Emmanuel Macrons „Rede zur Lage der Nation“ - Aber bitte mit Würde

Emmanuel Macron kämpft gegen den Vorwurf, er sei ein Präsident für die Reichen. Er setzt auf Leistung und Emanzipation, um den Nationalisten vor der Europawahl 2019 den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch sein monarchistischer Habitus weckt Kritik

Emmanuel Macron: Ein starkes Frankreich für ein starkes Europa / picture alliance
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Tobias Maydl ist Student und freier Journalist.

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Emmanuel Macrons Auftritt beginnt in einer schwarzen Limousine. Die Tür des Renaults öffnet sich, der Président de la République steigt aus und einigermaßen gelassen schreitet er in Richtung Schloss Versailles. Im alten Königspalast spricht er vor der versammelten Legislative des Landes. Schon zum zweiten Mal tritt er damit vor beide Kammern des Parlaments, um die politische Richtung für sein kommendes Amtsjahr zu skizzieren. Dabei sind derartige „Reden zur Lage der Nation“ ein Novum in der französischen Politik. Was seit 2008 per Verfassungsänderung möglich wurde und eigentlich nur für politische Ausnahmefälle vorgesehen war, macht Macron fortan einmal im Jahr und schafft damit eine neue politische Institution.

Am Montag hielt er seine Ansprache zum Auftakt für sein zweites Amtsjahr. Die Opposition kritisierte ihn wie bereits im vergangenen Jahr für seinen Auftritt: Zu monarchistisch sei das ganze Format und vorgeführt würde das Parlament obendrein. Denn laut Verfassung gibt es nur eine einzige Möglichkeit, dem Präsidenten auf seine 90-Minuten-Rede zu antworten, und die ist derselben fernzubleiben. Was dann auch einige gemacht haben, unter anderem die linke Bewegung „La France insoumise“ um Jean-Luc Mélenchon, die auch vor einem Jahr schon nicht dabei war. Macron hat in seiner Rede allerdings angekündigt, die Verfassung zu ändern, sodass eine gemeinsame Aussprache im Anschluss möglich wird. Bislang ist diese aus Gründen der Gewaltentrennung untersagt. Damit würde Macron also Exekutive und Legislative noch mehr verquicken und die Kongressrede weiter aufwerten.

Nur ein „Präsident für die Reichen“?

Die Kritik über Macrons politischen Stil verdeckt aber leicht die Erfolge, die seine einjährige Präsidentschaft durchaus vorweisen kann. Da ist zum einen Frankreichs Comeback auf der außenpolitischen Bühne. Egal ob auf dem Klimagipfel in Paris, bei Macrons Europa-Rede an der Sorbonne oder sein viel beachteter Besuch bei Donald Trump: Frankreichs Stimme wird wieder stärker gehört in der Welt. Das hat auch damit zu tun, dass Angela Merkel lange eine Antwort schuldig blieb auf seine europapolitische Vision. Zum anderen gab es eine ganze Reihe von Reformen, die darauf abzielten, die Effizienz zu steigern. Er lockerte das Arbeitsrecht, senkte die Unternehmenssteuern und sorgte für mehr Wettbewerb im Bahnsektor. Mit der Folge: Frankreichs Unternehmer hat der ehemalige Rothschild-Banker überzeugt. Und auch der politische Fatalismus scheint verflogen. Der hatte dazu geführt, dass substanzielle politische Reformen im Wirrwarr der öffentlichen Meinungen und Interessen unmöglich geworden waren.

Der wirtschaftspolitische Fokus seiner Reformen trägt allerdings nicht dazu bei, ihn vom Vorwurf zu befreien, er sei nur ein „Präsident für die Reichen“. Mittlerweile werden sogar in den eigenen Reihen Stimmen laut, die Politik stärker auszubalancieren und der wirtschaftspolitischen eine sozialpolitische Agenda zur Seite zu stellen. Die Erwartungen waren also gerade in dieser Hinsicht im Vorfeld der Ansprache hoch.

Das „französische Projekt“ für das 21. Jahrhundert

In seiner Rede begegnet er dem Vorwurf, nur für die Reichen Politik zu machen, in zwei Schritten. Er versucht zunächst, die Bedeutung seiner Wirtschaftsreformen herauszustellen: Nicht für die Reichen habe er Reformen auf den Weg gebracht, sondern für die Unternehmen – und damit investiert in Arbeitsplätze und Wohlstand für alle. Denn wer einen Kuchen verteilen wolle, brauche zuallererst vor allem eines: den Kuchen. Nur mit einer starken und innovativen Wirtschaft ließen sich die französischen Werte und der Sozialstaat bewahren. Macron spricht in diesem Zusammenhang vom „französischen Projekt“ für das 21. Jahrhundert: nicht nur für sein Land, sondern auch für Europa und die Welt. Dazu brauche es eine wirtschaftliche Transformation als Rückgrat und Basis.

