Boris Johnson - Großbritanniens Mogelpackung

Viele von Boris Johnsons Weggefährten bescheinigen dem neuen britischen Premierminister, für wichtige Ämter völlig untauglich zu sein. Doch der strohblonde Brite legte eine steile Karriere hin, stieg immer weiter auf. Jetzt sitzt er auf dem höchsten politischen Posten seiner Nation. Wie hat er das geschafft?

Jetzt ein bedeutender Staatsmann: Boris Johnson / picture alliance
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Jannik Wilk ist freier Journalist in Hamburg. 

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Es ist heiß an diesem Mittwoch in London. In einer königlich bewachten Kolonne lässt sich Boris Johnson zum Buckingham Palace chauffieren. Johnson, strohblonder Exzentriker, frischgebackener Chef der Konservativen, sitzt auf der Rückbank eines silbernen Jaguars. Dem Staatsgefährt rollen zwei Motorräder von Scotland Yard voraus. Von einem Helikopter aus filmt die Presse die Fahrt und sendet die Livebilder in die Londoner Büros, Wohnzimmer und Cafés.

Nichts darf den Konvoi aufhalten. Johnson hat eine Verabredung mit Queen Elizabeth II. Ihre Exzellenz lässt man nicht warten. Sie wird Johnson heute zum Premierminister Großbritanniens ernennen. Die Queen wird ihn später fragen, ob er die Einheit des Königreiches gewährleisten könne. Johnson wird darauf sein Wort geben.

Er ist vorerst wohl am Ziel seiner Träume angelangt: Schon als junger Bursche soll Boris auf die Frage, was er denn einmal werden wolle, mit „Weltkönig“ geantwortet haben. Schon damals, so wirkt es, zeigte sich sein Machtwille, seine Ambition, seine Extravaganz. Sein neues Amt als Regierungschef von Großbritannien kommt diesem Wunsch wohl am nächsten. 

Sein Aufstieg ist ein Rätsel

Dabei wirkt es zugleich wie ein Rätsel, dass es ausgerechnet dieser Mann nun unter großem Jubel in das höchste politische Amt seiner Nation schaffen konnte. Denn Johnson ist nachweislich ein Schwindler. Ein grober Trickser, ein Schummler. Man könnte auch sagen: ein Lügner. Zwar ist er offensichtlich gesegnet mit großer Intelligenz, guter Ausbildung und einer Gerissenheit wie kaum ein Zweiter. Allerdings stellen ihm viele Weggefährten seiner kuriosen Biografie ein vernichtendes Zeugnis aus: Johnson sei völlig ungeeignet für bedeutende Posten. Ein Blender. 

Im Guardian, einer traditionsreichen britischen Tageszeitung aus London, schrieb der ehemalige Daily Telegraph-Herausgeber Max Hastings kürzlich in einem vernichtenden Kommentar, Johnson sei völlig untauglich als Premierminister. Er sei ein Egomane, bei allem außer dem Management seiner Außendarstellung völlig unorganisiert, man könne ihm nicht glauben. Hastings muss es wissen, er war Johnsons Chef, als dieser noch als Journalist arbeitete – und kennt ihn seit den achtziger Jahren.

Nun könnte man behaupten, Hastings hätte vielleicht noch eine Rechnung mit Johnson offen. Aber zahlreiche andere britische Persönlichkeiten stimmten auf dessen Tenor ein. Man kann sich fragen, wie viele noch unerzählte Geschichten sich in der Biografie dieser Person verstecken, denn eine Vielzahl von aberwitzigen Anekdoten über Boris Johnson schaffte es über die Jahre ans Licht der Öffentlichkeit.

Zwischen Wortbrüchen und Lügen

Johnson, Kind einer weltgewandten bürgerlichen Oberschicht, genoss eine elitäre Bildung. Nach seiner Zeit auf der traditionsreichsten britischen Privatschule, Eton, und seinem Studium auf der Elite-Universität Oxford begann Johnson eine Karriere als Journalist. Und stieg gleich bei den großen Jungs ein: Über familiäre Beziehungen fand er eine Anstellung beim britischen Qualitätsblatt The Times. Lange behielt er seinen Job aber nicht. Nach einem Jahr feuerte man Johnson, weil er seine Stories mit gefälschten Zitaten ausstaffierte. Ein früher britischer Relotius. Bereits in seiner ersten Titelgeschichte erfand er die Aussage eines Protagonisten. Johnson sollte dies später als „Missgeschick“ abtun. 

