aber dann, wenn diese anders abstimmen als gewünscht, ihnen Dummheit und Verführbarkeit unterstellen, ihren Wahlentscheid anschließend uminterpretieren und zudem nach rechtlichen Tricks fahnden, um das Votum ganz zu umgehen. Es ist gut, wenn Menschen einer solchen Behandlung nicht zustimmen. Und es ist gut, wenn sie dies aus unterschiedlichen Gründen tun. Dass man Überzeugungen teilt, heißt nicht, dass man alle Überzeugungen miteinander teilen muss. Auch demokratische Praxis will gelernt und entwickelt werden.

Wer jahrelang stumm war, von dem sind nicht sofort kunstvoll gesungenen Arien zu erwarten. Schrille und schiefe Töne sind normal im Prozess der schrittweisen politischen Wiederbelebung. Aber das macht nichts, denn in der Demokratie geht es nicht um Ästhetik, sondern um Bewegung, Dynamik und Veränderung. Jahrelang haben wir genau das vermisst und über Stillstand und Lähmung geklagt. Jetzt gilt der großartige Satz aus dem Filmklassiker Und täglich grüßt das Murmeltier: „Alles, was anders ist, ist gut.“

Dieser Text ist der Auftakt zur Kolumne „Schöne Aussicht“, die Matthias Heitmann alle zwei Wochen für Cicero schreiben wird. Darin will er dem überwiegend „alternativlosen“ und pessimistischen Blick auf unsere Welt eine andere, positivere Sicht der Dinge zur Seite zu stellen.

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