Machtwechsel bei türkischer Zeitung „Cumhuriyet“ - Der Abriss des letzten gallischen Dorfes

Auf Druck von Präsident Erdogan ist es bei der türkischen oppositionellen Zeitung „Cumhuriyet“ zu einem Machtwechsel gekommen. Unser Autor war Korrespondent für die Zeitung. Nun trauert er um eine der letzten kritischen Presse-Stimmen im Land

„Cumhuriyet“ stand für das Ringen um eine moderne Türkei. Der Kampf ging verloren / picture alliance
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Autoreninfo

Cem Sey, 54, ist ein freier Journalist, der für deutsch- und türkischsprachige Medien arbeitet. Für Medien wie Cumhuriyet, CNN Türk, Deutsche Welle und BBC war er als Korrespondent tätig.

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Cumhuriyet, am 7. September 2018. Der Leitartikel der Tageszeitung ist nicht aus dem Archiv. Nein, er ist von diesem Spätsommertag. Dennoch liest er sich wie ersten drohenden Bekanntmachungen der Militärjunta, die sich vor genau 38 Jahren in der Türkei an die Macht putschte. Ich lese: „Atatürks Cumhuriyet“ als Überschrift. Es folgt die Ankündigung, dass die angesehene Tageszeitung nun zu Staatsgründer Kemal Atatürks Grundprinzipien zurückkehrt. Angeblich seien sie in der Zeitung „eine Weile vergessen worden.“

Mit dieser Attitüde bin ich aufgewachsen. Montags und Freitags mussten wir stramm stehen, die Nationalhymne singen und Atatürks bisweilen belanglose Sprüche im Chor nachbeten. Wer nicht mitmachte, lief Gefahr, eine Ohrfeige zu kassieren. 1980, nach dem Militärputsch, wurden unterdrückerische Maßnahmen stets mit Atatürk begründet. Es ging so weit, dass Cumhuriyets damaliger Chefkolumnist und Kemalist (oder Atatürkist) der ersten Stunde, Nadir Nadi, mit der Veröffentlichung eines provokanten Buches, „Ich bin kein Kemalist!“ dagegen protestierte, wie Atatürk von diesem Regime pervers missbraucht wurde. 

Jetzt ein Sprachrohr der konservativen Kemalisten

Heute, 2018, instrumentalisieren wieder türkische Despoten die letzte noch übriggebliebene freie und respektierte oppositionelle Zeitung. Cumhuriyet ist seit vergangener Woche, mit Unterstützung Erdogans, zum Sprachrohr der konservativen Kemalisten gemacht worden. Der Leitartikel kündigt die Übernahme durch eine neue Chefredaktion an, und damit, zwischen den Zeilen, den Rausschmiss der bisherigen Macher. Kurz danach verabschieden sich zwei Dutzend der besten Journalistinnen und Kommentatoren. 

Cumhuriyet, für die ich einst aus Brüssel berichtete, kenne ich als seltenes türkisches Biotop, in dem Hardcore-Kemalisten mit entschiedenen Modernisten ringen, streiten und zusammenarbeiten. Und das ging so: Kemalisten, die „konservativen“ Produkte von Atatürks Türkei, waren für den Status quo. In ihren Augen gehörte Religion auf den Müllhaufen der Geschichte, Kurden und andere Minderheiten sollten sich gefälligst anpassen, oder wahlweise vom Staat ignoriert werden. Die Modernisten waren zwar ebenso Produkte der kemalistischen Republik, aber ohne überbordende Loyalität zu Atatürk. Sie brannten für Demokratie, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Der gemeinsame Nenner war wohl, dass sich kaum jemand ernsthaft islamisch fühlte. Das blieb dem Dunkelreich der islamischen Konservativen überlassen, die schon zu Zeiten des osmanischen Reiches gegen die westliche Moderne waren.

Verkörperung des Ringens um eine moderne Türkei

Cumhuriyet verkörperte in schizophrener Geschäftigkeit die Ufer des Bosporus, den Zwiespalt zwischen Gestern und Morgen. In den dreißiger Jahren feierte das Blatt den Faschismus in Italien und machte in Adolf Hitler einen echten Freund aus. 1980 dann schrieb die Zeitung gegen die Putschisten an, deckte skandalöse Folter auf und wurde in Folge mehrmals verboten. 

Das Blatt blieb auch in dem kurzen demokratischen Frühling der Türkei, zwischen 2001 und 2009, ein Schaufenster dieses Ringens in der Türkei. Während islamische Konservative mit Demokratie flirteten und das Land in einer Europa-Euphorie zu Höchstleistungen anstachelten und Modernisten mehr demokratische Reformen und die Orientierung zu einer EU-Mitgliedschaft propagierten, witterten „konservative“ Kemalisten schon den Verrat. Heute sind viele von ihnen dem Wahn erlegen, dass „der Westen“ mit einem geheimen Plan, dem „Großen Nahostprojekt“, die Türkei spalten und kolonialisieren will. Wie im ganzen Land, so wurden auch innerhalb von Cumhuriyet die Debatten immer heftiger.

