Besserer Umgang mit Corona - Auf ins Utopia des „harten Lockdowns“ in Irland

Viele Kommentatoren verweisen auf die Erfolge des irischen Lockdowns, denen man nacheifern müsse. Andere halten diese Erfolge allein der Insellage geschuldet. Unser Autor Julien Reitzenstein lebt seit Jahren im irischen County Kerry und schreibt hier über die dortige Corona-Bekämpfung.

In Dublin kann man sich auch ein Leben nach Corona vorstellen / dpa
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Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Grüne Wiesen, ein hoher Himmel, eine milde Brise vom Atlantik und hinter dem Horizont die Neue Welt. Einer der wichtigsten Heiligen Irlands, Brendan der Seefahrer, soll im 6. Jahrhundert von Kerry aus dorthin gesegelt sein. Der Großraum Dublin, wo etwa 20 Prozent der rund 4,7 Millionen Bewohner der Republik Irland leben, scheint noch weiter entfernt. Dort gehen die Uhren anders als hier, in der Gaeltacht, den abgelegenen Gebieten, in denen die gälische Sprache noch lebendig ist. Deutsche Kommentatoren, Politiker und Virologen vermitteln den Eindruck, als seien die Entscheidungen und Erfolge bei der irischen Pandemiebekämpfung ein geeignetes Vorbild für das Vorgehen in Deutschland.

Aber es sind einige Punkte, wo Deutschland Irland bei der Pandemieeindämmung nicht nacheifern kann – genauer gesagt: nicht mehr. Denn eine Pandemie wird nicht von Regierungen eingedämmt, sondern von den Bürgern. Ob dies gelingt, hängt aber davon ab, wie die Regierung mit den Bürgern kommuniziert und wie sie die Bürger davon überzeugen kann, sich selbst zu Gunsten des Gemeinwohls zurückzunehmen. Von Beginn an – sowohl vor als auch nach dem Regierungswechsel – nahm die Regierung die Bürger mit.

Flammende Rede vom Regierungschef

Der St. Patrick’s Day ist der wichtigste und fröhlichste Feiertag in Irland. Niemand bleibt daheim. Doch in diesem Jahr waren die Straßen wie leergefegt. Statt ausgelassener Feiern hielt der damalige Regierungschef Leo Varadkar eine flammende und eindringliche Rede im Fernsehen. Er kündigte harte Einschnitte an und gab zu, dass niemand sagen könne, wie lange die Pandemie und damit die harte Zeit andauern würde. So sprach er die Kinder direkt an, die noch ihren Enkeln von diesen Ereignissen erzählen würden, ebenso wandte er sich an die Unternehmer, die sich ungeahnten Herausforderungen stellen müssten.

Man glaubte Varadkar, dass er einschätzen konnte, was das dünne irische Gesundheitssystem insgesamt aushalten kann und was das medizinische Personal. Kurz nach der Rede begann er deshalb wieder einen Tag in der Woche im Krankenhaus zu arbeiten. Varadkar machte in seiner Rede deutlich, dass die Pandemie nur von der Gemeinschaft bewältigt werden kann und nicht von Individualinteressen, Virologen oder Politikern. Vor allem aber nutzte er positiv belege Begriffe – fern von jedem Katastrophen-Alarmismus. Und das, ohne die Situation schön zu reden!

Während in Deutschland die Alten in „Isolation“ sollten, riet man ihnen in Irland zu Cocooning. Jeder Haushalt erhielt per Post zur Information eine Tabelle, die auch im Internet und an vielen Plakatwänden einzusehen war. Es wurden in fünf Spalten fünf Pandemielevel definiert. Und in neun Zeilen neun Lebensbereiche – von öffentlichem Nahverkehr über Hochzeiten und Kirchenbesuche bis Gastronomie – als Übersicht der möglichen Maßnahmen. Diese wurden von verschiedenen Zeitungen, wie der Irish Times noch übersichtlicher gestaltet. Verschärft sich das Infektionsgeschehen, ruft die Regierung ein bestimmtes Level aus – und alle Iren wissen, was erlaubt ist und was nicht.

 

In Deutschland wurden die Weichen von Anfang an anders gestellt. Das begann mit der Kommunikation der Bundesregierung, ging über die unterschiedlichen Meinungen der Länder bis hin zu regierungsamtlich mit Relevanz versehenen Wissenschaftlern, die allerdings nicht mit einer Stimme sprachen. Und es endete mit der medialen Verbreitung seitenlanger Texte darüber, was erlaubt ist und was nicht und in welchem Bundesland welche Ausnahmen und welche Einschränkungen hinzukommen. Kurzum: Hätte Winston Churchill 1940 in der „Dunkelsten Stunde“ des Empire eine Krisenkommunikation von der Qualität der gegenwärtig in Deutschland Regierenden geliefert, gäbe es möglicherweise heute in London einen Reichskanzler Square.

