Weltmacht China - Warum Chinesen so viel arbeiten und uns für faul halten

Chinas Diktatur treibt eine hocheffiziente Wirtschaft an. Gehört diesem System das 21. Jahrhundert? Thomas Reichart ist überzeugt: Das Feuer Chinas wird uns einheizen – daran wird weder die deutsche Selbstgefälligkeit noch unser Fatalismus etwas ändern. Ein Buchauszug.

Leben, um zu arbeiten: Frauen in einer chinesischen Fabrik / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Reichart leitete von 2014 bis 2019 das ZDF-Studio Ostasien in Peking. Derzeit berichtet er aus dem Berliner Hauptstadtstudio über Außen- und Sicherheitspolitik. 

So erreichen Sie Thomas Reichart:

Anzeige

Am Tag, als ich zu begreifen begann, was Chinesen leisten können, waren wir gar nicht in China. Wir drehten Ende 2018 in Pakistan, auf dem Karakorum Highway, der eines Tages Kaschgar in Chinas Westen mit Gwadar, der pakistanischen Hafenstadt am Arabischen Meer, verbinden soll. Der Weg führt über das Dach der Welt, vorbei an den Bergriesen des Himalaya und Karakorum. Es ist wahrscheinlich eines der gefährlichsten Bauprojekte der Welt. Ständig reißen Erdrutsch und Steinschlag die frisch gebaute Straße wieder auseinander. Und es drohen Anschläge von islamistischen Terrorgruppen.

Megaprojekt Karakorum Highway: Keine Pausen, keinen Tag frei

Wang Hui war der Chefingenieur des Mega-Bauprojekts. Er war erst Anfang 40, aber seit zehn Jahren baute er schon an dieser Straße. Seine Haare waren darüber grau geworden, der Blick aus der eckigen Brille müde. „Für uns ist das ein Rennen gegen die Zeit“, sagte Wang Hui. „Wir haben fast keine Pausen, arbeiten von morgens früh bis abends um elf. Und haben keinen Tag frei.“ Dann musste er schon wieder los, raus zu einer der vielen Baustellen.

In einem Tunnel stand eine Sprengung an. Düster war es dort, die Luft staubig und feucht. Am Ende des Tunnels standen auf einem Gerüst pakistanische Arbeiter, die auf drei Ebenen die Sprenglöcher vorbereiteten. Immer zwei hantierten mit einem der Gesteinsbohrer, deren Lärm uns fast umwarf. Aber keiner trug hier Gehörschutz. Vielleicht weil das ihre geringste Sorge war. Das Gestein war nicht stabil. Ständig drohte etwas einzustürzen. Als wir wieder draußen waren, die Atemmasken ablegten und die Helme, seufzte Wang Hui: „Ich kann oft nicht schlafen. Besonders wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Dann kann nicht nur ich nicht schlafen, sondern auch alle auf der Baustelle und unsere Chefs in Peking.“

Kulinarische Trostpflaster

Am Abend saßen wir mit ihm in der Festung, einem umgebauten Hotel, das er und der Rest des Managements als Arbeits- und Schlafplatz nutzten. Es war wie ein Gefängnis. Wang Hui durfte es nicht alleine verlassen, immer musste eine Eskorte des pakistanischen Militärs dabei sein. Alles andere wäre zu gefährlich gewesen. Zum Essen fuhr der Koch aus China alles auf, was er und seine Kollegen vermissten. Knusprig frittierten Fisch mit süßsaurer Soße, Schweinebauch mit Sojasauce, Gemüse aus dem Wok, scharfen Tofu. Immer noch ein Gericht kam dazu. Als ginge es nicht allein ums Essen, sondern vor allem darum, das Heimweh zu kurieren. Sieben Tage die Woche arbeiteten sie alle, und nur einmal im Jahr hatten sie einen Monat frei. Dann fuhren sie heim, um ihre Familie zu sehen. Sie wirkten erschöpft und einsam. Seit über zehn Jahren bauten sie an diesem Highway. Von oben am Kunjerab bis herunter nach Manserah. Sie hatten damit angefangen, als sie gerade aus der Uni kamen, es war ihr erster Job. Und sie waren an ihn gebunden, kamen nicht davon los.