Als hätte er seine Glaubwürdigkeit als Journalist nicht allein dadurch verspielt, wurde er ein Jahr später Kolumnist des Daily Telegraph. Anschließend ging er als Korrespondent ausgerechnet nach Brüssel, und machte sich auch in den Häusern der Europäischen Union dadurch bekannt, Lügengeschichten zu erfinden. Auch beim Telegraph sprachen ihn Kollegen regelmäßig auf die Unwahrheiten an. Beispielsweise unterstellte Johnson der EU, eine „Bananenpolizei“ einführen, ein Verbot von Chips mit Shrimp-Geschmack durchsetzen, oder aber einen drei Kilometer hohen „Turm von Babel“ für ihre Behörden errichten zu wollen. Letzteres wird immer noch von konservativen Briten geglaubt, heißt es. Es kursiert die Geschichte, dass Johnson in seinem Büro – um sich in Stimmung zu bringen – seine Yucca-Palmen anschrie, bevor er seine Tiraden gegen die EU verfasste. Viele Quellen in dieser Zeit soll Johnson frei erfunden haben, erzählte eine frühere Mitarbeiterin und spätere Biografin. 

Seiner Karriere tat aber auch dies keinen Abbruch. 1994 stieg er trotz seiner Lügen zum politischen Chefkolumnisten des Daily Telegraph auf. Dabei gestand er einem Kollegen, überhaupt „keine politischen Meinungen“ zu haben. Ein Jahr später wird ein Telefongespräch zwischen Johnson und einem kriminellen Freund veröffentlicht. Der wollte die Adresse eines Journalisten herausfinden, bat Johnson um Hilfe. Der Grund: Er wollte ihn zusammenschlagen lassen, wegen einer für ihn unangenehmen Recherche. Und versicherte, es werde nicht mehr sein als „zwei blaue Augen und eine gebrochene Rippe". Johnson besorgte ihm die Adresse. Zwar beteuerte er später, dies wäre nur ein Scherz gewesen. Der Anrufer aber wurde anschließend verurteilt, und bedauerte, seinen Plan nicht in die Tat umgesetzt zu haben. Johnson dagegen erhielt lediglich eine Standpauke von Herausgeber Hastings.

Johnson war Ankläger und Richter zugleich

Auch dies stoppte Johnson nicht. Anfang der Zweitausender, damals 35 Jahre alt, war er bereits Chefredakteur des Intellektuellen-Magazins The Spectator. Zu diesem Zeitpunkt startete Johnson bereits seine politische Karriere. Den hohen Posten beim Spectator bekam der Blondschopf ohnehin nur, weil man ihm das Versprechen abrang, seine politische Laufbahn nicht weiter zu verfolgen. Johnson brach auch diesmal sein Wort. „Unsagbar doppelzüngig“, kommentierte der Verleger später diesen Vertrauensbruch. Anstoß daran, dass er gleichzeitig Politiker und Journalist war, nahm er selbst nie. Johnson war immer publizistisch tätig, nur als Außenminister setzte er diese Tätigkeit aus. Zwischenzeitlich kassierte er für seine Texte im Daily Telegraph 250.000 Pfund im Jahr. Ab Anfang der Zweitausender aber wollte er lieber Politiker als Journalist sein.

Und das war ihm möglich, denn dem Image Johnsons schien all das nicht zu schaden. Im Gegenteil, er stieg weiter auf: Es gelang ihm, Bürgermeister von London zu werden. Das ist deshalb eine besondere Leistung, weil London traditionell eine Hochburg der eher linken Labour Party ist, der zweiten großen Partei Großbritanniens. Den Bürgermeisterposten des „roten Londons“ hatte Labour eigentlich abonniert. Konservative hingegen hatten in der britischen Hauptstadt seit jeher einen schweren Stand. Johnsons Erfolg beruhte unter anderem darauf, dass er es verstand, geschickt linke Positionen zu übernehmen.

