Drogenkartelle in Mexiko - „Wir würden auch töten“

Mexiko befindet sich im Würgegriff der Drogenkartelle, die Gewalt erreicht immer neue Höchststände. Und weil der Staat beim Kampf gegen die kriminellen Banden versagt, organisieren die ersten Gemeinden ihre eigenen Bürgerwehren – mit Erfolg

Erschienen in Ausgabe
Ende 2013 beschlossen die Bürger in Michoacan, den Schutz ihrer Leben selbst in die Hand zu nehmen / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Andrzej Rybak, geboren 1958 in Warschau, ist Journalist und lebt in Hamburg. Er arbeitete mehrere Jahre als Redakteur und Reporter für Die Woche, den Spiegel und die Financial Times Deutschland, berichtete als Korrespondent aus Moskau und Warschau. Heute schreibt er als Autor vor allem über Lateinamerika und Afrika u.a. für Die Zeit, Focus und Capital.

So erreichen Sie Andrzej Rybak:

Anzeige

José Valdes lehnt sich an die Mauer eines steinernen Schutzturms. Er hält eine alte Kalaschnikow in den Händen und beobachtet aufmerksam die Autos, die in die Stadt hineinwollen. Sie rollen nur im Schritttempo vorbei, dafür sorgen mehrere große Buckel, die man hier aufgeschüttet hat. Die meisten Fahrer grüßen Valdes, man kennt sich in Tancítaro, der Hauptstadt eines mexikanischen Gemeindeverbands mit 30 000 Einwohnern. José Valdes trägt ein buntes Hemd und einen ausladenden Hut. Die kugelsichere Weste hat er im Schutzturm deponiert, sie war ihm zu warm an diesem Julitag. Valdes gehört zu einer Gruppe ziviler Bürgerwehren, die hier in Tancítaro die Einfahrtsstraßen überwachen, um die Schergen der Drogenkartelle fern von ihrer Gemeinde zu halten. Alle 15 Tage kommt er freiwillig zum Dienst an der Barrikade, wie die Kontrollposten genannt werden. Nach 24 Stunden kehrt er zu seiner normalen Arbeit zurück: Avocado-Anbau.

„Früher mussten wir in Tancítaro um unser Leben fürchten“, sagt der untersetzte Mann. „Die Drogenkartelle haben täglich unsere Leute entführt, gefoltert und ermordet.“ Valdes setzt kurz aus, die Erinnerung scheint immer noch zu schmerzen. Dann fährt er fort: „Wessen Familie kein Lösegeld zahlen konnte, den lieferten sie zerstückelt in Plastiksäcken vor die Haustür, um Angst und Schrecken zu verbreiten.“ Auch Kinder und schwangere Frauen haben die Narcos nicht verschont. Irgendwann war es den Bürgern zu viel und sie griffen zu den Waffen. Es gab ein paar Schießereien, einige Häuser der Gangmitglieder wurden gestürmt.

Hauptkampfplatz der Drogenkartelle

Fast jede Familie beteiligte sich an dem Aufstand, die Frauen kochten Essen, die Männer gingen bewaffnet auf Streife. Heute zählt die Bürgerwehr etwa 4000 Mitglieder. „Seitdem wir die Kriminellen vertrieben haben, herrschen wieder Ruhe und Ordnung“, prahlt Valdes. „Man kann neben der Straße schlafen, da passiert nichts.“ Er unterbricht kurz das Gespräch und lauscht dem Funkgerät. Ein Kollege von einem der 70 in der gesamten Gemeinde verstreuten Kontrollposten will wissen, ob alles in Ordnung ist. „Alles ruhig“, erwidert der 40-jährige Valdes. Sie plaudern kurz miteinander, dann herrscht wieder Funkstille.

Soldaten des mexikanischen Heeres kontrollieren am 06.07.2013 in der Ortschaft La Ruana im Bundesstaat Michoacán Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern. Im mexikanischen Bundesstaat Michoacán haben die Tempelritter das Sagen. Das pseudo-religiöse Kartell erhebt Steuern und terrorisiert die Bevölkerung.