Perspektive Afrika

„Was macht ihr eigentlich, wenn ihr mit dem Highway fertig seid?“, fragte ich in die Runde. „Wahrscheinlich werden sie uns nach Afrika schicken“, murmelte ein Kollege Wang Huis. „In Afrika haben sie viele Projekte.“ Er seufzte: „Ausgerechnet Afrika.“
Es war still in diesem Moment an der großen runden Tafel. Noch weiter weg, noch mehr Heimweh. Das war die Perspektive. Wang Hui pickte sich eine in Knoblauch eingelegte Gurke heraus. Dann sagte er: „Eines Tages werde ich meinem Sohn und meiner Tochter zeigen, wo ich hier gekämpft habe. Ich habe diese Straße gebaut. Und ich werde dann sehr stolz sein.“ Die anderen nickten und schienen erleichtert. Vielleicht hatten all die Härten und Entbehrungen, die sie seit Jahren ertrugen, doch einen Sinn.

„Der Mann, der den Berg abtrug, war derselbe, der anfing, kleine Steine wegzutragen“

Konfuzius sagte: „Der Mann, der den Berg abtrug, war derselbe, der anfing, kleine Steine wegzutragen.“ Ich werde immer wieder an diesen Satz erinnert: auf Baustellen im Nirgendwo, in schwülheißen Fabrikhallen in Südchina, bei Start-ups im Pekinger Silicon Valley. Chinesen arbeiten viel, viel mehr, als wir uns das vorstellen können. Millionen sehen ihre Familien nur einmal im Jahr für ein paar Tage, weil sie den Rest der Zeit weit entfernt arbeiten, sechs, sieben Tage die Woche. Das ist nicht wie in Amerika ein quasi-religiöser Arbeitsprotestantismus, sondern ein Hunger nach Aufstieg und Reichtum.
Chinesen halten uns für faul. Und im Vergleich zu ihnen sind wir das auch. In China hat man zwischen fünf und 15 Tagen im Jahr Urlaub, in Deutschland meistens um die 30. Eine Untersuchung der Chinese Academy of Social Sciences zeigte im Jahr 2018, dass Chinesen im Schnitt pro Tag 2,27 Stunden Freizeit haben.

„996“ als Schlüssel zum Erfolg

In Deutschland, Großbritannien oder den USA sind es im Vergleich fast doppelt so viele. In den meisten Branchen in China ist eine 40-Stunden-Woche die klare Ausnahme. In den Fabriken in Südchina zum Beispiel sind eher Zwölf-Stunden-Tage und mehr üblich. In Chinas Tech-Industrie hat der Arbeitsrhythmus sogar seinen eigenen Code: 996. Das bedeutet, dass der Tag um neun Uhr beginnt und um neun Uhr abends endet, an sechs Tagen die Woche. Die Bosse wie Alibabas Jack Ma finden das toll. „Ich persönlich halte 996 für einen großen Segen“, erklärte Ma im Frühjahr 2019 gegenüber der Belegschaft. Wie wolle man sonst erfolgreich sein? Viele seiner Mitarbeiter waren offenbar anderer Meinung. Mas Lob der Ausbeutung sorgte für erboste Kommentare in den sozialen Medien. Denn die Folgen von 996 sind in China die gleichen wie überall sonst auf der Welt – Burnout, Depressionen, Herzinfarkte.

Niedrige Suizidraten

Auch Chinesen werden krank von zu viel Arbeit, aber wir wissen viel weniger darüber, weil vieles dazu verschwiegen wird. Eine Untersuchung zur psychischen Gesundheit unter rund 400 Tech-Arbeitern kam 2018 zu dem Ergebnis, dass sich rund die Hälfte erschöpft fühlte. Viele berichteten von Sehproblemen, Konzentrationsstörungen, Nacken- und Rückenschmerzen. Und das scheinen eher noch die weniger gravierenden Symptome zu sein.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem
neuerschienenen Buch
Das Feuer
des Drachen
von Thomas Reichart,
dtv, 2020, 20,00 Euro. Hier können
Sie das Buch bestellen