Die „goldenen Jahre“

Johnson sollte seine Zeit als Bürgermeister Londons später als „goldene Jahre“ bezeichnen. Doch die Zeit als Stadtchef war geprägt von noch mehr großen Worten, wenig Zählbarem, und viel Symbolpolitik: Johnson hing sich an millionenschweren Prestigeprojekten wie einer unrentablen Seilbahn über die Themse auf, oder aber einer letztendlich nie gebauten Gartenbrücke. Wie immer tauchte er auch in dieser Amtszeit regelmäßig zu spät zu Terminen auf. Versprochener sozialer Wohnungsbau fand nicht statt, er log bei der Jugendkriminalität, die angeblich zurückgegangen, eigentlich aber zugenommen hatte. Mehr Polizisten würden die Straßen Londons nun sicher machen, tönte er. Dabei war die Anzahl der Beamten nicht gewachsen, sondern geschrumpft.

Nach seiner Zeit als Bürgermeister ging Johnson ins britische Parlament, und wandelte sich zum Anhänger des Brexits. Er wurde zu einer Schlüsselfigur im Ringen um die Meinung des britischen Volkes. Viele behaupteten, er alleine hätte mindestens zehn Prozent der Wähler für den Austritt hinzugewonnen, er hätte den Ausschlag gegeben. Seine berühmteste Tat brachte Johnson dabei fast vor Gericht: Er ließ einen roten Bus mit der Behauptung beschriften, 350 Millionen Pfund könnten pro Woche durch den Brexit eingespart und in britische Krankenhäuser gesteckt werden. Eine dreiste Lüge, wie die britische Statistikbehörde sagte. Doch mit dem Bus fuhr Johnson durch das Vereinigte Königreich.

Johnson, der Chefdiplomat

Das jüngste Kapitel in Boris Johnsons Leben führte ihn in die Schaltzentren der Macht. 2016 wurde er britischer Außenminister, blamierte sich mit Unwissen oder undiplomatischen Aktionen. Ernannt hatte ihn Theresa May selbst, über Monate setzte er ihr zu, jetzt musste sie für ihn aus dem Amt weichen. Dabei wollte sie Johnson im Kabinett eigentlich zu Disziplin erziehen. Ausgerechnet Johnson als Chefdiplomat. Stattdessen aber stolperte er von einem Fettnäpfchen ins nächste. Bei seinen europäischen Pendants galt er als unbeliebt. Er fiel auch hier wegen schlechter Vorbereitung und noch schlechterem Stil auf. Einmal verglich er den französischen Präsidenten François Hollande mit einem sadistischen Wachmann eines Kriegsgefangenenlagers. Ein anderes Mal fiel er auf einen Telefonstreich herein, als sich ein Anrufer als armenischer Ministerpräsident ausgab, und tauschte sich mit diesem ganz offen über die Probleme der Russlandpolitik aus. Nach knapp zwei Jahren trat er zurück, weil er einen härteren Kurs beim Brexit forderte. 

Warum ist Johnson so beliebt?

Man kann die Meinung und Aussagen der vielen kritischen Stimmen gegenüber Boris Johnson nicht einfach wegwischen. Die Fakten, die Johnson so gerne verdreht, sind eindeutig: Er ist ein ungehobelter Schwindler. Wie also konnte es möglich sein, dass dieser Mann trotz aller Fehltritte und Lügen immer wieder befördert wurde? Wie konnte er sogar zum mächtigsten Mann Großbritanniens werden? Wieso ist Johnson von weiten Teilen der britischen Bevölkerung so sehr ins Herz geschlossen worden? 

Es scheint fast, als könne er tun und lassen, was er möchte, ohne ernsthafte Konsequenzen. Und es stimmt: Früh lernte Johnson, die Leute für sich zu gewinnen, und seine Gaben für sich zu nutzen. Zum Beispiel seinen Witz: Als er auf der Privatschule Eton einmal in einem französischen Theaterstück Molière zitieren sollte, versteckte er sich hinter einem Kissen und las seine Zeilen vor, weil er sich nicht darum geschert hatte, seinen Text auswendig zu lernen. Das fand das Publikum zum Schreien komisch. Johnson nahm sich selbst nie ernst. 