Die Gemeinde Tancítaro liegt im Bundesstaat Michoacán, seit Jahren Hauptkampfplatz der berüchtigten Drogenkartelle. Sie ist auch das Zentrum der Avocado-Industrie. Die grüne Frucht hat Tancítaro reich gemacht, jeden Tag schicken die hiesigen Pflanzer Avocados im Wert von einer Million Dollar in die USA. Dieses Geld hat die Kartelle angelockt, die ihre Drogenprofite durch Schutzgeld- und Lösegelderpressung ergänzen wollten. Mithilfe der korrupten Polizei machten sie den Leuten das Leben zur Hölle, jagten die Bauern von ihren Höfen, erpressten „Tantiemen“ für jede verkaufte Avocado. Der Staat schaute weg, wie so oft in Mexiko. Es herrschte das grausame Regime der Drogenmafia.

Bürgerwehr als Selbstschutz

Als die Regierung im Jahr 2006 schließlich doch noch Armeeeinheiten nach Michoacán schickte, um die Kartelle zu zerschlagen, wurde alles nur noch schlimmer. Zwar konnte das Militär einige Drogenbosse verhaften oder töten, doch das führte gleichzeitig zur Zersplitterung der Banden. Die Gewalt nahm weiter zu, denn die neuen Gruppen – über 100 an der Zahl – lieferten sich einen erbarmungslosen Krieg um die Vorherrschaft. Tancítaro war eine begehrte Beute, mal erlangten die „Templer“ (Caballeros Templarios) die Kontrolle, mal eine der vielen anderen Gangs wie die „Neue Generation“ (Nueva Generacion) oder „La Familia“.

Die Gemeinde zahlte einen hohen Blutzoll: Zwischen 2010 und 2013 sind fast jeden Tag eine bis zwei Personen entführt oder ermordet worden. Ende 2013 beschlossen die Bürger, den Schutz ihres Wohlstands und ihrer Leben selbst in die Hand zu nehmen. Vorbild waren die Nachbarn aus der Gemeinde Tepalcatepec: Unter der Führung des Arztes José Manuel Mireles hatten sie ein paar Monate zuvor die erste Bürgerwehr in Michoacán aufgestellt. Tatsächlich konnten die Avocado-Bauern problemlos die Macht übernehmen, denn die korrupten Polizisten verließen fluchtartig die Stadt. „Wir haben uns zusammengetan, Waffen gekauft und Barrikaden gebaut“, erinnert sich Valdes. Zuerst waren die Kontrollposten mit Sandsäcken befestigt, heute gleichen sie mittelalterlichen Schutzburgen, aus Zement und Steinen, mit schmalen Schießscharten. Sie sind bombensicher, von der Terrasse im Obergeschoss kann man die Gegend gut überblicken. An den Mauern hängen Kreuze und Bilder der Muttergottes. Das Ganze hat etwas von wildem Westen, aber es ist auf jeden Fall ein Neuanfang.

Der Staat erfüllt seine Funktionen nicht mehr

Die zivile Machtergreifung, koordiniert und finanziert vom Verband der Avocado-Pflanzer, verstieß gegen mehrere mexikanische Gesetze, vor allem gegen das Waffengesetz, das den privaten Besitz von schweren Waffen untersagt. Doch Valdes winkt ab: „Habe ich nicht das Recht, meine Kinder vor Killern zu schützen, wenn der Staat seinen Pflichten nicht nachkommt?“ Die Mitglieder der Bürgerwehr kauften ihre Maschinengewehre auf dem Schwarzmarkt, meist gebrauchte Kalaschnikows, die hier „Cuernos de chivo“ (Ziegenhörner) genannt werden. „Ich habe für meine AK-47 rund 350 Dollar bezahlt“, schimpft Valdes. „Und nun höre ich von den korrupten Politikern, dass ich die Waffe abgeben soll, weil der Besitz illegal ist.“ Seine Hoffnung gilt nun Andrés Manuel López Obrador. „Amlo“, wie der am 1. Juli neu gewählte mexikanische Präsident genannt wird, lud den Milizenführer José Manuel Mireles dazu ein, auf der Liste seiner Morena-Partei für das Parlament zu kandidieren. „Wir fordern eine Legalisierung der Bürgerwehren“, sagt Valdez. „Es wäre ein Zeichen, dass der Staat wirklich Frieden und Sicherheit will.“

Ein Team von Forensikern sucht nach Beweisen am Tatort, wo der Bürgermeister von Tancitaro, Gustavo Sanchez, und der Landwirtschaftsminister, Rafael Equihua, am 27. September 2010 in der Nähe von Uruapan ermordet wurden.