Der Graben und das Misstrauen wuchsen. Aus dem Ringen um die Zukunft wurde Kampf, und zwar in der ganzen Türkei. Islamisten erkannten, dass eine demokratische Türkei keineswegs ihren Interessen dienen würde. Sie begannen, jeden liberal und demokratisch gesinnten Menschen argwöhnisch zu verfolgen. Nach dem bisher nicht wirklich aufgeklärten Putschversuch im Jahr 2016 begannen sie schließlich damit, jede irgendwie demokratisch gesinnte Opposition im Land zu verfolgen. Das betraf auch zahllose Journalisten. Sie flüchteten ins „letzte gallische Dorf“, zu Cumhuriyet

Der letzte Hort der Vernunft

Eine entschlossene Gruppe liberal denkender Kollegen und Kolleginnen, machten das Blatt zunehmend zum letzten Hort der Vernunft und damit des Widerstandes gegen Erdogans Kurs einer islamisch-nationalistischen Despotie. Die „Konservativen“ schrieben zwar ihre Kolumnen, doch zunehmend braute sich unter ihnen Unmut zusammen. Bis sie schließlich genau das taten, was sie ihren Widersachern vorwarfen: Nämlich den Schulterschluss mit den Islamisten zu suchen. Der Rest war einfach: Die Modernisten als Anhänger des bei Recep Tayip Erdogan verhassten islamischen Gülen-Gemeinde denunzieren. Oder als Unterstützer der PKK. Oder Handlanger des Westen. Oder einfach irgendetwas behaupten. 

Für Erdogan und seine Entourage war die Schlacht in und um Cumhuriyet ein Fest. Er zögerte nicht lange, die Klagen der Intriganten zu erhören und nutzte sie, um die letzte Hochburg der Opposition im Land auszuräuchern. Man ließ Ende 2016 zwölf Journalisten verhaften, angeblich weil sie mit Terroristen kollaborierten. Beweise? Aussagen der Cumhuriyet-Kamarilla. Die nach 17 Monaten Isolationshaft verhängten Hafturteile waren so haltlos wie lächerlich, so dass sie bald wieder auf freien Fuß gesetzt werden mussten. Ein Schmierentheater, an dessen Ende die Inkriminierten einfach wieder an ihre Schreibtische zurückkehrten und weiterschrieben.

Eine intellektuelle Niederlage

Unterdessen sorgte Erdogan emsig weiter für die Aushöhlung des laizistischen Staates. Richter, Amtsleiter und Beamte wurden ausgetauscht. Ein Archäologe wurde damit beauftragt mittels eines Gutachtens zu untersuchen, ob in Cumhuriyet alles mit rechten Dingen zuginge. Ich müsste laut lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Ignoranz ist brutal, schrieb schon Kurt Tucholsky. Und nicht immer siegt die Vernunft. 

Das Ende der liberalen und pluralistischen Cumhuriyet ist eine intellektuelle Niederlage. Der Verlust ist schwer zu beziffern. Ich merke, ich werde müde, wenn ich die Liste der Verluste erstelle. Die Türkei implodiert, nur merken die meisten es noch nicht. 

Cumhuriyet, bis vor kurzem noch ein täglicher Lichtblick intellektueller Aufrichtigkeit, ist nur noch ein weiterer Lautsprecher des Propagandagetöses eines mächtigen Teils der herrschenden Koalition am Bosporus. Die in ihr nun unbehelligt produzierenden „konservativen“ Kemalisten werden protegiert von ehemaligen Generälen, Juristen und Politikern. Eurasiaten werden die genannt, als hätten sie eine weitreichende Vision. Dabei ist ihr Ziel lediglich der Bruch mit Europa und eine neue Freundschaft mit Russland, Iran und China. Bitter für meine Generation ist, dass es Vertreter des „tiefen Staates“ sind, über den sich die Menschen in der Türkei bis zum kurzen Frühling der  Demokratie beklagten. Der „tiefe Staat“, das sind ominöse Netzwerke, die in der Geschichte der Türkischen Republik mit allen Mitteln dafür sorgten, dass sich nie etwas wirklich änderte. 

Gedankliche Bleiwüsten

Auch ich hatte einen kurzen Moment lang geglaubt der tiefe Staat sei untergegangen. Es sah so aus, als ob nach 2001 selbst islamische Konservative plötzlich die Demokratie und Europa entdeckten. Doch die Nemesis ist wieder da. Unheilvoller als vorher, kungeln Islamisten nun mit alten Feinden. Cumhuriyet, die schon immer auch ein Schaufenster der größten Irrungen türkischer Ideologen war, legt ab jetzt täglich beredt Zeugnis ab von den gedanklichen Bleiwüsten, die Erdogans Islamisten so produzieren, gemeinsam mit ihren neuen Freunden, den faschistischen Grauen Wölfen und den sich nach einer „aufgeklärten“ Diktatur sehnenden Eurasiaten.

Und ich werde mich, wie vermutlich ein Großteil der eineinhalb Millionen Leser der Online-Ausgabe, auf die Suche nach einer neuen raffinierten und aufrichtigen Publikation begeben.

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