Klare Regeln

Nun aber wurden die Strände, Spielplätze und Parks geschlossen und die wenigen Polizisten im ländlichen Irland waren aufgrund der Kontrollen plötzlich weitaus sichtbarer als sonst. Regulär durfte man sich nicht weiter als 2.000 Meter von seiner Wohnung entfernen. Die meisten Menschen blieben auf ihrem Grundstück. Im zweiten Lockdown vom 21. Oktober bis 2. Dezember durfte man das Grundstück immerhin im Umkreis von fünf Kilometern verlassen. In Berlin halten sich in solch einem Radius Zehntausende auf, in Kerry und in Relation deutlich weniger Menschen. Die irische Regierung hatte sehr schnell verstanden, dass die Schließung der Schulen im ersten Lockdown die Menschen belastete. Das mag auch an den vielen kinderreichen Familien liegen.

Obwohl Irland immer noch das Armenhaus Westeuropas ist und Kerry das zweitärmste der 26 Counties des Landes, wurden rasch Konzepte entwickelt und umgesetzt. Der öffentliche Nahverkehr limitierte die Anzahl der belegbaren Sitzplätze oft bis auf ein Viertel. Auch Schulbusse limitierten Belegungen und jedes Kind hatte jeden Tag denselben Sitzplatz. Nur Geschwisterkinder durften nebeneinandersitzen. Schulbeginn und Pausenzeiten wurden entzerrt. Auf den Schulhöfen wurden mit einfachen Mitteln Bereiche für jede Klasse auf den Asphalt gepinselt, in den Gängen Einbahnstraßensysteme entwickelt, aber auch Klassenzimmer umgebaut. Kinder begegneten kaum Mitschülern aus anderen Klassen. Da es weitgehend verboten war, sich mit anderen daheim zu treffen, waren Sporttrainings sehr eingeschränkt. Sie fanden ausschließlich draußen statt und auch wieder in kleinen Gruppen, bei denen mindestens ein Erwachsener darauf achtete, Abstandsregeln einzuhalten. Größere Massenausbrüche und Schulschließungen waren daraufhin kaum zu verzeichnen.

„Shop local“

Irland leistete sich keine üppigen Subventionen in deutscher Höhe. Stattdessen wurde „Shop local“ zur regierungsamtlich geförderten Devise. Schon vor der Krise stand auf jedem Kassenbon im Supermarkt separat ausgewiesen, wieviel Euro vom Zahlungsbetrag auf Waren aus Irland entfiel. Auf dem Land kennt jeder die Ladeninhaber. Vielen Iren ist es fremd, ein neues Fahrrad via Amazon aus Polen oder China zu kaufen, statt für ein paar Euro mehr beim lokalen Händler, der bei allen Garantie- und Reparaturfragen immer da ist. Im Sommer zwischen den Lockdowns bekamen alle irischen Haushalte zur Unterstützung der Tourismusindustrie von der Regierung Gutscheine, um im eigenen Land Urlaub zu machen. Die staatliche Postgesellschaft sandte Postkartenvordrucke, die man seinen Lieben ohne Porto senden konnte. Ein Hauch von „wir stehen das gemeinsam durch“ lag über dem Land. Und das kam gut an.

Denn im ländlichen Irland kann man nur als Teil der Gemeinschaft leben. In Deutschland kursiert das Witzwort, dass an alle gedacht sei, wenn jeder an sich selbst denke. Doch im ländlichen Irland ohne gegenseitige Rücksicht nichts als die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, funktioniert nicht. Weder auf den häufig einspurigen Straßen der Grünen Insel noch in der Pflegesituation. Viele Ältere leben bis zur letzten Stunde in ihrem Haus. Die oft zahlreichen Kinder wechseln einander mit täglichen Pflegebesuchen ab.

Irische Leitkultur

Wer meinte, aus egoistischem Interesse eine Regel außer Kraft zu setzen und zu Hause eine Party zu feiern, wäre ein Risiko für die ganze Nachbarschaft. Solche Ereignisse waren außerhalb des studentischen Milieus größer Städte entsprechend selten. Das mag viel mit der irischen Mentalität und dem Sinn für das Gemeinwohl zu tun haben. Nach einer aktuellen Statistik verbringen Iren im Durchschnitt doppelt so viel Zeit pro Tag mit sozialem Engagement und Pflege als die Deutschen. Entgegen mancher Vermutung hat das nichts dieser irischen Mentalität zu tun, sondern eher mit der Leitkultur.

