Brexit - Großbritannien vor dem Klippensprung

Die Regierung in London versinkt im Chaos, die Verhandlungen mit Brüssel stecken fest. Großbritannien driftet schon vor dem Austritt immer weiter vom europäischen Kontinent ab. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, wann Theresa Mays Regierung zusammenbrechen wird

Großbritannien und Europa sind schon längst nicht mehr fest miteinander verknotet / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Die Tränensäcke werden immer dicker, die Gesichtsfarbe ist aschfarben. Die Last der Regierungsarbeit ist der britischen Premierministerin Theresa May anzusehen. Immer deutlicher wird in diesen Herbstwochen in London, dass die konservative Politikerin nicht halten kann, was sie bei ihrem Amtsantritt im Juli 2016 versprochen hat: Ihre Führung ist nicht „stark und stabil“. Und ein „erfolgreicher Brexit“ für ihr Land ist kaum mehr vorstellbar. Zur Zeit ist nur noch die Frage, wann Mays Regierung unter der Last von Brexitchaos, Belästigungsskandalen und mörderischen Machtkämpfen zusammenbricht.  Diese Woche? Vor oder nach Weihnachten? Oder doch erst, wenn Großbritannien die EU offiziell verlassen hat – womöglich nach einem harten Brexit ohne Abkommen?

Großbritannien ist innerhalb von 17 Monaten nach dem EU-Referendum, bei dem die Briten für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben, in eine tiefe Krise gestürzt. Die Brexituhr tickt und die Verhandlungen zwischen Briten und Brüssel sind festgefahren. Dass es keinen Exit vom Brexit gibt, beschwört nicht nur die Premierministerin und Tory-Vorsitzende: Auch Labour-Chef Jeremy Corbyn will das EU-Votum ehren und mit Ende März 2019 aus der Europäschen Union austreten. Beiden Parteichefs aber dräut, dass es kaum mehr möglich sein wird, bis zum Austrittstermin einen Scheidungsvertrag mit Interims-Kontrakt, geschweige denn ein neues Freihandelsabkommen auszuhandeln.

Brüssel hat sich mit dem Brexit abgefunden

Großbritannien treibt schon vor dem Austritt immer weiter vom europäischen Kontinent ab. Noch streiten die Briten darüber, welchen Brexit sie eigentlich wollen – einen harten Schnitt mit Austritt aus der Zollunion und dem EU-Binnenmarkt oder einen weichen Rückzug aus den politischen Institutionen, bei dem sie für den Zugang zum EU-Handelsblock zahlen und außerdem die Freizügigkeit von EU-Arbeitern akzeptieren müssten. Da der rechte Regierungsflügel sie erbarmungslos vor sich hertreibt, wagt Frau May bloß Andeutungen zu machen, wenn sie sich an die EU-Chefs wendet.

In Brüssel dagegen hat man sich mit dem Brexit abgefunden und will möglichst schnell einen Deal aushandeln, der nicht zum Nachahmen anregt. EU-Verhandler Michel Barnier hat den Briten eine Frist von zwei Wochen gegeben, um ihre Antworten zu den drei Eröffnungsfragen der Verhandlungen zu konkretisieren: Die Grenzfrage in Nordirland, die Rechte der EU-Bürger im Vereinigten Königreich und die Scheidungskosten. Bewegen sich die Briten nicht, dann wird die EU beim Dezember-Gipfel in Brüssel kein grünes Licht für den Beginn der zweiten Phase geben. Verhandelt Großbritannien aber nicht ab Januar über die zukünftigen Handelsbeziehungen und ein Übergangsabkommen, dann wird die Zeit bis zum offiziellen Austritt im März 2019 knapp. Immerhin müssen die Parlamente auf beiden Seiten des Kanals dem Brexitdeal vorher noch zustimmen.

Verabschiedung mit viel Drama

Von Anfang an warnten britische EU-Experten die eigene Regierung vor dem Auslösen des Artikels 50, der bloß eine zweijährige Frist für Verhandlungen vorsieht. Nach 44 Jahren ist das britische Recht derart mit dem europäischen verwoben, dass es einer gewaltigen juristischen Anstrengung bedarf, die Gesetzbücher umzuschreiben. An diesem Dienstag diskutiert das Parlament über das Austrittgesetz, das erst alle EU-Gesetze ins britische Gesetz überführen soll, worauf dann jedes einzelne darauf untersucht wird, ob es für die Zeit nach dem Brexit angenommen, abgeändert oder verworfen werden muss.