Der Fall Tancítaro zeigt, wie fragil die Situation in Mexiko geworden ist: Wenn der Staat seine Funktionen nicht erfüllt, sorgen eben die Bürger selbst für Recht und Ordnung. Mexikos neuer Regierungschef übernimmt ein zerrissenes Land, das an seine Politiker nicht mehr glaubt. Die Korruption hat die wichtigsten staatlichen Institutionen zersetzt, seit 2006 sind rund 200 000 Menschen dem Drogenkrieg zum Opfer gefallen. Auf dem Paseo de la Reforma, der Nobelmeile von Mexiko-Stadt, harren seit inzwischen vier Jahren die Angehörigen und Freunde jener 43 Studenten aus, die von der Polizei und den Drogenkartellen entführt wurden – und bis heute verschwunden sind. Der Fall wurde nie vollständig aufgeklärt. „Amlo kann als Präsident nur Erfolg haben, wenn er die Sicherheitslage im Land verbessert“, sagt Ernesto López Portillo, der Geschäftsführer des Forums für demokratische Sicherheit an der Iberoamerikanischen Universität in Mexiko-Stadt. „Seine Vorschläge zur Schaffung einer Nationalgarde könnten aber zu einer weiteren Militarisierung des öffentlichen Lebens führen.“

Professionelle Unterstützung für die Rekruten

Ein blauer Pick-up taucht vor der Barrikade auf, auf der Pritsche sitzen vier Polizisten mit kugelsicheren Westen und Maschinenpistolen. Sie gehören dem Korps für öffentliche Sicherheit von Tancítaro an, abgekürzt Cusept, das manchmal scherzhaft als Avocado-Polizei bezeichnet wird. Lorena Flores springt vom Wagen herunter und grüßt freundlich. Man kennt und schätzt sich. „Ist hier alles ruhig?“, fragt Lorena. „Sicher“, erwidert José Valdez. „Diese miesen Typen lassen sich seit vier Jahren nicht mehr blicken.“ Lorena, eine attraktive Frau mit grün lackierten Fingernägeln, weiß es besser als alle anderen. Sie ist eine der ersten Polizistinnen, die sich 2015 bei der Cusept beworben haben und nach dreimonatiger Ausbildung den Dienst antraten. „Ich wollte mich nicht mehr erpressen lassen und ständig in Angst um meine Kinder leben“, sagt die 44-jährige Mutter von sechs Töchtern. „Also beschloss ich, aktiv gegen die Kriminellen vorzugehen.“ Ihr damaliger Mann haderte mit ihrem neuen Beruf, die Beziehung zerbrach. Ihr neuer Lebenspartner ist ebenfalls Polizist – in der gleichen Einheit.

Nach der Machtübernahme durch die Bürgerwehren haben die Avocado-Produzenten und die Kommunalpolitiker beschlossen, eine schlagkräftige Polizeitruppe aufzustellen, die komplett aus den Bewohnern der Gemeinde rekrutiert wird. „Die Bürgerwehren haben die Kartelle vertrieben und die wichtigsten Verteidigungsaufgaben übernommen“, sagt Hugo Mendoza Sanchez. „Doch es war von Anfang an klar, dass die Stadt eine professionelle Truppe braucht, um die Gangs dauerhaft abschrecken zu können.“ Die Rekruten erhielten eine dreimonatige Ausbildung von der Elitetruppe der mexikanischen Polizei, sie werden aber nicht vom Staat finanziert, sondern von den Avocado-Produzenten, die je nach Größe ihrer Plantage einen Beitrag leisten. Mendoza, ein 29-jähriger breitschultriger Mann mit militärischer Erfahrung und einer schnittigen Frisur, kommandiert heute 86 Personen, darunter fünf Frauen.