In einigen Counties an der Westküste gehören beispielsweise die Deutschen zu den größten ethnischen Minderheiten, doch auch Balten, Polen, Ungarn und Asiaten sind nicht selten in den Nachbarschaften beheimatet. Die allermeisten wissen die gegenseitige Fürsorge über alle kulturellen Grenzen hinweg hoch zu schätzen. Man grüßt einander auf der Straße, ob im Auto oder zu Fuß. Für eine kurze Plauderei ist immer Zeit. Auch wenn manches Gespräch nur oberflächlich sein dürfte, Viele alte Menschen hier freuen sich über einige freundliche Worte von Bekannten oder Fremden zu erhalten, über ein Lächeln oder einfach nur darüber, wahrgenommen zu werden.

Traditionelles Hochtechnologieland

Während des ersten Lockdowns öffneten viele Läden nach der morgendlichen Reinigung erst einmal einige Stunden für Senioren. Bald darauf richteten sie Lieferdienste ein. Manche Senioren berichten belustigt, dass es neulich unlängst einen Tag gegeben habe, an dem weniger als drei Menschen Hilfe für den Garten oder beim Einkaufen angeboten haben. Doch neben der Mentalität und neben dem traditionellen Sinn für Gemeinschaft und Gemeinwohl ist das landwirtschaftlich geprägte Irland in vielen Bereichen auch bereits ein Hochtechnologieland. Das hat sich in der Krise ausgezahlt.

Während in Deutschland jeden Tag verschiedenste Wissenschaftler und Politiker verschiedenste Zahlen herausposaunten, oft ohne Bezugsgrößen, und der Alarmismus immer lauter wurde, begannen auch die Datenschutzdebatten um die deutsche Corona-App. Sie zeigt ja auf den ersten Blick nur an, ob Risikobegegnungen stattfanden und bietet eine Empfangsmöglichkeit für Testergebnisse. Auch Irland hat eine Corona-App, heruntergeladen von etwa einem Drittel der erwachsenen Bevölkerung. Dort sieht man nicht nur das Infektionsgeschehen, Bettenbelegungen und Intensivbettenbelegungen, sondern auch, sortiert nach County und darin wieder nach Wahlbezirken, die Zahlen der akuten Infektionen, der geheilten und der verstorbenen Patienten.

Die irische App überzeugt im Vergleich zur deutschen durch Transparenz, fühlbare Bezüge zum eigenen geographischen Umfeld, sie erlaubt tagesaktuelle und faktenbasierte eigene Interpretationen, da die Bezugsgrößen sichtbar sind. Möglicherweise gibt es deshalb im ländlichen Irland vergleichsweise wenige militante Schwurbler, die mit den deutschen Querdenkern vergleichbar sind. Diese multifunktionale App hat die Regierung rund 600.000 Euro gekostet. Die deutsche App hundert Mal so viel, rund 60 Millionen Euro, bietet aber nicht hundert Mal so viel Funktionen und Informationen, sondern nur einen Bruchteil davon.

Es ist nicht nur die Insellage

Positive, offene und wenig alarmistische Regierungskommunikation, ein hohes Maß an Eigenverantwortung, wo es ging, klare Regeln, wo es nötig war, Überwachung der Einhaltung durch die Polizei und noch weit mehr durch die Gemeinschaft, die aufeinander achtgibt, moderne Technik sowie kurzfristig entwickelte und umgesetzte klare Konzepte für Schulen, Geschäfte, Kneipen ermöglichten weite Teile des Erfolges im ländlichen Irland.

Die Idee, dass man in Schulen nur gut lüften müsse und die Schüler, die sich auf dem Weg zur Schule in volle Busse quetschen, von der Regierung zu Kniebeuge und Klatschen angehalten werden, dürften die meisten irischen Landbewohner als verrückte Idee des „reichen Landes“ zwischen Rügen und Zugspitze belächeln. Am meisten dürfte aber die derzeitige deutsche Grille für Erheiterung sorgen, dass der Pandemieerfolg Irlands auf seiner Insellage beruhe – Inseln könne man ja besser abriegeln. Denn es ist wissenschaftlich gesichert, dass enge Kontakte zwischen Menschen weit mehr zum Infektionsgeschehen beitragen als Menschen die über Grenzen fahren und danach in Quarantäne gehen.

Während beider Lockdowns hingegen konnte man problemlos nach Irland und wieder zurückfliegen und die Fähren änderten ihren Fahrplan nicht. Aber man hielt Abstand und gab aufeinander acht. Der Erfolg des irischen Lockdowns beruht also auf vielen Voraussetzungen, die eher wenig auf der Insellage beruhen und dennoch kaum mit den Voraussetzungen in Deutschland vergleichbar sind – vor allem auf Lockdown-Regeln, die klarer, aber auch härter sind als in Deutschland. Wer trotzdem behauptet, mit dem derzeitigen, sehr viel weicheren Lockdown in Deutschland dieselben Erfolge zu erreichen, verspricht ist entweder naiv oder manipulativ.

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