Brexit-Chaos - Absturz in die Ausweglosigkeit

Das Brexit-Chaos ist perfekt: Das britische Parlament lehnt den Austrittsdeal von Theresa May mit großer Mehrheit ab. Großbritannien schlittert noch tiefer in die politische Krise. Es gibt kaum noch Auswege aus dem No-Deal-Szenario – und auch nicht für Theresa May

Noch hat Theresa May Boden unter ihren Füßen / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Fast jeder Londoner Taxifahrer drückt auf die Hupe, wenn er an Robert Wright vorbeifährt. „Hupt, wenn ihr für Brexit gestimmt habt!“ steht auf dem Pappkarton, den der 64-jährige Pensionist hochhält. Der ehemalige Steuerberater steht in Whitehall direkt vor dem schmiedeeisernen Tor von Downing Street. Als es sich öffnet und eine dunkle Limousine aus der kleinen Seitengasse herausgleitet tut Wright so, als werfe er sich fast vor das Auto. „Vielleicht ist es Theresa May“, ruft er über die Schulter. Sein Einsatz sei nur logisch: „Freiheit ist uns Engländern eben besonders wichtig.“

Robert Wright will einfach raus /
Tessa Szyszkowitz

Wenige hundert Meter weiter vor dem Westminster-Palast tobt in diesen Tagen die Schlacht zwischen Brexitfans und Proeuropäern – verbal, wohlgemerkt. Sie hupen, schreien, musizieren gegen einander an. Noch, zumindest. Seit rechtsradikale Hooligans in gelben Westen vorige Woche proeuropäische Abgeordnete angepöbelt haben, fürchten die Sicherheitskräfte Handgreiflichkeiten. „Könnten Sie bitte hinter die Absperrung zurücktreten“, sagt ein Polizist höflich zu einem älteren Demonstranten, der vor dem Churchill-Denkmal auf dem Parlamentsplatz steht. Dieser trägt eine gelbe Weste und darüber eine weiße Fahne mit rotem Kreuz: „Ich lasse mich nicht zum Schweigen bringen“, knurrt der englische, wütende Bürger und ruft: „Rettet den Brexit!“

Eine Entscheidung, die das Land prägen wird

Im Parlament geht es mindestens so heiß her wie auf der Straße davor. „Das ist eine historische Entscheidung, die unser Land für Generationen prägen wird“, rief Theresa May den Abgeordneten im Unterhaus vor der entscheidenden Abstimmung zu. Kurz darauf lehnte das Unterhaus am Dienstag abend den Austrittsvertrag, den Theresa May mit Brüssel ausgehandelt hat, mit großer Mehrheit ab. 432 Abgeordnenete stimmten gegen ihren Deal, nur 202 für ihn.

Die Rebellen kommen aus beiden Lagern. Boris Johnson, der die Brexit-Kampagne 2016 anführte, stimmt gegen den Deal seiner eigenen Premierministerin, weil „wir sonst zum Vasallenstaat verkommen“. Er hält kein Abkommen beim EU-Austritt für unproblematisch. Sein kleiner Bruder Jo Johnson hingegen, der bis November als Staatsekretär tätig war, will gar keinen Brexit, sondern eine zweite Volksabstimmung.

Die Gedemütige will weitermachen

Wie aber soll es nun weitergehen? Das Parlament ist so gespalten wie das Land. Regierungschefin Theresa May ist gedemütigt, will aber weitermachen. Sie muss am Montag dem 21. Januar einen Plan B im Parlament vorstellen. Sie möchte vermutlich zurück nach Brüssel fahren und weiterverhandeln. Die EU hat aber deutlich gemacht, dass es über den Austrittsvertrag nicht weiter verhandeln wird. Die Britin könnte versuchen, direkt schon über die zukünftigen Beziehungen zu verhandeln und Richtung Norwegen-Modell zu gehen. Ein Verbleib im Binnenmarkt zusätzlich zu einer Zollunion könnte den „Backstop“ – die Sicherheitsklausel für Nordirland – obsolet machen und doch noch eine Mehrheit im Parlament bekommen.

Manche Abgeordnete und einige Minister wollen inzwischen allerdings lieber eine neue Volksabstimmung durchsetzen. Dazu gibt es im Parlament eine parteiübergreifende Initiative. Bisher haben allerdings beide entscheidenden Parteivorsitzenden ein zweites Plebiszit explizit ausgeschlossen. Tory-Chefin May will die Bevölkerung nicht noch einmal befragen. Labours Jeremy Corbyn glaubt ebenfalls nicht, dass ein Referendum seine in dieser Frage tief gespaltene Partei einen könnte – vom gesamten Königreich ganz zu schweigen.

Corbyn setzt auf ein Misstrauensvotum gegen die Regierung. Am Mittwochabend soll darüber abgestimmt werden. Auch das scheint nach derzeitigem Wissensstand eine äußerst unwahrscheinliche Option: Die Opposition hat im Unterhaus keine Mehrheit. Selbst Tories, die gegen Mays Deal gestimmt haben, wollen nicht gegen ihre Regierungschefin stimmen. Der Druck auf die Premierministerin aber dürfte nun so groß werden wie nie zuvor. Was sei im Amt hält, so scheint es, ist allgemeine, pure Ratlosigkeit.

Ausweg ist der Aufschub

Eher wahrscheinlicher wird daher ein Szenario, dass der strauchelnden Regierungschefin zumindest noch ein wenig Zeit bringen könnte: die Aussetzung des Artikel 50. Dieser Paragraph der EU-Verträge besagt, dass ein Land genau zwei Jahre nach der Auslösung des Artikel 50 die Europäische Union verlässt. Großbritannien hatte am 29. März 2017 den entsprechenden Brief in Brüssel abgegeben. Wenn Großbritannien um eine Aussetzung ansucht, so die allgemeine Meinung, wird Brüssel, also alle 27 verbleibenden Mitgliedstaaten einstimmig, dem zustimmen. Zumindest bis zu den EU-Wahlen im Mai könnte Theresa May einen Aufschub erhalten, um noch einen weiteren Versuch zu machen, einen geordneten Brexit auszuhandeln.

Trotz des lauten Theaterdonners klingen selbst ihre Gegner so, als hätten sie Kreide gefressen, wenn es um die Zukunft der angeschlagenen Regierungschefin geht. David Davis, der als Brexitminister im Juli zurückgetreten ist und der Mays Deal verteufelt, meint bei einer Pressekonferenz am Dienstag: „Nein, ich will nicht, dass sie zurücktritt.“ Der neben ihm sitzende Dominic Raab, ebenfalls ehemaliger Brexit-Minister und Hardliner, sekundiert: „Sie könnte bei den Verhandlungen in Brüssel stärker werden, gerade weil wir ihren Deal abgelehnt haben.“ Selbst Raab, der derzeit gute Karten hat, die eiernde Lady zu beerben, scheint nicht zu erwarten, dass er demnächst zum Zug kommt.

Vor lauter Kabale und Hass zwischen Brexitfans und Proeuropäern scheinen derzeit alle Möglichkeiten blockiert. Einigt sich das Parlament in den kommenden Wochen auf gar nichts, dann tritt Großbritannien am 29. März um 23 Uhr ohne Abkommen aus der EU aus. Denn das Austrittsdatum wurde im britischen Gesetz verankert und müsste mit einem Gesetzesakt erst wieder entfernt werden.

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