Bürgerwehren laut Bundesgesetz illegal

Es hat lange gedauert, doch inzwischen wird die private Truppe von der Regierung Michoacáns anerkannt, die Polizisten von Cusept tragen die gleichen Polizeiuniformen und fahren die gleichen Autos wie ihre staatlichen Kollegen. „Wir unterstehen zwar dem Rat für öffentliche Sicherheit in Tancítaro, in dem der Bürgermeister, die Bürgervertreter und die Avocado-Produzenten vertreten sind“, sagt Sanchez. „Aber wir haben inzwischen alle offiziellen Akkreditierungen des Bundesstaats Michoacán und arbeiten eng mit der föderalen Polizei zusammen.“ Selbstbewusst behauptet er: „Wir würden nie einen Befehl ausführen, der gegen das Gesetz verstößt.“ Einige der Cusept-Polizisten haben die Gewalt der Kartelle selbst erlebt, andere wollen nur einen Beitrag zur Sicherheit der Gemeinde leisten und ihre Familien schützen. Der Job bei Cusept ist gut bezahlt, die Truppe gut ausgerüstet und schlagkräftig. „Wir haben alles gelernt, was Spezialeinheiten leisten müssen“, sagt Sanchez. „Wir wurden sowohl für den Kampf in der Stadt wie auch im Gelände ausgebildet.“ Das Hauptquartier befindet sich in einem modernen Betonbau am Rande der Stadt, das vor einem Jahr fertiggestellt wurde.

Landschaft im Bundesstaat Michoacán, seit Jahren Hauptkampfplatz der
mexikanischen Drogenkartelle

Sanchez weiß, dass die Bürgerwehren laut Bundesgesetz eigentlich illegal sind. Doch er hält sie für unentbehrlich. „Die Bürgerwehren sind extrem wichtig für die Sicherheit in der Gemeinde, sie informieren uns über alle verdächtigen Vorkommnisse, sodass wir sofort reagieren können“, sagt der Polizist. Allein schon wegen ihrer Ausrüstung mit 400 Funkgeräten gilt: „Ohne sie können wir unsere Aufgabe nicht erledigen.“ Der Erfolg des Tancítaro-Modells steht außer Frage: Seit 2015 gab es keine Entführungen mehr in der Gemeinde und auch keine Schießereien zwischen verfeindeten Banden. Familien, deren Obstplantagen von Kartellschergen beschlagnahmt worden waren, bewirtschaften jetzt ihre Farmen wieder. Überall wird gebaut, neue Läden werden eröffnet. „Wo Frieden herrscht, gibt es mehr Entwicklung“, sagt Sanchez.

Auch Politiker unterstützen die Milizen

Der Gouverneur von Michoacán, Silvano Aureoles, sieht das allerdings ganz anders. Immer wieder hatte er versucht, die Bürgerwehren zu entwaffnen; in anderen Gemeinden griff er bereits zu: Der Bürgerwehrführer Manuel Mireles aus Tepalcatepec wurde wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet und verbrachte drei Jahre im Gefängnis. In Tancítaro war Aureoles vor einer direkten Konfrontation zurückgeschreckt, um der Avocado-Industrie nicht zu schaden; die Avocado-Bauern stehen geschlossen hinter der heutigen Ordnung. „Vielleicht kann der neu gewählte Präsident in Mexico City den Gouverneur überzeugen“, sagt Kommandant Sanchez. „Auch die Politiker aller Parteien in Tancítaro unterstützen die Milizen.“