Der liebe Boris von nebenan

Die Londoner liebten ihn in seiner Zeit als Bürgermeister, weil er in Funk und Fernsehen stets erfrischende Statements zum Besten gab. Oder wegen der „Boris Bikes“, Leihfahrräder, die man sich an jeder Ecke borgen konnte. Sie lieben ihn, weil er in der Auto-Show Top Gear mit Kult-Moderator Jeremy Clarkson feixt und witzige Antworten gibt. Seine Direktheit, seine Ruppigkeit, sein Charme, seine Wuschelhaare, all das sind die Geschenke für Boris Johnson. Er versteckt seine Inkompetenz hinter einem Schleier aus großen Gesten und noch größeren Worten. Wenn Boris Johnson spricht, scheint er an einem Baum zu rütteln, und der zuvor narkotisierte Zuhörer fällt herab.

Johnson ist ein „real character“. Sein ganzes Leben ist er diesem verplanten, fahrigen Charakter treu geblieben, sodass die Briten ihn nur liebevoll „Boris“ nennen. Sie schätzen ihn als unbeholfenen Normalo. Über die Jahre zur Marke geworden, ist er wohl der exzentrischste Politiker des Königreiches. Es ist seine schillernde, einnehmende Art, die die Leute jeden Fehltritt vergessen, ihn gar zu seinem Vorteil ausgehen lässt. Deshalb hat er alles überlebt. Max Hastings, eingangs erwähnter ehemaliger Telegraph-Herausgeber, schrieb noch etwas über Johnson: „Nur im Star-verliebten, albernen Großbritannien des 21. Jahrhunderts konnte ein solcher Mann so weit kommen.“

Ein staatsmännischer Wandel

Boris Johnson steigt aus dem silbernen Jaguar und läuft bestimmten Schrittes zum Rednerpult. Und steht schließlich als neuer Premierminister vor dem schmiedeeisernen Tor und dem marmorweißen Portal der Downing Street Nummer 10. Seinem neuen Regierungssitz. Die Nachmittagssonne strahlt auf den Eingang des Hauses. Viele Leute sind gekommen, jubeln ihm zu. 

Johnson sieht heute ungewohnt ordentlich aus. Seine strohblonden, sonst zerzausten Haare sind gekämmt, sein dunkelblauer Anzug nicht zerbeult, seine Krawatte schick. Er weiß, wohin ihn das Leben getragen hat: In das höchste politische Amt seiner Nation. Dem möchte er gerecht werden. Schon in den vergangenen Monaten, als sich die Veränderung in der Regierung abzeichnete, lernte er, sich etwas zurückzunehmen. Jetzt muss er Staatsmann sein. 

Der Zeitrahmen für ein Abkommen ist eng

Neunundneunzig Tage bleiben Johnson, zu schaffen, was seiner Vorgängerin in drei Jahren nicht gelang: Ein Abkommen zu einem geregelten Brexit. Theresa May konnte noch alle Register ziehen, hatte Zeit. Johnson nicht. Trotzdem gibt er sich gegenüber der EU hart. Sollte die Union auf einen Backstop bestehen, dem entscheidenden Punkt, an dem es noch hapert, werde Großbritannien Ende Oktober auch ohne Abkommen austreten, sagt Johnson voller Überzeugung. Den ersten Schritt hat Johnson gleich gemacht: Er schmiss fast das gesamte Kabinett um, sechzehn Getreue Mays sind ihre Posten los. Die Lücken füllt Johnson mit Brexit-Hardlinern und alten Weggefährten. Dominic Raab beispielsweise, ausgerechnet ein ehemaliger EU-Mann, wird sein neuer Außenminister.

Boris Johnson stellt sich auf die Türschwelle, dreht sich noch einmal ungelenk um, lächelt und winkt. Dann geht er. Die Tür der „Downing Street No. 10“ fällt ins Schloss. Es kann losgehen.

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