Abschiebungen nach Afghanistan - „Das ist reine Symbolpolitik“

Nach dem Anschlag in Kabul und der Festnahme an einer Berufsschule will die Bundesregierung Abschiebungen nach Afghanistan zunächst aussetzen. Für Thomas Ruttig vom Afghanistan Analyst Network haben sich die deutschen Politiker schon vorher der afghanischen Realität verweigert. Dort herrsche Krieg

Polizeieinsatz bei Schülerdemo gegen Abchiebung eines Klassenkameraden / picture alliance
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Herr Ruttig, der Anschlag von Kabul war ja kein Einzelfall. Dennoch hat er offenbar die die Bundesregierung dazu bewogen, die Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen. Was halten Sie von der Kehrtwende?
Das ist unglaublich. Die Begründung war ja nicht, dass der Anschlag am Mittwoch belege, dass die Sicherheitslage für Abschiebungen nicht zuträglich sei sondern rein bürokratischer Art. Kanzlerin Merkel sagte, dass das nur bis zur vollen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Botschaft gilt. Da fehlt wirklich jede Lernfähigkeit, was die afghanische Realität betrifft.

Inwiefern?
Die Praxis der Abschiebungen war schon vor dem Anschlag verantwortungslos. Dieser Anschlag hat die Situation in Afghanistan nicht verändert, er hat uns nur noch einmal vor Augen geführt, wie gefährlich die Situation in Afghanistan ist, auch im Zentrum der Hauptstadt, das eigentlich besser unter Kontrolle sein sollte. In Afghanistan herrscht Krieg, im ganzen Land, in den verschiedenen Provinzen natürlich unterschiedlich intensiv. Da ist eine Binsenwahrheit zu sagen, in manchen Gegenden sei es schlimmer als in anderen, wie es offizielle Line der Bundesregierung ist. Mit Ausnahme zweier Provinzen gibt es überall im Land eine sehr hohe Frequenz sicherheitsrelevanter Vorfälle.

Die Sicherheitskräfte sind aber doch schon lange, auch von der Bundeswehr, ausgebildet worden. Wie kann es sein, dass sie im ganzen Land mit der Situation überfordert sind?
Die tun schon, was sie können. Da wird nicht bewusst geschlampt. Aber es gibt da große organisatorische und koordinatorische Probleme. In das Botschaftsviertel in Kabul zum Beispiel kommt man eigentlich nicht mit einem Fahrzeug rein, wenn man nicht die richtigen Dokumente vorweisen kann – was übrigens auch am Mittwoch der Fall war; die Bombe explodierte ja an der Sperre. Wir haben aber auch schon erlebt, dass Taliban in hochbewachte Militärstützpunkte hineinfahren konnten, weil sie Armee- oder Geheimdienstuniformen anhatten. Man muss aber schon fragen, was das jahrelange Training und das Geld, das dort hineingesteckt wurde, genützt hat. Ich sage nicht, dass alles nutzlos war. Aber ein Großteil des Trainings für die konventionellen Sicherheitskräfte, Armee und Polizei, war mehr eine symbolische Handlung, als dass es praktischen Nutzen hatte. Was da genau gemacht wurde, ist nie offen kommuniziert worden. Gezeigt wurden meist Deeskalations- und Schießtraining, aber das können die Afghanen auch selbst machen. Das ist reine Symbolpolitik, um zu zeigen: Wir lassen Afghanistan nicht fallen.

Noch weiß man nicht, wer hinter dem Anschlag steckt. Aber ist es so, dass Taliban und der sogenannte Islamische Staat die Hauptbedrohung darstellen?
Die Hauptbedrohung sind ganz klar die Taliban. Der IS ist ein Newcomer in Afghanistan. Ab 2015/16 haben die in sechs Provinzen zeitweilig Fuß gefasst. Damals gab es eine Krise bei den Taliban, aber die Abweichler sind nie zum IS übergelaufen. Das liegt auch daran, dass die Vorstellungen vom Islam und islamischem Staat zwischen beiden stark divergieren. Die Taliban haben es geschafft, den IS in fünf dieser Provinzen zu zerschlagen. Der IS hat jetzt nur noch eine sehr kleine territoriale Basis. Strategisch ist er nicht von Bedeutung, aber Anschläge lassen sich von dort natürlich schon organisieren. Manchmal behauptet der IS aber auch, dass er für einen Anschlag verantwortlich war, obwohl das nicht stimmt. Diesmal haben sich die Anhänger nicht zu Wort gemeldet, das macht eigentlich schon hellhörig. Auch die Taliban haben jegliche Beteiligung dementiert. Die afghanische Regierung behauptet jetzt, das Haqqani-Netzwerk stünde dahinter, eine Untergruppe der Taliban. Aber natürlich sind solche Aussagen in Afghanistan auch politisch gefärbt, da muss man vorsichtig sein.

