Brexit - Es fehlt eine gemeinsame europäische Idee

Nach dem Brexit-Schock ist ein hartes Vorgehen gegen Großbritannien falsch, warnt der Historiker Thomas Weber. Schuld an der Lage sei auch, dass es nicht einmal im Ansatz einen Grundkonsens über die Zukunft des Kontinents gibt. Drei Gesellschaftsentwürfe konkurrieren miteinander

Bewahrt die Ruhe und macht weiter: Etwas Optimismus an einem Postkartenständer in London hängt in London / Michael Kappeler, picture alliance
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Thomas Weber ist Professor of History and International Affairs an der University of Aberdeen. Zuletzt erschien von ihm „Wie Adolf Hitler zum Nazi“ wurde (Propyläen, Berlin, 2016). Foto: Hay-Rosie Goldsmith

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Am Morgen nach dem Brexit-Referendum wird in Kontinentaleuropa das Wahlergebnis vielerorts auf dem Niveau von Asterix analysiert. Derzeit listet Google News etwa 1,800 deutschsprachige Artikel auf, die Obelixs berühmten Ausspruch „Die spinnen, die Briten“ zitieren. Beim flegelhaften Verhalten der beiden Köpfe der ‚Leave Campaign, des Politikclowns Boris Johnson und des ewig grinsenden Nationalistenführers Nigel Farage, ist die Versuchung groß, Obelix zuzustimmen.

Der Kern von Analysen dieser Art ist es zu meinen, dass die Briten ganz anders als Kontinentaleuropäer gepolt sind. Sie beruht auf dem Glauben, dass es sich bei dem Referendum um einen Bürgerkrieg innerhalb der britischen Konservativen Partei und zwischen den Tories und den Nationalisten der UKIP gehandelt habe. Diese Analysen sind gleich doppelt falsch.

Jeremy Corbyn verunglimpfte die EU als „neoliberal“

Die traditionelle und populistische Rechte in Großbritannien hätte allein nicht genug Stimmen zusammen bekommen, um Britannien aus der EU zu zerren. Es war eine beträchtliche Minderheit innerhalb des linken Spektrums, die dem Brexit-Lager eine Mehrheit gegeben hat. Sie hat entweder für den Brexit gestimmt oder ist einfach zu Hause geblieben. Der Populismus der politischen Rechte und der Populismus, der Jeremy Corbyn zum Führer der Labour Party gemacht hat, eint eine tief sitzende Skepsis gegenüber der EU.

Zwar definieren sich Corbyn und seine Anhänger als europhil, aber ihre Vision Europas richtet sich gegen eine als „neoliberal“ verunglimpfte EU. Bei seinen Reden für das „Remain“-Lager der letzten Wochen wirkte Corbyn genauso enthusiastisch und glaubhaft wie eine Person, die mit einer Pistole im Rücken eine Erklärung abgeben muss.

Zu wenige Schotten gingen zur Wahl

Auch wurde in Schottland das Referendum nicht ernst genug genommen. So ist die verhältnismäßig geringere Wahlbeteiligung in Schottland zu erklären. Dadurch, dass die Mehrheit der Schotten für den Verbleib der EU sind, wiegten sich die Schotten in falscher Sicherheit. Es wurden zu wenige Versuche unternommen, die Bevölkerung an die Wahlurnen zu bekommen.

In meiner schottischen Wahlheimat Aberdeen und in meiner westfälischen Heimatstadt Breckerfeld tauchten im Straßenbild in den vergangenen Wochen die gleiche Anzahl von Wahlplakaten auf: gar keine. Auf den Autos in Aberdeen suchte man vergebens nach „Leave“ oder „Remain“-Aufklebern.

Vor allem aber sind Analysen, die Großbritannien als das Andere abtun, aus einem anderen Grunde falsch. Es wird nämlich den Brexit geben, nicht weil die Briten anders als Kontinentaleuropäer sind, sondern weil sie genauso sind. Aus diesem Grunde wäre es falsch, jetzt möglichst hart gegen Großbritannien vorzugehen und ansonsten auf dem Kontinent weiter so wie bisher zu wurschteln.

Kontinentalbürger sind sogar noch EU-feindlicher

Nach einer Umfrage des Pew Research Centers in zehn EU-Ländern hat eine vergleichbare Anzahl von Briten, Deutschen, Spaniern, Niederländern und Schweden EU-feindliche Einstellungen. Die französische und griechische Bevölkerung ist sogar feindlicher gegenüber der EU als die Briten. Nur östlich des ehemaligen „eisernen Vorhangs“ gibt es noch bequeme Mehrheiten für die EU.

