Brexit - Wiedersehen macht Freude

Was wäre eigentlich so schlimm daran, wenn sich Großbritannien aus der EU verabschieden würde? Das Chaos rund um den Brexit hat die Idee des Ausstiegs schon jetzt so sehr beschädigt, dass die Befürworter ihren Irrtum einsehen müssten. Langfristig birgt das die Chance für einen Neuanfang

Die Hälfte der Briten ist für den Verbleib in der EU – diese Zahl könnte durch den Brexit steigen / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Holger Afflerbach ist Historiker und Autor. Er lehrt und forscht an der University of Leeds. 

So erreichen Sie Holger Afflerbach:

Anzeige

In den vergangenen Monaten hat die Welt mit wachsender Befremdung mitverfolgt, wie sich das Mutterland des  „Common Sense“ politisch zerlegt. Die Nation ist ziemlich genau in der Mitte gespalten, der Riss geht quer durch die Parteien und die Gesellschaft. Er verhindert jede pragmatische Lösung des leider vom Volke beschlossenen Brexit. Nun hoffen viele remainer in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent, dass in dem gewaltigen politischen Chaos der Brexit vertagt wird und mit etwas Glück ganz auf der Strecke bleibt. Für diese Hoffnung gibt es gute Gründe. Eine breite Mehrheit fürchtet katastrophale Folgen für den Fall eines ungeregelten Austritts. Außerdem gibt es keine Antwort auf die ungelösten Probleme des Brexit, wie etwa die Grenze in Nordirland und den Backstop. Sollen am Ende die Briten doch einfach in der EU bleiben – und alles wird wieder gut!

Sachlich spräche sehr viel dafür. Remainers tragen auf ihren Demonstrationen Plakate vor sich her, auf denen sie sagen, Großbritannien habe bereits „the best deal“. Die EU-Mitgliedschaft ist nach menschlichem Ermessen tatsächlich die beste denkbare Lösung der vielfach diskutierten Probleme, und einsichtige Tories wie Jo Johnson scheinen das zu wissen – und vielleicht auch Theresa May. Anders ausgedrückt: Der Brexit war halt eine blöde Idee. Diese wurde aber leider vom Volk abgesegnet und dadurch beinahe sakrosankt. Aber inzwischen hat die quälende Umsetzung des Brexit die Idee so beschädigt, dass sich vielleicht die Meinungen geändert haben. Da wäre es doch das Beste, diese lästige Sache einfach zu beerdigen.

Remain wäre eine schwere Hypothek für die EU 

Das wäre für das Vereinigte Königreich und die Europäische Union eine überaus vernünftige und sinnvolle Lösung. Doch Vernunft und Pragmatismus sind zwar hervorragende und unschlagbare Kriterien, aber leider nicht die einzigen. Bisweilen können sie einen hohen politischen Preis erfordern. Wenn Großbritannien in der EU bliebe, nur weil es keinen anderen Ausweg aus dem selbstgeschaffenen Chaos gefunden hat, wäre das für die EU eine gewaltige politische Hypothek.

Die Brexiteers würden schäumen und vom verratenen Willen des Volkes sprechen, sie würden die EU als Elitenprojekt geißeln, in dem eine indolente und selbstbezogene politische Funktionärskaste das Volk so lange und so oft befrage, bis sie die erwünschten Antworten erhalte. Das Gegeifere würde jahrelang weitergehen. Und die Europäische Union würde wohl wie weiland die Habsburgermonarchie von ihren verschiedenen Völkerschaften als Völkergefängnis verunglimpft, aus dem sich eine stolze Nation nicht mehr befreien kann, wenn sie sich einmal in dem juristischen Unterholz kaum verständlicher Verträge und Verordnungen verfangen hat.

Schmerzliche Amputation 

Hat die Europäische Union das verdient? Wohl kaum. Ein politisch vergiftetes Großbritannien wäre für die EU wie ein absterbendes Glied, das, wenn die Dinge schlecht laufen, den ganzen Körper verseucht. Wenn eine Blutvergiftung leider soweit fortgeschritten ist, dann bleibt nur die Amputation als letzter Ausweg. Der Brexit ist eine schmerzliche Amputation, eine Katastrophe, ein Jammer. Ein Körper ist nach der Amputation nicht mehr wie vorher, er ist weniger leistungsfähig. Aber er kann weiterleben und wird nicht an einer Vergiftung sterben. Und die Gefahr, dass diese politische Vergiftung, diese diffuse und weitverbreitete Abneigung gegen Europa, dieser Hass gegen Brüssel auf andere Länder übergreift, die sowieso schon in diese Richtung neigen, sollte sehr sorgfältig bedacht werden.