Aber das Bild ist nicht so eindeutig. Angesichts der enormen Belastungen könnte man zum Beispiel davon ausgehen, dass in Chinas Turbogesellschaft auch die Suizidrate hoch ist. So wie das in Japan und Südkorea der Fall ist, wo ein vergleichbares Arbeitspensum die Norm ist. Doch das Gegenteil ist der Fall: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat China nicht nur im Vergleich zu seinen Nachbarn eine deutlich niedrigere Suizidrate, sondern auch gegenüber Deutschland. In China lag sie 2016 bei 9,7 pro 100 000 Einwohnern, in Deutschland bei 13,6, in Japan bei 18,5, in Südkorea sogar bei 26,9.

Wie immer muss man bei Statistiken aus China Vorsicht walten lassen. Aber die Unterschiede sind so eklatant, dass sie zumindest einen großen Trend zeigen. Ganz offensichtlich prägen die Hoffnung auf Aufstieg, die Erfolgsgeschichten derer, die es geschafft haben, so sehr das Bild von sich selbst und dem eigenen Leben, dass Belastungen anders wahrgenommen werden.

Deutscher Fatalismus

Harte Arbeit gilt deshalb per se zunächst als etwas Positives. Ich erinnere mich an eine in Bremen im Fach Soziologie promovierte Chinesin, die auf ihre Forschungsaufträge verzichtete und nach Shenzhen ging, um dort ein eigenes Start-up zu gründen. „In Deutschland sitzen die Leute werktags um zehn noch im Café und trinken Latte Macchiato“, sagte sie, „hier in China kann ich viel mehr erreichen.“

Natürlich ist nicht alles effektiv, nicht sofort perfekt. Aber die Tatsache, dass es einfach gemacht wird, dass jeden Tag Hunderte Millionen Menschen kleine Steine wegtragen, das hat in den letzten 40 Jahren in China Berge versetzt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass das bei uns in Deutschland zu einer Art Fatalismus führt, nach dem Motto: Was können wir schon gegen die 1,4 Milliarden Chinesen ausrichten? Als wäre der wirtschaftliche Wettstreit eine Art Fußballspiel, bei dem 83 Millionen Deutsche in erschreckender Unterzahl gegen China antreten müssten. Das stimmt natürlich nicht, weil der Erfolg nicht nur eine Frage der puren Zahlen ist, sondern des Erfindungsreichtums, der neuen Ideen und des technologischen Fortschritts.

Nicht nur Arbeitsameisen

Genauso verkehrt aber wäre es, zu glauben, dass Chinesen nur Arbeitsameisen seien – fleißig zwar, aber ohne eigene Ideen, diszipliniert bis zur Selbstaufgabe, aber gut nur im Nachahmen. Es stimmt schon, dass in einer totalitären Diktatur wie in China, in einem Schulsystem, das die Kinder auf das pure Auswendiglernen trimmt, das unkonventionelle Denken nicht gefördert wird. Aber Chinesen sind eben fleißig und erfindungsreich. 

China führte 2018 mit deutlichem Abstand bei der Zahl der anerkannten Patente (rund 432 000) vor den USA (rund 308 000), Japan (rund 195 000) und der Europäischen Union (rund 128 000). Selbst wenn man die Zahl der Patentanmeldungen ins Verhältnis setzt zur Zahl der Einwohner, liegt China mit 1001 Anmeldungen pro eine Million Einwohner noch vor Deutschland (884) auf Rang vier. Innovativer sind die Menschen nur noch in Südkorea, Japan und der Schweiz.
Stimmt schon, die Zahl der Patentanmeldungen oder der anerkannten Patente sagt noch wenig darüber, wie viele davon innovativ sind und es dann auch zur Umsetzung schaffen. Nach Angaben der OECD liegt China bei Universitätspatenten mit lediglich fünf Prozent zum Beispiel deutlich hinter Japan mit 27 Prozent. Aber insgesamt zeigen die Daten, dass wir uns dringend verabschieden sollten von der Vorstellung, dass Chinesen zwar arbeitsam, aber eigentlich ideenlos sind. Sie sind nämlich gerade dabei, uns in beidem zu überflügeln.

Anzeige