Thomas Ruttig / SWP Berlin

Auch wenn sich Anschläge schlecht verhindern lassen. Wie sieht der strategische Kampf der Regierung gegen die Taliban aus?
Erstmal muss man sagen, dass sich die Taliban seit dem Abzug der meisten westlichen Kampftruppen reorganisiert haben. Und sie haben ihre territoriale Kontrolle ausdehnen können, auf heute 43 Prozent der Landesfläche. Mit einer Bevölkerung, die von 4,3 auf 8 Millionen gestiegen ist. Der afghanischen Regierung ist es trotz aller Anstrengungen nicht gelungen, die Initiative zurück zu gewinnen. Es gab ein paar sogenannte Säuberungsoperationen, aber meist reagiert sie eben nur. Ihre Special Forces, und das sind nur etwas mehr als 10.000 Leute, sind qualitativ gute Kämpfer, aber viel zu wenige und überbeansprucht. Es gibt 350.000 Soldaten und Polizisten, plus fast 100.000 Pro-Regierungs-Milizen. Aber verlassen kann man sich nur auf 10.000.

Wie ist die Rolle von Präsident Ashraf Ghani zu bewerten? Liegt es auch an ihm, dass es nicht so richtig vorangeht?
Er ist bekannt dafür, ein großer Zentralist zu sein. Nicht nur, was den afghanischen Staatsaufbau betrifft, sondern auch die Art und Weise, wie er arbeitet. Dabei dominiert er auch seinen Kabinettschef Abdullah Abdullah, mit dem er eigentlich eine Koalition unterhält. Häufig geht es nur um die Aufteilung der Machtposten mit den entsprechenden Pfründen. Es gibt zwar eine Regierungsstrategie, in der die richtigen Dinge postuliert werden wie Wirtschaftswachstum und Verbesserung der sozialen Lage. Aber das schlägt sich bisher nicht nieder. Das muss man nach den fast drei Jahren, die die Regierung jetzt im Amt ist, konstatieren.

Und das trotz eines internationalen Engagements in dem Land über beinahe 15 Jahre hinweg, mit einem immens hohen Aufwand an Personal und Geld.
Da kann man nur einen Schluss draus ziehen: Diese Investitionen hatten den falschen Fokus. Das Problem war stets auch, dass politische Schwerpunkte oft von den internationalen Gebern definiert worden sind. Da sind in den ersten Jahren wirklich hanebüchene Entscheidungen getroffen worden. Zum Beispiel, dass das Thema Landwirtschaft, wovon ja ein Großteil der Bevölkerung lebt, erst 2006 auf einer Konferenz als Thema „entdeckt“ worden ist, also fünf Jahre nach Beginn der Intervention. Dann konnte das in großen Teilen des Landes aber schon nicht mehr umgesetzt werden, weil es dort schon zu unsicher war. Die Amerikaner haben auch durchgesetzt, die Wehrpflicht abzuschaffen. Viele von denen, die sich heute noch für eine Berufsarmee oder -polizei entscheiden, bleiben dort nicht. Dafür sind die Bedingungen einfach zu schlecht.

Es ist aber nicht alles schlecht, die Krankenversorgung oder Bildung haben sich doch schon enorm verbessert.
Das stimmt. Viele der positiven Entwicklungen sind aber auch gnadenlos übertrieben worden. Statt elf Millionen Kindern, die zur Schule gehen, sind es zum Beispiel nur sechs Millionen. Wir sehen auch, dass Polio wieder aufblüht, obwohl die Krankheit fast als ausgerottet galt. Da sind Impfkampagnen nicht überall ausgeführt, aber abgerechnet worden.

Auch wenn die Entwicklungen nicht so positiv sind wie angenommen, haben doch viele Afghanen zum Beispiel von den besseren Bildungsmöglichkeiten profitiert. Wenn die als Flüchtlinge das Land verlassen und nicht mehr zurückkommen, fehlen dann in Afghanistan nicht genau die Leute, die man braucht, um das Land nach vorn zu bringen?
Natürlich muss das verhindert werden. Aber die Probleme, vor denen viele Afghanen fliehen, haben wir Deutschen und die anderen westlichen Länder mitverursacht, auch durch die vielen falschen Entscheidungen. Es verlassen auch nicht nur Gebildete das Land, da sind auch Analphabeten darunter. Gerade in der Mittelschicht gibt es einen fast schon starrköpfigen Patriotismus nach dem Motto: Wir bleiben hier und versuchen, was zu machen. Aber die Strukturen in Afghanistan lassen das im Grunde gar nicht zu.

Thomas Ruttig ist Kodirektor des unabhängigen Thinktanks Afghanistan Analysts Network. Er  forscht seit 1980 über Afghanistan, lebte mehr als zehn Jahre dort und besucht das Land weiter regelmäßig.

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