Cumhuriyet - Das letzte Symbol der Republik

Die türkische Regierung hat Abgeordnete der prokurdischen Oppositionspartei HDP verhaften lassen. Zuvor waren Journalisten der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet festgenommen worden. Für Cem Sey, der selbst früher für die Zeitung gearbeitet hat, ist das Ende der türkischen Republik gekommen

Von wegen Pressefreiheit: Zeitungen wie Cumhuriyet sind dem Erdogan-Regime ein Dorn im Auge / picture alliance
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Autoreninfo

Cem Sey, 54, ist ein freier Journalist, der für deutsch- und türkischsprachige Medien arbeitet. Für Medien wie Cumhuriyet, CNN Türk, Deutsche Welle und BBC war er als Korrespondent tätig.

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Die Handflächen werden feucht. Beine und Füße machen fahrige, nervöse Bewegungen, als das Gehirn verstanden hat. Den alten, kompakten Mann, den drei sonnenbebrillte Zivilbeamte an beiden Armen zum Polizeiauto zerren, kenne ich doch? Das ist doch unser Haus!? Der Mann, der gerade abgeführt wird, und den die türkischen Fernsehbilder zeigen, ist mein Onkel Aydin Engin. Mein Magen verkrampft sich und ich weiß in dieser Sekunde: Dies ist das Ende der Türkischen Republik. Nach 93 Jahren und 6 Tagen ist Schluss mit der anatolischen Moderne. 

Engin, 78, gehörte in den vergangenen Monaten zu den Mitarbeitern und Autoren der Tageszeitung Cumhuriyet. Er hatte sie nach Can Dündars Verhaftung einige Wochen lang als Chefredakteur durch die Wirren dieses bizarren Militärputsches und seinen immer groteskeren Nachwehen geführt. Sein Nachfolger, Murat Sabuncu, war erst Anfang September Chefredakteur geworden. Auch er und der klarsichtige Kolumnist Kadri Gürsel wurden am vergangenen Freitag verhaftet.

Ein Kadaver der Meinungsfreiheit

Sie alle sind Kollegen aus verschiedenen Kapiteln meines Lebens. Sie sind nachdenkliche, kluge Journalisten. Vielleicht hätten die höflich-unbekümmerten Istanbuler Beamten auch mich morgens aus dem Bett geholt, wenn ich die Türkei nicht schon 1982 nach dem damaligen Militärputsch verlassen hätte. Für Cumhuriyet habe ich in den neunziger Jahren aus Brüssel berichtet. Ich bekam zwar kaum Geld, war aber irgendwie stolz, für die älteste Zeitung des Landes, ach was, für das Symbol der modernen Republik zu schreiben.

Heute ist sie nichts als eine schöne Leiche. Um den Kadaver der Meinungsfreiheit vor der Fledderei der islamistisch-nationalistischen Regierenden zu schützen, halten seit Tagen Tausende Leser vor dem Redaktionsgebäude Mahnwache. Wie lange werden sie durchhalten?

Die Beschuldigungen sind lächerlich

Es tut gut zu sehen, dass Angela Merkel endlich, zum ersten Mal, wirklich scharfe Worte findet für die Erdogan-Türkei. Verschiedene Botschafter aus EU-Ländern besuchen demonstrativ Cumhuriyet, internationale Journalistenorganisationen starten empörte Kampagnen. Doch meine Wut und Trauer wachsen jetzt erst recht, ich bin zum zweiten Mal in diesem Leben heimatlos. Für mich ist der Sommer 2016 die Chronik eines angekündigten Todes. 

Die Beschuldigungen der Staatsanwaltschaft gegen Engin und die Kollegen sind lächerlich. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, sich von „Terroristen“ unterstützt haben zu lassen. „Terroristen“ der kurdischen PKK und der islamistischen FETÖ. FETÖ ist längst ein infantiler Kampfbegriff für alles und jeden. Die Wort-Orks des Erdogan-Regimes haben ihn in dumpfbackiger Manier für die Gülen-Bewegung des islamistischen Predigers Fethullah Gülen geprägt. Er steht für „Fethullahs Terrororganisation“.

Eine unbeugsame demokratische Haltung

Dass es gar sinnlos ist, ihn ausgerechnet auf die krampfhaft säkulare Cumhuriyet anzuwenden, das mag in der Kampfzentrale Erdogans gar nicht mehr interessieren. Denn das Blatt ist just für seine laizistische Haltung bekannt. Und auch dafür, nie ein übergroßes Herz für die Kurden gezeigt zu haben. Was das Regime stört, ist aber in Wahrheit Cumhuriyets unbeugsame demokratische und ethisch aufrechte Haltung. Hier gab es keine Konzessionen zu erhandeln oder zu erpressen.

