Antisemitismus in Frankreich - „Von nun an können Juden also ungestraft getötet werden“

Der antisemitische Mord an der Pariser Jüdin Sarah Halimi bleibt vorerst ungesühnt: Nach dem Urteil des obersten Gerichtshofs schützt der Drogenkonsum den Täter vor der Strafe. Bei vielen Franzosen sorgt dieser Fall für Fassungslosigkeit und Entsetzen.

Das Mordopfer Sarah Halimi / Screenshot
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Autoreninfo

Sara Rukaj lebt in Frankfurt am Main und beschäftigt sich als freie Autorin mit Antisemitismus, Ideologiekritik und Literatur.

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Am 4. April 2017 suchte der 27 Jahre alte Kobili Traore in dem Pariser Quartier Belleville gegen vier Uhr nachts die Wohnung seiner Nachbarin Sarah Halimi auf. Unter den Rufen „Allahu Akbar“ und „Das ist die Rache für mein Volk“ misshandelte er die 65 Jahre alte orthodoxe Jüdin fast eine Stunde lang, anschließend warf er Sarah Halimi aus dem dritten Stock ihrer Wohnung. 

Die Gerichtsmedizin sollte später rund zwanzig Brüche an ihrem Körper und im Gesicht feststellen. Ob die barbarische Folter oder der Sturz aus dem Fenster Sarah Halimi das Leben kosteten, konnte nicht rekonstruiert werden. Ihre Schmerzensschreie hallten damals durch das ganze Haus, so dass die Nachbarn rasch die Polizei alarmierten. Doch als schließlich drei Beamte anrückten, blieben sie untätig vor der Wohnungstür der ermordeten  Frau stehen, die erst eine Stunde später aus dem Fenster gestürzt wurde.  

Ganze zwei Monate sollte es dauern, bis der antisemitische Mord in der französischen Presse und von Politikern – Frankreich befand sich damals mitten im Wahlkampf – thematisiert wurde, zunächst berichteten lediglich jüdische Medien über den Fall. Das lange Schweigen habe die jüdische Gemeinde Frankreichs erschüttert, schreibt die Philosophin Elisabeth Badinter.

Täter war „psychisch gestört“

Der Mörder Halimis wurde nach seiner Festnahme nicht ins Gefängnis, sondern als „psychisch gestört“ in die Psychiatrie eingewiesen. Dies obwohl sich herausstellte, dass Traore aufgrund mehrerer Gewaltdelikte vorbestraft ist und schon vor dem brutalen Mord an seiner Nachbarin in einer als islamistisch eingestuften ¬Moschee im elften Arrondissement radikalisiert worden war. Doch die Staatsanwaltschaft konnte zunächst „kein antisemitisches Motiv“ erkennen. 

Am 14. April nun beschloss der oberste Gerichtshof Frankreichs, dass sich Traore nicht für den Mord an Sarah Halimi verantworten muss. Das Kassationsgericht folgte damit der Entscheidung eines Pariser Berufungsgerichts im Januar letzten Jahres, demzufolge der aus Mali stammende Täter aufgrund eines „Deliriums in Folge von Cannabiskonsum“ als schuldunfähig einzustufen sei. Den Einspruch der Familie des Opfers, das nun vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen möchte, wies man zurück.

Zwar bestätigte das Kassationsgericht den antisemitischen Charakter des Verbrechens – zuvor hatten mehrere französische Intellektuelle, darunter Alain Finkielkraut und Pascal Bruckner, eine Petition lanciert, in der sie „Die Wahrheit über den Mord an Sarah Halimi“ forderten –,verwies dabei jedoch auf die Schuldunfähigkeit des Täters. Dieser habe, bevor er zur Tat schritt, zu viel Marihuana geraucht und den Mord in einem „Anfall von Wahn“ verübt.

Doch entschuldigt der Konsum von Drogen wirklich einen derart brutalen Mord? Wie viele Menschen rauchen einen Joint, bevor sie ihre Nachbarin aus dem Fenster werfen? Der französische Comicautor Joann Sfar stellte sich diese und andere Fragen nach der Bekanntgabe des obersten Gerichtshofes ebenfalls: „Auch die ISIS-Mörder, die sich von morgens bis abends mit Captagon vollstopfen, sollen dem Gericht entgehen? (Ich weiß es nicht.) (…) Stimmt es, dass der Mörder seine Nachbarin regelmäßig und wochenlang vor dem Mord als „dreckigen Juden“ bezeichnet hat?

Nicht nur in Frankreich

Islamismus und insbesondere muslimischer Antisemitismus betreffen nicht nur Frankreich. Gegen den weltweiten Siegeszug des Dschihadismus hilft keine Beschwichtigung. Man sagt, es seien Einzeltäter, der Terrorismus sei  nicht mit dem Islamismus und der nicht mit dem Islam gleichzusetzen. Doch wie viele antisemitische Gewaltverbrechen müssen zusammenkommen, damit ein Muster erkennbar wird?

