Flucht aus Afrika - Afrikanische Renaissance in der deutschen Politik

Afrika gilt noch immer als das Sorgenkind der Welt. Hunderttausende flüchten aus ihrer Heimat, um in Europa eine bessere Zukunft zu finden. Dabei müsste vor Ort investiert werden. Ein Marshallplan für Afrika könnte den Anstoß geben

Ändern sich die Lebensbedingungen in Afrika nicht, werden die Flüchtlingsströme nicht abebben / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Stefan Mair ist Afrikaexperte und seit 2010 Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Zuvor war er Forschungsdirektor bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik.

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Afrika erfreut sich in Deutschland großer politischer Konjunktur. Der Bundespräsident, die Bundeskanzlerin, der Außenminister und die Verteidigungsministerin reisen dorthin, der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist ein häufiger Gast auf dem Kontinent. Ein umfassender Marshallplan wurde für Afrika vom BMZ vorgeschlagen.

Der Beginn dieser Konjunktur ist leicht zu datieren. Gegen Ende des Jahres 2015, als sich die im Sommer rapide ansteigende Flüchtlingsbewegung aus dem Mittleren Osten langsam abzuschwächen begann, setzten sich dreierlei Erkenntnisse durch. Erstens: dass sich eine solche Flüchtlingsbewegung schwer kontrollieren lässt. Zweitens: dass sie zu großen innergesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Verwerfungen in Europa führen kann. Und drittens: dass in Afrika sehr viel mehr Menschen als im Mittleren Osten leben, die entweder guten Grund zur Flucht haben oder sich nicht zu Unrecht ein besseres Leben in Europa erhoffen. Dies musste zwangsläufig die Aufmerksamkeit auf Afrika lenken und die Frage aufwerfen, wie ein massiver Wanderungsstrom aus dem südlichen Nachbarkontinent wenn nicht völlig zu verhindern, so doch in bewältigbare Bahnen zu leiten sei.

Kein Mangel an Entwicklungsplänen

Leider ließ diese Besorgnis zwei seit Langem zweifelhafte Annahmen fröhliche Urständ feiern: Erstens bedürfe es nur eines ausreichend ambitionierten und umfassenden Plans, um Afrika zu entwickeln. Zweitens müsse man einfach nur noch mehr Ressourcen in den Kontinent umleiten, um dies zu erreichen. Tatsächlich leidet Afrika nicht unter einem Mangel an grandiosen Entwicklungsplänen.

Der letzte davon mit umfassendem Anspruch, dessen Wirkung nur schwer nachweisbar ist, ist die New Partnership for Africa’s Development (nepad). Von afrikanischen Regierungen mithilfe amerikanischer und europäischer Berater 2000 entwickelt, von der Afrikanischen Union 2001 angenommen und von der G8 2002 im Rahmen des Afrikaaktionsplans mit weitreichenden Finanzierungszusagen versehen, fristet er mittlerweile ein Dasein in den Schubladen afrikanischer Institutionen und westlicher Entwicklungsbehörden.

Auch wenn die Finanzierungszusagen für nepad seitens der G8 kaum eingehalten wurden, kann auch die zweite Annahme als weitgehend widerlegt gelten: Addiert man sämtliche Zuflüsse an multilateraler und bilateraler Hilfe nach Afrika seit den sechziger Jahren auf, wird leicht ein Volumen erreicht, das weit über dem des Marshallplans für Europa liegt. Setzt man die zwischen 1960 und 2014 an Subsahara-Afrika geleistete Entwicklungshilfe in Höhe von 1.285 US-Dollar pro Kopf in Bezug mit der Summe von 166 US-Dollar pro Kopf, mit der im selben Zeitraum Ost-, Südostasien und der Pazifik unterstützt wurden, und vergleicht sie dann mit dem jeweiligen Zuwachs an BIP in beiden Regionen, ergibt sich für die Anwälte erhöhter öffentlicher Finanztransfers ein wenig überzeugendes Bild.

Dennoch: Die gegenwärtige Aufmerksamkeit für Migrations- und Fluchtursachenbekämpfung hat einen großen Vorteil: Sie lenkt den Blick stärker als bisher auf die Frage, wie es gelingen könne, Fluchtgründe zu mindern und wirtschaftliche Perspektiven für Abwanderungswillige im Heimatland zu schaffen. Sie rückt damit die Verantwortung für die Beilegung von Konflikten und die Beendigung politischer Unterdrückung sowie die Schaffung von Einkommensmöglichkeiten für potenzielle Migranten in den Fokus.

