Brexit-Chaos - Scheitert Großbritannien wie die Weimarer Republik?

Das Brexit-Chaos nimmt kein Ende. Der Premierminister und das Parlament blockieren sich gegenseitig. Großbritanniens Regierungssystem leidet an Problemen, die schon die Weimarer Republik in den Abgrund stürzten. Wäre das in Deutschland denkbar?

Brexit, ja oder nein? Das Chaos um den EU-Austritt Großbritanniens ist system-immanent / picture alliance
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Frank Lübberding ist freier Journalist und Autor.

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Großbritannien gilt bis heute bei einigen Zeitgenossen als das „Mutterland der Demokratie.“ Tatsächlich wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht im Deutschen Reich des Otto von Bismarck fast fünfzig Jahre früher eingeführt als auf den britischen Inseln. Im Gegensatz dazu waren die Briten aber die Erfinder einer dem Parlament verantwortlichen Regierung. Deren Mitglieder wurden keineswegs demokratisch gewählt, aber sie verhinderten die Herrschaft eines absolutistisch regierenden Monarchen. Die auf dem europäischen Kontinent übliche Vorstellung von Gewaltenteilung entsprach daher nicht der britischen Regierungspraxis.

Dort war die Legislative keine Konkurrenz zur Regierung, sondern deren notwendige Voraussetzung. Entsprechend beschrieb der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Karl Loewenstein im Jahr 1964 die altehrwürdige Auffassung von der „Souveränität des Parlaments“ als ein „erstarrtes Dogma.“ An dessen Stelle sei die unbedingte Beherrschung des Unterhauses durch das Kabinett getreten. Das wiederum unterstände der „souveränen Leitung des Prime Ministers.“ Dass dieser im Unterhaus „in die Minderheit geraten und zum Rücktritt gezwungen sein sollte, ist heute völlig ausgeschlossen, weil die eiserne Parteidisziplin die Mehrheit jederzeit und geschlossen hinter das Kabinett stellt.“

Umfragewerte der Konservativen steigen

Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Mit dem Brexit-Referendum des Jahres 2016 erlebten wir den Zusammenbruch dieses Regierungssystems, das sich bis dahin durch eine beeindruckende Stabilität ausgezeichnet hatte, gerade im Vergleich zu den Verhältnissen auf dem Kontinent. Mittlerweile ist der Premierminister nicht einmal mehr zum Rücktritt gezwungen, obwohl er seine Mehrheit im Unterhaus längst verloren hat.

Er kann seit dem Jahr 2011 auch nicht mehr Neuwahlen anordnen, sondern braucht dazu eine Zweidrittel-Mehrheit im Unterhaus. Die könnte die Opposition zwar mit einem gewonnenen Misstrauensvotum durchsetzen: Aber sie kann sich gegenwärtig weder auf einen neuen Premierminister noch über die von der machtlosen Regierung verlangten Neuwahlen verständigen. Schließlich droht den Oppositionsparteien seit der Amtsübernahme des neuen Premierministers eine desaströse Wahlniederlage. Obwohl Boris Johnson im Unterhaus eine historische Niederlage nach der anderen einstecken muss und er in den Medien für seine machtpolitische Entschlossenheit heftig kritisiert wird, steigen die Umfragewerte der Konservativen.

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Damit ist das britische Regierungssystem von der Verantwortlichkeit des Premierministers für political leadership zu einem System organisierter Verantwortungslosigkeit geworden. Das führt zu grotesken Ergebnissen, etwa wenn die Regierung gegen ihren ausdrücklichen Willen beschlossene Gesetze umsetzen muss. Sie gerät damit in eine Lage, die historisch dem Verhältnis eines absolutistischen Monarchen zum Parlament entspricht.

Das ist aber nicht das, was in parlamentarischen Regierungssystemen zu erwarten wäre: Nämlich die Umsetzung des politischen Willens einer durch Wahlen legitimierten Regierung. Und zwar solange bis sie von der Opposition abgelöst werden kann. Damit importieren die Briten jenes Problem, das schon die Weimarer Republik in den Abgrund stürzte.

Lehren aus der Weimarer Republik

Deutschland hatte zwar bis 1914 auf Reichsebene das demokratischere Wahlrecht, aber keine dem Parlament verantwortliche Regierung. Das änderte sich erst mit der Weimarer Verfassung von 1919. Der Reichstag geriet mit dem Aufstieg der Nazis und der Kommunisten nach den Septemberwahlen von 1930 in die Situation faktischer Handlungsunfähigkeit. Die Parteien konnten sich nicht mehr auf die Bildung einer Regierung verständigen, weshalb der vom Reichspräsidenten ernannte Reichskanzler über den berüchtigt gewordenen Artikel 48 der Reichsverfassung mit Notstandsdekreten regierte.