Es ist bekannt, dass die antisemitischen Schlächter in Moscheen radikalisiert werden, dass der politische Islam, namentlich die Muslimbruderschaft, in Frankreich und Europa weitreichende Strukturen aufgebaut hat, die einen fundamentalistischen Islam lehren. Man kennt den Schlachtruf der Muslimbrüder: Der Dschihad ist unser Weg. Man kennt ihr Ziel, in Europa, sobald in der Mehrheit, islamische Gottesstaaten zur errichten. Man weiß, dass sie Juden dämonisieren und den jüdischen Staat Israel vernichten wollen.  

In der Praxis bleibt dieses Wissen folgenlos. Gerade innerhalb der islamischen Community kam es zu zahlreichen Angriffen und auch Morden auf und an Juden. Die Ermordung jüdischer Schüler in Toulouse 2012, die Ermordung von Sarah Halimi 2017 und die von Mireille Knoll, einer Holocaust-Überlebenden, im März 2018, sind lediglich besonders drastische Bei-spiele antijüdischer Angriffe durch muslimisch sozialisierte Täter in Frankreich.

Schon 2014 machte das US-Magazin Newsweek mit seiner Titelgeschichte „Exodus – Why Europe’s Jews are fleeing once again“ auf die Tabuisierung islamischer Gewalt aufmerksam, die bis heute von vielen Europäern bagatellisiert werde und längst nicht mehr nur französische Juden betrifft. Als sie zum ersten Mal vom Mord an Halimi erfuhr, dachte Elisabeth Badinter, es könne sich nur um eine Falschmeldung handeln: „Ein derart unerhörtes, unfassbares Verbrechen – und keiner redet davon.“

Ostentative Leugnung

Doch die Liste lässt sich schier endlos fortsetzen. Als im Dezember 2017 während einer propalästinensischen Demonstration in Paris Muslime und Linke in trauter Einheit „Tod den Juden“ skandierten, ergriff kein einziger Nichtjude das Wort. Nach dem Attentat auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo waren viele „Je suis Charlie“-Rufe zu hören, sie galten aber nicht den Juden, deren koscherer Supermarkt „Hyper Casher“ ebenfalls von den Anschlägen betroffen war. Die ostentative Leugnung antisemitischer Ideologeme ist auch hierzulande nicht zu übersehen, wo man lieber der toten Juden gedenkt, statt die lebenden zu schützen.

Frankreich hat mit rund 450.000 Juden die zweitgrößte jüdische Gemeinde außerhalb Israels. Doch nicht wenige von ihnen sitzen auf gepackten Koffern und planen ihre Auswanderung nach Israel. Die Zahl der Ausgewanderten steigt seit Jahren beständig. Sie wissen, dass sie nur rund ein Prozent der französischen Bevölkerung ausmachen, aber von 50 Prozent der rassistischen Anschläge im Lande betroffen sind. Und sie wissen, dass sich daran nicht viel ändern wird. Der tragische Fall um Sarah Halimi gilt ihnen  letztlich nur darin als Wendepunkt, dass er sie im Kampf gegen Antisemitismus nicht mehr auf den französischen Staat hoffen lässt.

Der Präsident der französisch-jüdischen Dachorganisation CRIF, Francis Kalifat, kommentierte die Entscheidung der Berufungsrichter mit den Worten: „Von nun an können in unserem Land Juden also ungestraft gefoltert und getötet werden.“

Der muslimische Judenhass wurde hierzulande schon einmal in der Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ – die von Arte und dem WDR ohne vorherige Absprache mit den Produzenten aus dem Programm genommen und erst nach scharfer Kritik wieder ausgestrahlt wurde – eindrucksvoll thematisiert. Der Bürgermeister des französisch-jüdischen Viertels Sarcelles beschrieb dort die Angst der Juden, deren körperliche Unversehrtheit er nicht länger garantieren könne: „Wenn die jüdische Gemeinde in Frankreich nicht länger sicher ist und Juden reihum nach Israel auswandern, dann hat der französische Staat versagt. Daher bitte ich sie, zu bleiben.“

Frankreichs Präsident Emanuel Macron möchte die jüdische Gemeinschaft nun dabei unterstützen, den Mörder von Sarah Halimi vor Gericht zu bringen. Wie die Jewish Telegraphic Agency meldete, strebt er eine Gesetzesänderung an, damit sich ein derartiger Fall nicht wiederholt.

Doch ganz gleich, wie das Urteil letztlich ausfällt, für die französischen Juden im Besonderen, aber auch für die europäischen Juden insgesamt, verheißt das jüngste Gerichtsurteil über Sarah Halimis Mörder nichts Gutes. Erfahrungsberichten und Stellungnahmen zufolge herrscht innerhalb der jüdischen Gemeinde vor allem eins: Resignation.

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