Schon dieses Gesetz droht, nicht ohne Drama verabschiedet zu werden. Hunderte Änderungsanträge sind eingebracht worden, um den Brexitprozess in die eine oder die andere Richtung zu ziehen. Die Prozedur kann bis Weihnachten dauern. Zentral dabei sind die Fragen, was passiert, wenn das britische Parlament einen möglichen Brexit-Deal ablehnt. Tritt Britannien dann trotzdem aus der EU aus? Und sollte die Regierung es nicht schaffen, überhaupt ein Abkommen auszuhandeln, darf dann das Parlament über dieses „No-Deal“-Szenario abstimmen? Brexitminister David Davis teilte dem hohen Haus am Montag knapp mit: „Nein. Ohne Abkommen keine Abstimmung.“ Die proeuropäische Abgeordnete Anna Soubry sieht das skeptisch: „Die Regierung bereitet sich bereits auf den harten Brexit vor – gar kein Abkommen.“ Die Tory-Rebellin kündigt Widerstand an.

Die Queen würde sich genieren

Ein „No-Deal“-Szenario erscheint dem rechten Flügel der Tory-Partei immer erstrebenswerter, weil sie dann die „Brexit-Bill“ von bis zu 100 Milliarden Euro nicht mehr zahlen müsste. Außenminister Boris Johnson hat bereits im Parlament zu Protokoll gegeben, dass „sich die EU eine hohe Abschlagszahlung abschminken kann“. Das hieße aber auch, eingegangene Verpflichtungen nicht zu ehren und Abkommen zu brechen, die man als EU-Mitglied unterzeichnet hat. Es ist anzunehmen, dass sich Königin Elizabeth II. für solch unrühmliches Benehmen ihrer Untertanen genieren würde.

Ein Sprung von der Klippe hätte schwerwiegende Folgen: Britische EU-Pensionisten verlören ihre Altersvorsorge, EU-Hilfsprogramme einen Teil ihrer Finanzierung. Briten, die in der EU wohnen, wären nicht mehr abgesichert, Nordirland könnte im politischen Chaos versinken. Bestehende Abkommen zu Flugsicherheit, Medikamentenkontrolle, Sicherheitskooperation oder Fischereirechten – alles wäre ungeregelt. Die Liste ist endlos. Nicht davon zu reden, dass die EU den Briten in diesem Fall auf lange Sicht kein Handelsabkommen zu günstigen Konditionen gewähren würde, was für die 65 Engländer, Schotten, Waliser und Nordiren schlimmer wäre als für die knapp halbe Milliarde Menschen im EU-Binnenmarkt.

Labour-Chef Corbyn als letzte Hoffnung der Tories

Angesichts der ungeheuren Nachteile, die ein solcher Sprung von der Klippe für ihr Land bedeuten würde, fragt sich, warum Oberbrexitier Boris Johnson und sein Komplize, Umweltminister Michael Gove, darüber überhaupt spekulieren. Sind sie gewiefte Verhandler, die mit hohem Risiko pokern, um den besten Deal für ihr Land zu erzielen? Oder hoffen sie schlicht auf einen Karrieresprung? Da die beiden nicht in Brüssel verhandeln, dürfte Zweiteres der Fall sein. Wollen die beiden in Downing Street einziehen, müssen sie Theresa May und ihren moderaten Schatzkanzler Philip Hammond vorher stürzen.

Das einzige, was die chaotische, tief zerstrittene konservative Regierung jetzt noch zusammenhält, ist der Gedanke an Jeremy Corbyn. Bei Neuwahlen könnte der Labour-Chef gewinnen, einen sanften Brexit aushandeln und dann seine sozialistische Utopie umsetzen. Vielleicht schreckt Boris Johnson angesichts dieses Tory-Albtraums trotz aller Karrierelust doch noch davor zurück, die glücklose Amtsinhaberin zu defenestrieren.

Theresa May wird jetzt oft mit John Major verglichen, von dem es hieß, er sei „im Amt aber nicht an der Macht“. Man weiß ja nicht, ob der Vergleich irgendwem noch Hoffnung geben kann, aber der äußerst unbeliebte Sir John blieb am Ende von 1992 bis 1997 als Regierungschef in Downing Street 10 in Amt und Unwürden.

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