Alle Kritiker, die weitreichende Umverteilungsmaßnahmen erwartet haben, dürften von Macrons weiteren Ausführungen enttäuscht worden sein. Der französische Präsident hat kein Interesse daran, Menschen in prekären sozialen Lagen zu unterstützen, er möchte vielmehr Emanzipation für alle. Dazu müsse überwunden werden, was Macron die „Ungleichheit des sozialen Schicksals“ nennt: Dass die soziale Klassenzugehörigkeit in Frankreich bereits vor der Geburt determiniert sei. Nicht mehr Geburt oder Beziehungen, sondern einzig allein die Leistung des Einzelnen solle in Zukunft darüber entscheiden. Macron verspricht deswegen 15 Mrd. Euro, die in die Bildung und in Ausbildungssysteme investiert werden sollen, zusätzlich soll die Schulpflicht schon früher greifen. Damit macht sich der Präsident die alte sozialdemokratische Überzeugung zu eigen vom sozialen Aufstieg durch Bildung und Leistung.

Politische Würde als Antwort auf die Nationalisten?

Seine soziale Agenda ist also eine Art Agenda gerechter Chancenverteilung in der Gesellschaft. Und Erfolge auf diesem Gebiet braucht er auch dringend für die Europawahlen im nächsten Jahr. Denn eine der großen Herausforderungen des Jahrzehnts sei der erstarkende Nationalismus in einer lahmenden und bürokratischen EU. Bei den Wahlen gehe es um eine Entscheidung zwischen Nationalisten auf der einen und Progressiven auf der anderen Seite. Es muss darum gehen, gute Argumente zu liefern, um das Feld nicht verantwortungslosen Populisten zu überlassen.

Interessant ist, dass in einer politisch derart aufgewühlten und unsicheren Zeit jemand kommt, der mit einem altehrwürdigen Begriff antrat, Präsident zu werden – der politischen Würde: „Im Angesicht unserer moralischen Krise muss jeder seinen Platz neu bestimmen. Die Antwort können nicht neue Gesetze geben, es bedarf der wiedergefundenen Würde von jedem von uns.“ Macron wendet diese „Würderhetorik“ systematisch auf sein Amt und seinen Habitus an. Damit will er der Republik wieder Ansehen und Autorität verleihen und erhofft sich, verlorenes Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Dieses Bemühen um Würde verdeutlicht eine Szene, die sich erst vor kurzem ereignete bei einer Gedenkfeier zum Widerstand gegen die Nazis während des Zweiten Weltkriegs. Ein Schüler hatte Macron flapsig mit „Manu“ angesprochen, worauf ihn Macron ermahnte: „Du nennst mich Herr Präsident!“

Seine Kritiker von der Opposition beeindruckt das wiederum nicht. Melenchon ist nur einer von vielen, die ihm Namen geben wie „Macron der Erste“. Das verschuldet der Präsident manchmal auch selbst, der sein Amt laut Selbstaussage im Zeichen des römischen Himmelsvater Jupiter führen will („président jupitérien“). Doch historisch betrachtet knüpft er damit an die politische Tradition der Römischen Republik an. Damals gängige Wendungen wie „dignitas rei publicae“ oder „dignitas populi“ belegen, wie eng das Konzept der politischen Würde mit dem Staat, der gemeinsamen Sache und politischer Verantwortung verwoben war. Und wie bei allen Werten in der Politik, gibt es auch hier keine Ausnahme: Würde muss, um sichtbar zu sein, rhetorisch inszeniert werden. Macron macht das auf seine Weise: Er spricht in Versailles vor dem Kongress, fordert Anstand und Respekt ein und scheut nicht vor einem selbstbewusst-monarchistischen Auftreten zurück. Macron sucht offenbar seine eigene zeitgemäße Interpretation von Würde – für sich und damit für seine Nation. In seiner Rede sagte er gestern: „Ich fühle mich demütig, aber voller Entschlossenheit.“

Macron zwischen Vereinen und Spalten

Trotz aller Kritik könnte Macrons starkes Standing als Präsident tatsächlich einheits- und vertrauensstiftend wirken. Zum einen hat er das im Wahlkampf schon einmal bewiesen. Ein weiterer Faktor könnte zudem die „nicht nachlassende Nachfrage nach Autorität oder sogar Bonapartismus“ (Le Monde) sein, die in der politischen Kultur Frankreichs immer noch existiere. Allerdings lassen seine schwächelnden Beliebtheitswerte derzeit auch andere Schlüsse zu. Laut einer Umfrage finden nahezu 70 Prozent der Franzosen Macrons Politik ungerecht. Die Anfangseuphorie, die Macron ins Amt brachte, ist einer realistischen Einschätzung seines politischen Handelns gewichen.

Eines muss man bei allem bedenken: Mit seiner Würdesymbolik und prunkvollen Rhetorik befindet sich Macron in der Defensive. Denn rhetorische Machtmittel müssen nur dann eingesetzt werden, wenn Macht in Frage gestellt wird. Er muss weiterhin demonstrieren, dass der Staat handlungsfähig ist. Dass er aktiv Gesellschaft gestalten kann im Angesicht von Globalisierung, ökonomischen Zwängen und verkrusteten Sozialstrukturen. Darauf zielt auch sein französisches Projekt für das 21. Jahrhundert: Es soll eine emanzipatorische Antwort auf die soziale Frage der Gegenwart sein. Der Prüfstein für seine Agenda werden die Europawahlen nächstes Jahr sein. Dann wird sich zeigen, wie erfolgreich Macrons Strategie tatsächlich ist. 

 

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