Der Wahlausgang in Großbritannien ist ein Symptom zweier ineinandergreifender Krisen, die ganz Europa betreffen: eine hausgemachte Krise der EU und eine Krise der Globalisierung. Beide Krisen haben Wähler in die Arme von Populisten getrieben. Eliten in der EU haben zu lange gemeint, alles besser zu wissen und haben den Willen des Volkes ein Stück weit ignoriert. Als beispielsweise Referenden in Frankreich und den Niederlanden die europäische Verfassung zu Grabe trugen, hätten die Verfechter einer weiteren Integration sich entweder dem Ergebnis der Referenden beugen müssen oder sie hätten erneut und besser für ihre Ziele werben müssen.

Arroganz gegenüber dem Volk

Tatsächlich haben sich die Regierungen einfach in Lissabon auf einen Vertrag geeinigt, der die wesentlichen Inhalte der Verfassung durch die Hintertür umsetzt. Hierin drückt sich eine Arroganz gegenüber dem Volk aus, die zu Populismus und letztlich ungewollt zu europäischer Disintegration geführt hat.

Zur hausgemachten Krise der EU kommt ein Gefühl weiter Bevölkerungsschichten in Europa, Verlierer der Globalisierung zu sein. Sie sehen weniger die Früchte europäischer Integration als ihren persönlichen sozialen Abstieg und zumindest eine Angst davor. Sie haben Sorge, nicht nur, dass ihr eigenes Land an Souveränität verliert, sondern dass sie es auch persönlich tun. Selbstbestimmtes Leben, so die Wahrnehmung, ist in einer EU in einer globalisierten Welt nicht mehr möglich.

Eine solche Situation der Angst schafft den Nährboden für Populisten auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Nigel Farage, Boris Johnson, Donald Trump, Marine Le Pen, Geert Wilders, Beatrix von Storch, aber auch Jeremy Corbyn oder zunächst zumindest Alexis Tsipras werden als Anwälte all derjenigen empfunden, die sich vom politischen Establishment und der Globalisierung verraten fühlen.

Drei Visionen der EU konkurrieren

Wenn das britische Referendum und das Wachsen populistischer Strömungen als Weckruf akzeptiert wird, dass es nicht so weiter gehen kann wie bisher, kann etwas Positives aus dem Brexit-Referendum entstehen. Wenn die richtigen politischen Schlüsse gezogen werden und wenn die sprichwörtlichen „einfachen Leuten“ künftig mit mehr Respekt behandelt werden, werden Populisten wieder von der Bildfläche verschwinden.

Die Gefahr ist aber groß, dass mit jedem Tag, an dem Populisten eine Bühne geboten wird, die politischen Fundamente unserer Gesellschaften mehr unterhöhlt werden und dass sich der Diskurs weiter polarisiert.

Wie nicht nur das britische Referendum offenlegt, gibt es derzeit nicht mal einmal den Ansatz eines Grundkonsenses über die Zukunft unseres Kontinents. Zum einen gibt es drei grundverschiedene Ansätze, wie Europa in einer globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts am besten bestehen kann. Der Glauben, dass kleine innovative Einheiten in der Form von Nationalstaaten am besten die Zukunft meistern können, konkurriert mit zwei weiteren Ansichten: zum einen die Sicht, dass Netzwerke von Staaten in der Form der bisherigen EU uns am ehesten ein selbstbestimmtes Leben erlaubt, und zum anderen der Glaube, dass nur die Vereinigten Staaten von Europa dies zu tun vermögen.

Zudem konkurrieren überall im Westen nun drei Gesellschaftsentwürfe miteinander. Ein linker Entwurf, der im „Neoliberalismus“ den Ursprung alles Übels sieht, ein liberaler Entwurf und ein nationalkonservativer Entwurf.

Gesellschaften gehen häufig in langsamen Prozessen unter

Zwar werden fast alle Parteien dieser Auseinandersetzungen in den kommenden Tagen und Wochen versuchen, Kompromisse zu finden und so einen unmittelbaren Kollaps der EU verhindern.

Das Hauptproblem Großbritanniens und Europas liegt aber nicht in einem spektakulären Zusammenbruch. Sowohl die Medien als auch die Geschichtsschreibung konzentrieren sich viel zu viel auf große Katastrophen, um den Zusammenbruch von Staaten und Gesellschaften zu erklären. Staaten, Institutionen und Föderationen gehen aber oftmals nicht mit einem großen Knall in Revolutionen und Kriegen unter. Viel häufiger gehen sie durch einen langsamen Prozess kaputt. Hier liegt die eigentliche Gefahr der wachsenden populistischen Strömungen, denn sie zerstören die Reformfähigkeit und Kompromissfähigkeit unserer Gesellschaften.

Wenn Europa sich dieses Problems nicht flugs annimmt, wird bald das Fundament des europäischen Hauses so unterhöhlt sein, dass zuerst das Dach und dann die Mauern einfallen. Die EU wird dann so aussehen wie schottische Burgruinen: malerisch aber schutzlos. Ein selbstbestimmtes Leben in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts würde dann für keinen Briten und für keinen Europäer mehr möglich sein.

Deshalb müssen wir dringend ein neues, besseres, stärkeres und anderes Europa bauen.

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