Chinas Geiseldiplomatie - Bauernopfer im Streit zwischen den USA und China

In einem Prozess um mutmaßliche Spionage wurde Michael Spavor von einem chinesischen Gericht zu elf Jahren Haft verurteilt. Damit wurde der kanadische Geschäftsmann zum Bauernopfer eines geopolitischen Streits zwischen Washington und Peking.

Der Kanadier Michael Spavor (r) und der Basketballer Dennis Rodman (l) nach einem Treffen mit Kim Jong-Un in 2013 / dpa
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Fabian Kretschmer ist freier Journalist mit Fokus auf Ostasien. In der Vergangenheit hat er als Südkorea-Korrespondent in Seoul gearbeitet, mittlerweile schreibt er aus Peking.

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Um halb zehn tauchten die ersten Polizisten vor der Haftanstalt in Dandong auf, um rotweiße Barrikadengitter vor dem Haupteingang aufzustellen. Im Gegensatz zu den abgeschirmten Prozessterminen durfte Kanadas Botschafter Dominic Barton diesmal jedoch das Gerichtsgebäude zur Urteilsverkündung betreten. Was der Diplomat von den Richtern zu hören bekam, sorgte dennoch für schieres Entsetzen: Der seit über zwei Jahren inhaftierte Unternehmer Michael Spavor wurde wegen „Spionage und der Weitergabe von Staatsgeheimnissen“ zu insgesamt elf Jahren Gefängnis verurteilt. „Wir kritisieren die Entscheidung aufs Schärfste“, kommentierte Botschafter Barton nur wenige Minuten später per Video-Schalte.

Außer Spavor zwei weitere Kanadier in China vor Gericht

Insgesamt drei Schuldsprüche gegen kanadische Staatsbürger werden diese Woche in der Volksrepublik China erwartet. Alle drei Prozesse spiegeln nicht nur die erodierenden bilateralen Beziehungen zwischen den zwei Staaten wider, sondern belegen auch, dass Chinas Staatsführung nicht vor mafiöser Geiseldiplomatie zurückschreckt, um auf dem internationalen Parkett seine politischen Interessen durchzusetzen. Somit sind die jüngsten Ereignisse nicht zuletzt auch eine Warnbotschaft an Europa.

Die angeblichen Beweise im Spionage-Prozess gegen Spavor, der im nordostchinesischen Dandong eine Agentur für touristischen und kulturellen Austausch mit Nordkorea betrieb, machte das Gericht erst heute öffentlich: Es bezieht sich auf Fotoaufnahmen, die der 43-Jährige von Flughäfen und Militärbasen aufgenommen haben soll.

Dass diese gegen Chinas nationale Sicherheit verstoßen sollen, ist willkürlich wie gleichzeitig systemisch: Die Volksrepublik China fasst nämlich nationale Sicherheit wesentlich umfassender auf als etwa westliche Demokratien: So können nach Ansicht der Kommunistischen Partei auch Leitartikel, die sich für ein unabhängiges Taiwan aussprechen, die nationale Sicherheit bedrohen. Oder internationale Firmen, die etwa aus Sorge um Menschenrechtsverbrechen die Region Xinjiang in ihrer Lieferkette boykottieren – weil sie das Land in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung behindern. „Das Ziel ist es, Angriffe auf die Stabilität des Systems zu bekämpfen“, erklärte jüngst die Sinologin Helena Legarda von der Berliner Denkfabrik Merics in einem Podcast.
 
Der heute verurteilte Spavor soll laut Gericht als Informant für den ehemaligen kanadischen Diplomaten Michael Kovrig tätig gewesen sein, der für die NGO „International Crisis Group“ gearbeitet hat. Auch Kovrig wartet diese Woche auf sein Urteil. Bei einer statistischen Schuldspruchrate von etwa 99 Prozent in China wird er wohl ebenfalls eine mehrjährige Haftstrafe zu erwarten haben. „Wir haben von Anfang an behauptet, dass Michael Spavor und Michael Kovrig willkürlich festgehalten werden und fordern weiterhin ihre Freilassung“, sagt Dominic Barton. Und fügt an, was Beobachter für die Krux in der Angelegenheit halten: Die Urteile in China würden nicht zufällig genau jetzt gefällt werden, schließlich wird in Kanada schon bald über den Fall von Meng Wanzhou entschieden, der Tochter des Huawei-Gründers Ren Zhengfei.

Die Person, um die es China eigentlich geht, ist in Kanada

Ein Rückblick: Im Dezember 2018 haben kanadische Sicherheitskräfte die damalige Finanzchefin des Netzwerkausrüsters wegen eines amerikanischen Auslieferungsgesuchs festgenommen. Die USA werfen ihr vor, gegen die bilateralen Sanktionen gegen den Iran verstoßen zu haben.

Dass die zwei Fälle miteinander verzahnt sind, legt allein schon die Zeitleiste der Ereignisse nahe: Nur wenige Tage nach Mengs Festnahme wurden „die zwei Michaels“ in China verhaftet. Und wiederum drei Wochen später verschärfte ein chinesisches Gericht die 15-jährige Haftstrafe gegen den kanadischen Drogenschmuggler Robert Schellenberg in eine Todesstrafe, die am Dienstag schließlich bestätigt wurde.