Auf den ersten Blick sieht Tancítaro aus wie eine typische mexikanische Kleinstadt. Es gibt einen zentralen Platz mit einem Musikpavillon und einer großen Kirche. Doch die Pick-ups sind neuer, die Straßen sind sauberer gefegt als anderswo. Die Menschen wissen, wem sie ihren Wohlstand verdanken, und zeigen sich dankbar: Entlang der Hauptstraße haben sie der Avocado zwei Denkmäler gewidmet; das eine zeigt die gitarrenförmige Kontur der Frucht, das andere eine angeschnittene Avocado. Die meisten Straßen, die durch die Gemeinde führen, sind von Avocado-Plantagen gesäumt. Die Bäume sind schwer beladen mit Früchten, geerntet wird das ganze Jahr über. „Avocados waren wie ein Geschenk Gottes für unsere Gemeinde“, sagt Chema Flores, einer der ersten und größten Avocado-Pflanzer der Gegend. „Als die Leute Mais und Bohnen anbauten, waren die Leute arm. Heute sind wir eine reiche Gemeinde, es gibt Arbeit für jeden, der arbeiten will.“

„Ganz Mexiko leidet unter der Mafia“

In Mexiko werden Avocados zwar schon seit Tausenden von Jahren kultiviert und sind fester Bestandteil der Speisekarte; die Avocado-Industrie setzt 1,5 Milliarden Dollar jährlich um. Doch in Tancítaro, das auf einer Höhe von 2100 Metern liegt, wurden die ersten Bäume erst vor 50 Jahren gepflanzt. „Wir waren aber die Ersten, die den Export der Frucht organisiert haben“, sagt Flores, der seit 1972 Avocados anbaut. „Deswegen ist Tancítaro die Welthauptstadt der Avocado.“ Michoacán ist Mexikos größter Avocado-produzierender Staat. Außer in die USA werden die Avocados auch nach Europa, in die Vereinigten Arabischen Emirate, nach Japan und China verschifft.

Avocados haben dem Ort Tancítaro Wohlstand gebracht, den es zu verteidigen gilt

Während der Diktatur der Mafia musste Flores täglich um sein Leben und das seiner Angehörigen fürchten. Die Kriminellen hatten seinen 16-jährigen Sohn entführt und eine Million Dollar Lösegeld verlangt, „aber ich konnte nur 500 000 Dollar auftreiben“. Nach einer Woche kam er trotzdem wieder frei. Auch Flores selbst wurde zwei Mal gekidnappt. Wobei er unumwunden klarstellt, dass sich nicht nur Tancítaro im Würgegriff der Drogenkartelle befand: „Ganz Mexiko leidet unter der Mafia, es spielt keine Rolle, ob ein Gebiet arm oder reich ist.“ Es sei vielmehr eine allgemeine Erfahrung, dass kriminelle Gangs die Lücke ausfüllen, wenn die staatliche Ordnung zusammenbricht. Der 65-Jährige mit seinem schlohweißen Schnurrbart traut auch Andrés Manuel López Obrador, dem neuen Präsidenten, nicht zu, die Lage zu verbessern. „Er sagt zwar, dass er die Korruption beenden will. Doch er ist ein Populist, der jedem nach dem Mund redet.“

Baltasar Naranjo gibt dem neuen Präsidenten ebenfalls nur wenig Erfolgschancen. „Der Staat in Mexiko ist Teil des organisierten Verbrechens“, sagt Naranjo, der eine kleine Farm mit 400 Avocado-Bäumen besitzt. „Obrador müsste alle staatlichen Institutionen neu aufbauen, doch woher will er Leute nehmen, die sauber sind?“ Naranjo hat zwölf Jahre auf Baustellen in den Vereinigten Staaten gearbeitet, bis er irgendwann Heimweh verspürte und nach Tancítaro zurückkehrte. Von seinen Avocados kann er gut leben, er macht etwa 50 000 Euro Gewinn im Jahr. „Ich glaube zwar nicht, dass wir uns auf Dauer selbst regieren können“, sagt der Pflanzer. „Trotzdem unterstütze ich jetzt unsere Bürgerwehren.“

Rückkehr zum Feudalismus?