Der Brexit ist wie Pandoras Büchse: Einmal geöffnet, kommt nur Unheil heraus. Die Büchse ist aber leider schon offen. Wahrscheinlich ist, aus Sicht der EU, nicht mehr die Verhinderung des Brexit, sondern die Schadensbegrenzung das Gebot der Stunde und die beste Lösung. Lasst Großbritannien ziehen, seid so großzügig wie überhaupt nur möglich, erleichtert den Briten den Abschied und versucht, Reibungen zu minimieren. Das Königreich nervt derzeit, und zwar gewaltig; aber es wird immer ein enger Partner und Freund bleiben. In Sachen Sicherheit bleibt man ja ohnehin durch die Nato eng verbunden.

Das Chaos hat erzieherische Funktion

Und vielleicht hat die Sache neben unendlichen Nachteilen auch zwei ganz kleine Vorteile. Das britische Chaos ist abschreckend und hat damit eine erzieherische Funktion. In den ersten beiden Jahren nach dem Referendum hörte man in England viele Stimmen, die behaupteten, zuerst gehen wir und dann die anderen, zum Beispiel die Franzosen – und dann die Deutschen. Die EU sei ein sinkendes Schiff. Dergleichen hört man gar nicht mehr. Zu groß ist das Chaos. Großbritannien gilt als warnendes Beispiel, die EU spricht zum Staunen der Welt mit einer Stimme, und der Brexit ist bereits jetzt ein katastrophaler Misserfolg, der abschreckt, keinesfalls aber zur Nachahmung einlädt.

Die einzige Chance eines glimpflichen Brexits wäre ein reibungsloser Übergang gewesen, der keine Schockwellen verströmt. Es scheint, als habe Theresa May einen solchen versucht, aber sie konnte sich politisch nicht durchsetzen. Und es sieht derzeit nicht danach aus, als könnte ihr das noch gelingen. Alles, was jetzt noch kommen kann, wird einen sehr schalen Beigeschmack haben.

Der Brexit ist außerdem ein gewaltiges politisches Experiment, in dem eine Nation mit 63 Millionen Einwohnern das Testobjekt ist. Die Europäische Union verdankte ihr Image, ihre Popularität und ihre Erfolge nicht nur, aber doch vornehmlich dem Eindruck, sie sei eine Wohlstandsmaschine. Das wurde jedoch nie wirklich bewiesen – die nachrechenbaren ökonomischen Effekte waren immer bescheidener als die behaupteten und gefühlten. Wenn Großbritannien nun aus der Europäischen Union austritt, wird sich nach einiger Zeit zeigen, ob es ihm ökonomisch besser geht als jetzt. Wenn das so sein sollte (was unwahrscheinlich ist), dann stellt sich für die EU die Sinnfrage. Sollte alles so bleiben, wie es ist, dann wäre es bereits ungünstig für das Vereinigte Königreich, weil dann der Brexit nur eine sinnlose Kraftverschwendung gewesen wäre, die nichts gebracht hätte außer einem weltweiten Imageschaden und einem dauerhaften Verlust an politischen Optionen.

Die Chance für ein Comeback

Sollte es den Briten aber hinterher ökonomisch schlechter gehen, wäre dies eine gewaltige Bestärkung der europäischen Idee – und dann könnte es sein, dass die Briten zurückkommen. In der Politik ist schließlich nichts ewig, außer den Interessen. 2016 war bereits das zweite Referendum, denn 1975 hatten die Briten mit 67,2 Prozent Mehrheit aus vorwiegend ökonomischen Gründen für Europa gestimmt. Die Hälfte des Landes ist derzeit ohnehin für remain; diese Gruppe wird weiter wachsen, sie ist jetzt schön wütend und wird immer wütender werden, sollte es hier bergab gehen.

Und dann sehen wir vielleicht in einigen Jahren tatsächlich ein neues Referendum, das aber mit einem fundamentalen britischen Sinneswandel in der Frage der EU einhergehen würde. Freiwilligkeit, vielleicht sogar Enthusiasmus statt des Gefühls, in einem Völkergefängnis zu sitzen, das muss das Kriterium sein. Dieser Sinneswandel, egal wann er kommt, wäre die Grundvoraussetzung für eine gedeihliche neue Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union.

Anzeige