„Wenn man nicht den Anschein erwecken will, dass die Strafverfolgung politisch wirkt, dann sollte man nicht die Verurteilung von drei verschiedenen Kanadier genau in der Woche ansetzen, in der der Fall Meng Wenzhou zu Ende geht und die kanadischen Wahlen anstehen“, kommentiert der Journalist Paul Mazur von der New York Times, der bis zu seiner Ausweisung im letzten Jahr in China gearbeitet hat. 

Internationale Beobachter haben wenig Zweifel, dass Chinas Staatsführung die Kanadier als Verhandlungsmasse betrachtet, um eine Auslieferung an Meng Wanzhou an die USA zu verhindern. Bereits 2018 warnte Hu Xijin, Chefredakteur der Parteieigenen Global Times, in einem Kommentar, dass Chinas Rache auf eine mögliche Auslieferung Mengs „deutlich schlimmer ausfallen wird als einen Kanadier zu inhaftieren“.

Tatsächlich erscheint auch die auf Druck Washingtons initiierte Festnahme der Chinesin ethisch fragwürdig. Doch während die Tochter des Huawei-Gründers nach einer Millionen-Kaution in ihrer Luxusvilla lebt, Privatunterricht nimmt und in Nobel-Restaurants essen geht, harrten Kovrig und Spavor praktisch ohne Kontakt zur Außenwelt in überfüllten Gefängniszellen aus. Dort hatten sie nicht nur sehr eingeschränkten Zugriff auf diplomatischen und rechtlichen Beistand, sondern erfuhren auch erst im vorigen Herbst von der globalen Corona-Pandemie. Michael Kovrig, der während seiner Haftzeit Vater wurde, hat seine Tochter bis heute nicht sehen können.

Spavors Vita verrät Chinas Willkür

Wie willkürlich die Anschuldigungen gegen die zwei sind, wird am Beispiel Spavor deutlich: Der extrovertierte Kanadier reiste 1997 erstmals nach Südkorea, wo er per Zufall einen Nebenjob als Radiomoderator fand, als Statist in einem K-Pop-Video auftrat und schließlich eine Marketing-Anstellung bei der koreanischen Tourismusbehörde bekam.

Sein Erweckungserlebnis folgte offenbar 2001, als er mit der Reiseagentur „Koryo Tours“ für ein paar Tage die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang besuchte. Eines Nachts, so schildert es Spavor in einem alten Interview von vor zehn Jahren, habe er aus seinem Hotelzimmer auf die fast vollkommen finstere Stadt geblickt. „Und da hat es mich einfach gepackt. Ich dachte damals, ich will hier leben. Ich will erleben, was diese Leute erleben“, sagte er.

2005 ergab sich die Gelegenheit, für die NGO „Global Aid Network“ ein halbes Jahr lang als Englisch- und Informatiklehrer für Kunststudenten in Pjöngjang zu arbeiten. „Es war wahrscheinlich die beste Zeit meines Lebens“, erinnert er sich. Doch schon bald wurde die NGO des Landes verwiesen, und Spavor musste andere Wege finden, um seinen Traum zu verwirklichen.

Er gründete schließlich entlang der chinesisch-nordkoreanischen Grenze eine Agentur, um Kulturprojekte mit dem abgeschlossenen Land zu ermöglichen. Auch wenn Spavor künftig wirtschaftlich am Existenzminimum lebte, verwirklichte er doch seinen Traum: Alle paar Monate bereiste er Nordkorea; auch von seinem Apartment in Dandong konnte er über den Yalu-Grenzfluss in sein Sehnsuchtsland blicken. „Die Leute könnten denken, dass ich nach Nordkorea gehen will, weil es mysteriös und abenteuerlich ist. Aber die Wahrheit ist, ich habe mich in das nordkoreanische Volk verliebt“, sagte Spavor einst.
 
An China hingegen hegte er kein sonderliches Interesse, politisch schon gar nicht. Das Land war lediglich Mittel zum Zweck, um seinen Zugang zu Nordkorea aufrecht zu erhalten. Dass er angeblich als Spion engagiert wurde, scheint umso absurder, als er mit seiner exzentrischen Paradiesvogel-Art das exakte Gegenteil von unauffällig war.

Bei seinen regelmäßigen Aufhalten in Südkoreas Hauptstadt Seoul fiel der Lebemann durch seine extrovertierte Art auf: Zu vorgerückter Stunde versuchte Spavor stets Aufmerksamkeit zu erhaschen, indem er in Bars zur Verwunderung aller Gäste sein fließendes Koreanisch mit starkem nordkoreanischem Einschlag sprach, oder sein Bier mit nordkoreanischen Geldscheinen zahlte. Nicht selten teilte er Anekdoten, wie er Basketball-Star Denis Rodman während eines Sportprojekts nach Nordkorea begleitete, und wie sie gemeinsam mit dem dortigen Machthaber Kim Jong Un einen feuchtfröhlichen Nachmittag in dessen Sommervilla verbracht hätten.

Nun, nach seiner Urteilsverkündung, ließ Spavor drei knappe Botschaften an die Öffentlichkeit ausrichten: „Danke für die Unterstützung, ich bin guten Mutes und ich möchte nach Hause.“ Dass dieser Wunsch bald in Erfüllung geht, hängt wohl vor allem davon ab, wie das Auslieferungsurteil gegen Meng Wanzhou in Kanada ausfallen wird.

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