Das Ende ist bekannt. Daraus zog das Grundgesetz von 1949 zwei Schlussfolgerungen. Zum einen begrenztes es die Macht des Bundespräsidenten auf weitgehend repräsentative Funktionen, zum anderen beschnitt es die Neigung der Parteien zur reinen Obstruktionspolitik. Das Grundgesetz verschaffte dem Bundeskanzler deshalb eine starke Stellung. Er kann in der Legislaturperiode nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum aus dem Amt entfernt werden. Außerdem kann er jedes Gesetz mit der Vertrauensfrage verbinden und damit Neuwahlen androhen.

Vom Parlament zur Karikatur

Diese Möglichkeit ist dem Premierminister in London 2011 genommen worden. Damit wurden Regierungskrisen zu Staatskrisen, und diese Staatskrisen zur Legitimationskrise des politischen Systems. Im Parlament dominieren heute die Partikularinteressen und machtpolitischen Kalküle, wobei die beiden dominierenden Parteien der vergangenen Jahrzehnte wiederum selber vom Zerfall bedroht sind. Das Unterhaus als Institution löst sich in Gruppen und Grüppchen auf, wenn niemand mehr Verantwortung übernehmen kann. Die einen wollen einen harten Brexit ohne Vertrag, die anderen gar keinen Brexit. Nordirische Unionisten denken den ganzen Tag an Nordirland, schottische Nationalisten an Schottland.

Der Premierminister ist mitten im Getümmel, genauso machtlos wie alle anderen. Aus dem Parlament wird jene Karikatur, die Carl Schmitt schon 1926 als einen Ort beschrieb, wo „Gesetze aus dem „Kampf der Meinungen“ hervorgehen.“ Zur Diskussion gehörten „gemeinsame Überzeugungen als Prämissen, Bereitwilligkeit, sich überzeugen zu lassen, Unabhängigkeit von egoistischen Interessen.“ Um anschließend dieses idealisierende Zerrbild parlamentarischer Demokratien mit dem Satz zu verhöhnen, „heute werden die meisten eine solche Uninteressiertheit kaum für möglich halten.“ Schmitt konstruierte die Krise des Parlamentarismus auf Grundlage eines historischen Zerrbildes, um daraus seine Idee eines autoritären Staates zu zimmern.

Alles verhindern, aber nichts verantworten 

Das passiert, wenn das Parlament seine Vermittlungsfunktion einer demokratisch legitimierten Regierung verliert. Es lediglich noch Obstruktionspolitik machen kann, wo jeder alles verhindern, aber niemand etwas verantworten muss. Dort nicht mehr die „Wählerschaft der entscheidende Faktor“ ist, „dem sich der Prime Minister mit seinem Kabinett und das Unterhaus bedingungslos beugen müssen,“ wie es Loewenstein vor über 50 Jahren ausdrückte. Das erleben wir jeden Tag in London, wo sich der britische Parlamentarismus nur noch um sich selber dreht, wenn auch in der historischer Kostümierung eines am Gewohnheitsrecht orientierten Systems.

Der Parlamentssprecher John Bercow symbolisiert diese Traditionen, bisweilen zelebriert er sie mit der ihm eigenen Eitelkeit. Tatsächlich ist er längst Teil dieses Verfallsprozesses geworden. Seine Unabhängigkeit von machtpolitischen Kalkülen gehört zu seiner Aufgabenbeschreibung. In Wirklichkeit konnte er nicht verhindern, selber als Konfliktpartei wahrgenommen zu werden. Die einen sehen ihn als Vertreter parlamentarischer Rechte, sinnigerweise allerdings nur die Vertreter der Opposition. Die anderen gerade deshalb als deren Parteigänger. So wird im Laufe der Zeit alles und jedes delegitimiert, bis nichts Substantielles mehr übrig bleibt.

Es drohen Weimarer Verhältnisse 

Im Vereinigten Königreich sind die Konsequenzen zu erleben, wenn politische Systeme einem zunehmenden Fragmentierungsprozess ausgesetzt sind. Eine politische Willensbildung unmöglich wird, weil Verantwortung institutionell abgeschafft worden ist. Loewenstein nannte den britischen Parlamentarismus einen „erstaunlichen Regierungstyp, der sowohl an demokratischer Legitimation wie an Wirkungskraft kaum ein Gegenstück in der Geschichte des Regierungswesens“ habe. Es war die Perspektive eines im Jahr 1933 in die Vereinigten Staaten ausgewanderten deutschen Juristen und Staatsrechtlers. So sollte man die britischen Verhältnisse als Warnung betrachten, wenn sogar im altehrwührdigen Unterhaus Weimarer Verhältnisse drohen.

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