Motive für Flucht und Migration

Blickt man auf die Hauptherkunftsländer von Flüchtenden aus Afrika in Europa, ragen Eritrea, Nigeria, Somalia, Sudan und Gambia hervor. Im Vergleich zu der Menge von Repression und Kriegsgewalt unmittelbar betroffener Afrikaner ist die Zahl der in Deutschland registrierten Flüchtlinge aus Afrika relativ gering.

Der Hauptgrund hierfür dürfte sein, dass der großen Mehrheit der Betroffenen die ökonomischen Mittel für die Flucht nach Europa fehlen. Sie suchen deshalb vorerst in sicheren Regionen des Heimatlandes oder in einem Nachbarstaat Zuflucht. Die UNHCR geht von fast 4,5 Millionen Flüchtlingen in Afrika aus. Mittelfristig kann hieraus durchaus eine Zweitrundenmigration  erfolgen.

Für die Afrikapolitik erfolgen aus dieser Lage dreierlei Handlungsstränge: Ein nachdrückliches Engagement für die Herstellung von Frieden und Sicherheit ist nach wie vor unerlässlich. Daraus erwächst die weitere Verpflichtung auch für europäische Staaten, zu solchen Missionen militärisch beizutragen. Diese Aufgabe kann nicht von afrikanischen Streitkräften allein gestemmt werden.

Kein Rückgang der Flüchtlingszahlen

Eskalieren oder schwelen diese Konflikte weiter, werden die afrikanischen Flüchtlingszahlen kaum zurückgehen. Trotz der teilweisen Restauration autoritärer Regime nach den Demokratisierungswellen der neunziger Jahre, gibt es in Afrika nur wenige autoritäre Systeme, in denen die politische Repression so massiv ausfällt, dass sie zahlreiche Menschen in die Flucht treibt.

Die Versuche Deutschlands und Europas, diese Regime durch äußeren Druck zu ändern, waren bisher nicht sehr erfolgreich. Dennoch gibt es zu ihrer weiteren Isolierung und Sanktionierung kaum Alternativen – schon allein, um den Nachahmungseffekt einzudämmen.

Wirtschaftliche Perspektiven durch private Investitionen

Die Tatsache, dass das Gros der afrikanischen Flüchtlinge in Lagern des Heimatlandes oder des Nachbarstaates unterkommt, macht es notwendig, für sie dort wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen. 

Die wirtschaftliche Stabilisierung von Flüchtlingsgemeinden und damit die Minderung des Anreizes, weiterzuziehen, wird aber nur gelingen, wenn die lokale und die internationale Privatwirtschaft in Arbeitsplätze investieren, die Einkommen schaffen. Diese Aufgabe stellt sich nicht nur für die Aufnahmeregionen von Flüchtlingen, sondern für die Entwicklung Afrikas generell. 

Darüber hinaus müssen afrikanische Regierungen entschlossene Maßnahmen zur Handelserleichterung treffen. Nur dann werden afrikanische Standorte für Investitionen im Rahmen globaler Wertschöpfungsketten attraktiv. Schließlich scheitern Markterschließung und Handelsverkehr nicht nur an nationalen Grenzen, sondern an den in vielen afrikanischen Ländern noch immer üblichen Straßensperren, die von Polizei und Staatsgewalt zur Erhebung informeller Steuern genutzt werden.

Geringe Verlässlichkeit von Recht und Politik

Diese Form der informellen Besteuerung, gemeinhin Korruption genannt, weist auf ein weiteres zentrales Investitionshemmnis hin: die geringe Verlässlichkeit von Recht und politischen Rahmenbedingungen. Investitionen, vor allem im verarbeitenden Gewerbe, haben stets mehrjährige Abschreibungsperioden. Wenn das Risiko hoch ist, dass während dieser Periode ein umfassender politischer Wechsel die Gültigkeit von Lizenzen, die bestehenden Marktkonstellationen und Geschäftsbedingungen infrage stellt, wird der Investor von einem Engagement Abstand nehmen. Ähnlich investitionshemmend wirkt sich mangelnde Rechtssicherheit aus. 

Fast alle afrikanischen Staaten nehmen hintere Plätze im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International ein. Deshalb ist die Unterstützung für den Aufbau verlässlicher politischer Institutionen, von Rechenschaftspflicht und Rechtssicherheit eine unerlässliche und vordringliche Aufgabe für das deutsche Afrikaengagement.

