Neue Corona-Variante in Großbritannien - Kein Rosenkohl zu Weihnachten ist noch das kleinste Problem

Was der Brexit nicht geschafft hat, erledigt eine neue aggressive Variante des Coronavirus. Die Verbindung zwischen britischer Insel und dem Kontinent wurden am Montag weitgehend gekappt.

In Dover geht nichts mehr - zumindest nicht in Richtung Festland / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

So erreichen Sie Tessa Szyszkowitz:

Anzeige

Da eine neue aggressive Variante des Coronavirus in Großbritannien grassiert, haben Länder wie Deutschland, Belgien, Niederlande und Irland ihre Grenzen für Flüge und Züge geschlossen. Frankreich hat den Güterverkehr per Lastwagen für 48 Stunden ausgesetzt. Der Eurostar nach Paris und Brüssel – Symbol für die enge Verbindung der Briten mit dem Kontinent seit 1994 – ist vorerst eingestellt. Reisenden wird geraten, nicht mehr zu den englischen Häfen zu fahren – dort stauen sich frustrierte Autofahrer, die noch nach Frankreich ausreisen wollen. Dies war am Montag aber nicht mehr möglich. The Sun titelte schockiert: „Paria-Britannien – Chaos auf dem Flughafen Heathrow“.

Weihnachten 2020 entwickelte sich für die britische Bevölkerung und ihre Regierung innerhalb von wenigen Stunden zu einem Horrorszenario. Premierminister Boris Johnson hatte am Samstag wie schon so oft in den vergangenen Monaten den Briten eine drastische Kehrtwende bei den Corona-Maßnahmen mitteilen müssen: Weihnachten kann nun doch nicht im Kreise von drei Haushalten gefeiert werden, ganz im Gegenteil. Alle müssen zu Hause bleiben. Schuld daran sei ein mutiertes Coronavirus, das 70 Prozent ansteckender sei als die bisher bekannte Variante. 

Das Chaos folgte auf dem Fuß

„Das Coronavirus ist außer Kontrolle“, hatte Gesundheitsminister Matt Hancock am Sonntag erklärt. Die Erkrankung falle im Durchschnitt zwar weniger schwer aus. Im Vereinigten Königreich und auch in der Hauptstadt London aber haben sich die Infektionszahlen seit einer Woche bereits verdoppelt.

Die Reaktion der EU-Staaten kam postwendend: Grenzen zu, hieß es bei den meisten EU-Staaten, die selbst mit dem Coronavirus kämpfen. In Brüssel und in London fanden am Montagvormittag Notfalltreffen statt. Transportminister Grant Shapps zeigte sich „überrascht“ von der drastischen Antwort der europäischen Länder. 

Das Chaos am Hafen von Dover folgte auf dem Fuß. In den Tagen um Weihnachten sind pro Tag 10.000 Lastwagen zwischen Calais und Dover unterwegs. Obwohl die Polizei in Kent den Verkehr mit der „Operation Stack“ („Operation Stapel“) in eine gewisse Ordnung zu lenken versucht, stauen sich tausende Lastwagen mit europäischen Fahrern vor Dover. 

Der Rosenkohl-Engpass

Die Briten werden nicht nur ihre Familien nicht besuchen können, auch andere wichtige Zutaten für ein richtig britisches Weihnachten werden fehlen. Da die Franzosen Calais für Lastwagen aus Großbritannien für 48 Stunden geschlossen haben, werden viele Firmen ihre Güter nicht mehr Richtung England losschicken - aus Angst, dass ihre Fahrer und LKWs auf der Insel hängenbleiben. 

Viele frische Nahrungsmittel dürften schnell knapp werden. Rosenkohl zum Beispiel wird zwar auch in Großbritannien angebaut, doch ganz kann der Eigenbedarf nicht gedeckt werden. Zu Weihnachten verputzen die Briten jedes Jahr durchschnittlich vier Milliarden „Brussels Sprouts“. Aus den Niederlanden kommt Rosenkohl im Wert von 10 Millionen Euro ins Vereinigte Königreich. Insgesamt werden 80 Prozent der Nahrungsmittel von den Briten importiert. 26 Prozent davon kommen aus der EU. Auf so manchem britischen Weihnachtsmenü werden „Brussels Sprouts“ in diesem Jahr wohl bitter vermisst werden.