Das Experiment der Tancítaro wird allerdings nicht nur vom Gouverneur von Michoacán bezweifelt. Kritiker meinen, dass die Avocado-Stadt zum Feudalismus zurückgekehrt sei und die Avocado-Pflanzer die alten Gutsherren ersetzt hätten. Die Polizisten seien nun gewissermaßen die Ritter und die Bürgerwehren die Knechte, die ihre Befehle von den Landbesitzern erhielten. Der „Sicherheitsrat“ von Tancítaro habe demokratische Institutionen ersetzt und herrsche autoritär. „Das Modell kann man leicht kritisieren, wenn man in einem bequemen Sessel in Mexiko-Stadt sitzt und nicht ständig bedroht wird“, schimpft Tancítaros Bürgermeister Arturo Olivera Gutiérrez, der den Aufbau der Bürgerwehren von Anfang an unterstützt hat. „Vor vier Jahren ließen wir unsere Kinder nicht draußen spielen. Niemand verließ das Haus nach Einbruch der Dunkelheit. Heute können wir unser Leben wieder genießen.“

Der Katholizismus ist in der mexikanischen Bevölkerung fest verankert

Für den Bürgermeister, der nach sechs Jahren Amtszeit nicht mehr kandidiert, sind die Bürgerwehren von Tancítaro ein leuchtendes Beispiel für andere mexikanische Gemeinden, die gegen Kriminalität und Gewalt kämpfen. „Der Staat allein wird es nicht schaffen“, sagt Olivera. „Nur bei massiver Beteiligung der Bürger können wir den Drogenkartellen noch Paroli bieten. Die Sicherheit kann es nur geben, wenn sich die Bürger engagieren.“ Weil die Gewalt in Mexiko immer neue Höchststände erreicht, glauben auch immer mehr Leute, dass Bürgerwehren und privat finanzierte Polizeikräfte wie in Tancítaro ein notwendiges Übel sind. Im Bundesstaat Michoacán, oft als „Ground Zero“ im Kampf gegen die Drogenkartelle bezeichnet, sind nach offizieller Statistik seit 2006 fast 12 000 Menschen ermordet worden, die Dunkelziffer ist noch viel höher. Relativ gesehen hat sich Michoacáns Mordrate von 12,28 Tötungen pro 100 000 Einwohner im Jahr 2007 auf inzwischen 27,81 mehr als verdoppelt. In Berlin, der deutschen Hauptstadt des Verbrechens, wird jährlich gerade mal ein Mord pro 100 000 Einwohner verübt.

„Wir würden töten, um unser Dorf zu verteidigen“

In Aguacate Sur, einem rund 20 Kilometer südlich von Tancítaro gelegenen Dorf, sind während der Drogenkriege 27 Menschen von den Kartellen entführt und ermordet worden. Von manchen fehlt bis heute jede Spur. „Wir werden von unseren Nachbarn hier wie Helden gefeiert“, sagt Gustavo Garcia. Wir haben auch bei ihnen den Grausamkeiten ein Ende gesetzt und sorgen dafür, dass sich die Zeit nicht wiederholt.“ Zusammen mit drei anderen Männern hält Garcia Wache an einer „Barrikade“, die an einer viel befahrenen Kreuzung direkt gegenüber der Stierkampfarena liegt. „Ich opfere gerne zwei Tage im Monat, um meinen Beitrag für unser Dorf zu leisten“, sagt der 26-jährige Garcia und rückt seine Baseballmütze zurecht. „Das ist keine perfekte Lösung. Aber die beste, solange der Staat keine Sicherheit garantieren kann.“

An die Getöteten und Verschwundenen aus Agua­cate Sur erinnert ein Plakat mit 27 Namen, das am steinernen Turm der Barrikade hängt. Darunter finden sich Kreuze und ein Marienbildnis. „Wir sind allesamt gute Christen“, sagt Garcia. „Aber wir würden töten, um unser Dorf zu verteidigen“, schwört er, und sein Mannschaftskommandant Raimundo Vasquez nickt zustimmend zu. Der 65-Jährige ist nicht mehr ganz flink auf den Beinen. „Natürlich würde ich lieber zu Hause auf dem Sofa sitzen und mit meinen Enkeln spielen“, sagt er. „Doch wir müssen hier ausharren. Erst wenn der Staat die Kartelle zerschlägt und wir wirklich sicher sind, werden wir die Waffen niederlegen.“

Fotos: picture alliance

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.















 

Anzeige