Zu Recht ist in den vergangenen Jahren der Errichtung einer hinreichenden physischen Infrastruktur wieder mehr Aufmerksamkeit in der Entwicklungszusammenarbeit geschenkt worden. Sie ist Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung. Die größte Schwäche afrikanischer Infrastruktur liegt aber weniger in fehlenden Investitionen zu ihrem Aufbau als vielmehr in ihrer unzureichenden Instandhaltung. Hier mangelt es sowohl an der Effektivität der Gebührenerhebung wie auch an deren Verwendung zu notwendigen Reparatur- und Erneuerungsmaßnahmen. 

Investitionen bedürfen allerdings nicht nur einer physischen Infrastruktur, sondern auch eines Arbeitskräftereservoirs, das über hinreichende Fertigkeiten verfügt. Zwar steht außer Zweifel, dass die meisten afrikanischen Länder aufgrund des anhaltenden Bevölkerungswachstums künftig zu den wenigen Regionen gehören werden, in denen das Arbeitskräftepotenzial groß ist. Doch ohne ein Minimum an allgemeinbildenden Fertigkeiten ist dieses Potenzial für die meisten Investoren nicht zu heben.

Die neue deutsche Afrikapolitik

Vieles von dem bisher Beschriebenen macht deutlich, wie sehr sich die Voraussetzungen für einen Marshallplan im heutigen Afrika von denen im vom Krieg zerstörten Europa unterscheiden. Der Marshallplan war damit nicht mehr als eine Anschubfinanzierung, die weniger der Schaffung als vielmehr der Wiedererrichtung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme diente.

Auch ein Marshallplan für Afrika bietet keine Abkürzung für die mühsame sozioökonomische Entwicklung des Kontinents. Herausforderungen werden nicht durch umfassende Entwicklungspläne, sondern nur durch funktionierende staatliche, gesellschaftliche und privatwirtschaftliche Institutionen bewältigt werden können. Die Überprüfung entwicklungspolitischer Glaubenssätze bietet aber die Chance, zwei Tendenzen zu verstärken, die sich in den vergangenen Jahren bereits abgezeichnet haben. Erstens hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Entwicklung nicht allein, wohl auch noch nicht einmal vorrangig Staatsaufgabe ist – weder aufseiten afrikanischer Regierungen noch aufseiten ihrer europäischen Partner.

Eine an der Schaffung von wirtschaftlichen Perspektiven ausgerichtete Afrikapolitik muss zweierlei leisten: Zum einen muss sie von der ganzen Bundesregierung und nicht nur einem Ministerium getragen werden. Fachressorts, die einen relativen Kompetenzvorsprung in bestimmten Politikfeldern haben, müssen vom BMZ noch viel stärker in die Ausgestaltung von Unterstützungsleistungen einbezogen werden, als dies bisher der Fall ist.

Chance für Deutschland

Zweitens ist es völlig illusorisch, darauf zu setzen, ganz Afrika könne sich mit dem gleichen Tempo und den gleichen Erfolgsaussichten entwickeln. Es wird auch in den nächsten Jahrzehnten einige wenige Länder oder Regionen in Afrika geben, die sich schneller und erfolgreicher entwickeln als andere. Drei aussichtsreiche Anwärter hierfür sind die Küstenregion, die nördlich den Golf von Guinea begrenzt und die urbanen Zentren der Elfenbeinküste, Ghanas, Togos, Benins und Nigerias umfasst, dann nach einem Regimewechsel in Simbabwe und Angola das südliche Afrika sowie Ostafrika.

Es bleibt zu hoffen, dass die intensive Beschäftigung mit Afrika in der deutschen Politik nicht von kurzer Dauer ist und nicht von Überlegungen dominiert wird, sich möglichst effektiv von Zuwanderung abzuschotten. Die Entwicklung des Nachbarkontinents ist für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft eine große Chance, wird aber nicht notwendigerweise zu einer Verringerung des Migrationsdrucks führen. Ein relativ höheres Entwicklungsniveau in Afrika könnte auch zur Folge haben, dass sich mehr Afrikaner die Auswanderung nach Europa leisten können. Nur das Vertrauen in die Zukunftsperspektiven des eigenen Staats, der eigenen Wirtschaft und der eigenen Gesellschaft kann dieser Verlockung entgegenwirken.

Dies ist ein Auszug aus Dr. Stefan Mairs Aufsatz in dem von Wolfgang Ischinger und Dirk Messner herausgegebenen Band „Deutschlands neue Verantwortung“, der heute im Econ Verlag erschienen ist. Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, die dieses Wochenende stattfindet.

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