Allmählich spüren die Briten die Folgen des Brexit

So zeigt sich schnell die Schwachstelle der britischen Inselexistenz. Der Zugang für Import und Export von Gütern läuft über die Häfen. Vor allem das Nadelöhr Dover ist schnell überlastet. Schon in den vergangenen Tagen, bevor die Coronapandemie den Verkehr Richtung Festland lahmlegte, stauten sich die Güterlastwagen von den weißen Kliffen von Dover in die Grafschaft Kent hinein. 

Denn nicht nur Corona, auch der Brexit führt zu Chaos. Zum ersten Mal beginnen die Briten jetzt in diesen letzten Dezembertagen die Folgen ihres Austritts aus der EU zu spüren. Die Verhandlungen in Brüssel schleppen sich immer noch dahin, die jüngste Deadline lief am Sonntagabend ab. Aus Angst vor Engpässen bei der Nahrungsmittelversorgung versuchten britische Importeure in den vergangenen Tagen, noch möglichst große Lager anzulegen. 

Weiter Streit über die Fischrechte

Endet die Übergangsphase der EU-Mitgliedschaft nach 47 Jahren am 31. Dezember ohne Freihandelsabkommen zwischen EU und Großbritannien? Für die Briten wäre das, vor allem mitten in der Coronapandemie, ein schwerer Schlag. Viele britische Industrielle beknien die eigene Regierung, einer Verlängerung der Übergangsfrist zuzustimmen. Weder die Grenzen noch die Betriebe geschweige denn die Konsumenten sind auf einen harten Brexit vorbereitet. John Allen, Chef der Supermarktkette Tesco, befürchtet einen Preisanstieg um fünf Prozent auf viele importierte Waren, wenn es keinen Freihandelsvertrag mit der EU gibt, weil dann Zölle anfallen.

Boris Johnson aber sieht sich trotz seiner misslichen Lage immer noch nicht bereit, einem Kompromiss mit der EU zuzustimmen. Die britischen Verhandler streiten mit denen der EU weiter über die Neuverteilung der Fischrechte in britischen Hoheitsgewässern. Die Fischerei macht zwar nur 0,13 Prozent des britischen BIP aus, doch haben die englischen Fischer begeistert für den Brexit gestimmt, um künftig allein in ihren Küstengewässern fischen zu können. Sie wollen sich ihren Brexitbonus nicht nehmen lassen. 

Die EU wiederum hat große Bedenken, den Briten völlige Freiheit über ihre Gewässer zuzugestehen. Für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron steht ebenfalls viel auf dem Spiel. Französische und andere europäische Fischer haben seit Jahrhunderten vor der englischen Küste gefischt. Die Briten hatten am Höhepunkt des Brexitdramas damit gedroht, ihre Fischer mit dem Einsatz von Kriegschiffen der britischen Navy vor aufgebrachten französischen und belgischen Fischern zu schützen. 

Auch die Royals feiern nicht wie sonst

Trotz des Kanonendonners besteht immer noch die Hoffnung, dass die britische Regierung sich unter dem enormen Druck des Covidchaos dieser Tage doch noch zu einem Kompromiss bereit zeigt. Die Briten verkaufen schließlich den Großteil ihrer Fische in den EU-Binnenmarkt. Die EU sieht die Fischindustrie als Gesamtpaket. Eine Übergangsphase von einigen Jahren wird als möglicher Kompromiss angesehen, der den ideologisch überhöhten Konflikt entschärfen könnte. Die Verhandlungen mit Brüssel müssten zumindest mit einem prinzipiellen Einverständnis über ein Abkommen enden, dessen Ratifizierung zwar nicht mehr vor Ende des Jahres abgeschlossen, aber im kommenden Jahr fertiggestellt werden könnte.

Selbst die Queen weiß nicht mehr, was sie zu all dem sagen soll. Die traditionelle Weihnachtsansprache von Elizabeth II. wird am 25. Dezember ausgestrahlt, aber schon Anfang Dezember aufgenommen. In diesem Jahr musste die Aufzeichnung mehrfach verschoben werden. Denn knapp vor dem Weihnachtsfest ist noch immer nicht klar, was der Brexit und das mutierte Coronavirus für ihre Untertanen bedeuten. 

Auch privat ist für die gekrönten Häupter Großbritanniens Weihnachten 2020 ganz anders als sonst. Die Queen feiert in diesem Jahr nicht wie sonst immer in ihrem Privatsitz Sandringham House, sondern mit Prinz Philipp allein in der royalen Residenz Windsor Castle. Die 94-jährige Königin und ihr 99-jähriger Ehemann sind dort in Selbstisolation. Selbst für die Royals wurde Weihnachten im Kreise der Familie abgesagt.

Anzeige