Die Brutalität des Regimes sehe ich, wenn ich die Augen schließe, überdeutlich in der höflich-heiteren Weise wie es einen alten Mann, Aydin Engin, abführt. Die staatliche Nachrichtenagentur Anatolien berichtete im Detail über die Vorwürfe. Die Zeitung habe bei den Berichten über FETÖ das Adjektiv „terroristisch“ nicht benutzt. Sie hätten nach dem Putschversuch in Juli von „Hexenjagd“ und von einer „unvollkommenen Demokratie“ geschrieben. Alles nicht erlaubt in der Erdogan-Türkei. Die Staatsanwaltschaft soll eine Zwischenüberschrift in den Berichten provoziert haben. Als Cumhuriyet über die wochenlangen sogenannten „Demokratiewachen“ berichtete, zu denen Erdogan die Bevölkerung aufgepeitscht hatte, schrieb die Zeitung, dass niemand unter den Demonstrierenden je von Demokratie gesprochen hätte.

Verzerrte Wahrheit wird durchgesetzt

Ich lese wie ein Süchtiger all diese Nachrichtenschnipsel. Nur um mich dann noch leerer zu fühlen. Cumhuriyet soll den Weg zum versuchten Militärputsch geebnet haben. Wie? Ganz einfach: Aydin Engin, zum Beispiel, habe in einer Kolumne über den Bürgerkrieg, der im kurdisch bewohnten Regionen des Landes tobt, geschrieben, „Frieden auf der Welt und was ist mit dem Land?“ Eine Anspielung auf den Atatürk-Spruch „Frieden auf der Welt, Frieden im Land“. Da einige Wochen später die Putschisten ihre gescheiterte Aktion „Operation Frieden im Land“ nannten, ist es laut Staatsanwaltschaft nachgewiesen, dass Engin von den Putschplänen wusste. Das ist wie Stroboskoplicht in einer Zelle. Man weiß gar nicht mehr, wo oben und unten ist.

Wenn ein Staatsanwalt so albern argumentiert, werden es alle merken, denkt man. Doch in der Türkei wird wahrscheinlich das Gegenteil passieren. Denn längst ist ein System entstanden, mit dem die Machthaber ihre verzerrte Version der Wahrheit durchsetzen.

Staatsmedien übernehmen das Ruder

Das hat viel mit den gleichgeschalteten Medien zu tun. Vor mehreren Jahren fing die Regierung an, einige Zeitungen und Sender durch staatliche Kontrollen finanziell in die Knie zu zwingen. Dann wurden diese an Geschäftsleute verkauft, die den Regierenden nahestehen. Diese Medien werden in der Türkei „Poolmedien“ genannt. Oft erscheinen die gleichen Geschichten in mehreren Zeitungen. Selbst die Überschriften sind dann identisch, wie aus einer Hand entworfen.

Sobald die Poolmedien finanziell stabilisiert waren, unter anderem mit massiver staatlicher Unterstützung, wurden die etablierten Zeitungen und Sender allmählich aus offiziellen Informationsquellen ausgeschlossen. Die Poolmedien wurden dagegen über alles informiert. Sogar Vernehmungsprotokolle wurden ihnen zur Verfügung gestellt. Natürlich ein ungesetzlicher Akt.

Die Enteignung steht bevor

Heute sind wir wohl in der letzten Phase angekommen. Jetzt werden die Medien, die das gesetzlose Vorgehen der Behörden nicht hinnehmen wollen, entweder enteignet oder schlicht verboten. Auch Cumhuriyet steht nun womöglich eine Enteignung bevor.

In einer solchen Gesellschaft ist die Arbeit von Zeitungen wie Cumhuriyet extrem schwierig. Cumhuriyet wagte es, den wiederaufflammenden Krieg gegen die PKK nach 2015 in Frage zu stellen – ein Verbrechen. Nicht nur das. Sie hat Bilddokumente veröffentlicht, die nachweisen, dass Ankara radikal-islamischen Gruppen im syrischen Bürgerkrieg Waffen liefert – ein großer Skandal.

Deshalb wurde der damalige Chefredakteur Can Dündar verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Aber Glück im Unglück: Das Gericht verneinte indirekt die Behauptung der Regierung und ihrer Medien, die Dokumente seien gefälscht. Die Haftstrafe bekam Dündar für das „Publizieren geheimer Informationen des Staates“. Darüber allerdings berichteten die Poolmedien nicht mehr.

Das Erwachen kommt zu spät

Selbst wenn breite Teile der türkischen Gesellschaft nicht mitbekommen, was oppositionelle Zeitungen berichten, sind Zeitungen wie Cumhuriyet ein Dorn im Auge des Erdogan-Regimes. Er versucht, sie mit allen Mitteln loszuwerden. Und durch die fast lückenlose Kontrolle der Medien beherrscht das Erdogan-Regime auch die Gedankenwelt der Bürger.

Von außen betrachtet, sehe ich keine Hoffnung. Die Bedingungen im Land werden sich nicht bald ändern. Ich mache mir auch keine Hoffnung über die Zukunft von Cumhuriyet. Die Aussichten sind sehr trüb. Erst jetzt merken einige Oppositionspolitiker, dass diese Aktion nichts anderes bedeutet, als ein Klopfen an ihrer eigenen Tür. Wahrscheinlich zu spät.

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