- Welche Ziele verfolgt Mohammed Mursi?
Er erhält viel Lob für die Vermittlung im Nahostkonflikt und erntet heftige Kritik wegen seines Machtgebarens im eigenen Land. Wohin steuert Ägyptens Präsident Mohammed Mursi?
Seit fünf Monaten ist Mohammed Mursi Staatschef Ägyptens, der erste demokratisch gewählte in der 5000-jährigen Geschichte des Landes. Und schon hat der gelernte Ingenieur sein Land durch erste schwierige Klippen gesteuert – und sich mit der Vermittlung der Waffenruhe im Nahost-Konflikt zugleich hohe internationale Anerkennung erworben.
Was hat Mursi bislang erreicht?
Er ist kein großer Redner und kein telegener Volkstribun.
Staatsgästen sitzt der ägyptische Präsident meist gegenüber wie ein
befangener Hausvater, die Hände fest an die Sessellehnen gekrallt,
im Gesicht stets das gleiche, schmale Lächeln hinter grauem
Bart.
Doch er ist durchsetzungsfähig. Erst verblüffte der fromme Newcomer auf dem diplomatischen Parkett mit seiner frontalen Attacke auf das syrische Regime und dessen iranische Schutzpatrone beim Blockfreien-Gipfel in Teheran. Danach versetzte er im Handstreich seinen Gegenspieler im Obersten Militärrat, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, in den Ruhestand und schickte die Armee unter neuer Führung zurück in die Kasernen. Die Islamisten der Türkei haben dafür 30 Jahre gebraucht, Muslimbruder Mursi kaum mehr als 30 Tage.
Vergangene Woche steuerte Mursi dann seine Nation trotz wachsender anti-israelischer Ressentiments souverän durch die erste kriegerische Auseinandersetzung vor Ägyptens Haustür. Der Konflikt endete nach acht Tagen in einem von Kairo und Washington gemeinsam vermittelten Waffenstillstand. Seine konstruktive Rolle hat dem Muslimbruder auf dem Präsidentenstuhl internationale Anerkennung eingetragen. Ein Schlüsselkredit beim Internationalen Währungsfonds ist seit wenigen Tagen unter Dach und Fach und das Land am Nil wieder fest auf der außenpolitischen Landkarte der Region verankert.
Womit erzürnt er innenpolitisch seine
Gegner?
Seit Tagen liefert sich ein Mob in den Seitenstraßen des
Tahrir-Platzes blutige Schlachten. Die Bilder wurden bisher von den
Kriegsszenen im Gazastreifen verdrängt. Am Donnerstagabend
überraschte der ägyptische Präsident die Nation dann mit einem
Bündel neuer Dekrete, die ihn auf offenen Kollisionskurs mit
Ägyptens Justiz bringen. „Alle Verfassungserklärungen,
Entscheidungen und Gesetze, die der Präsident erlässt, sind
abschließend und können nicht angefochten werden“, lautet der
Kernsatz in dem Erlass, den sein Sprecher im Fernsehen verlas.
Gelten soll dieses Ausnahmerecht so lange, bis eine Verfassung
verabschiedet und ein neues Parlament gewählt ist, also bis etwa
Mitte 2013. Man wolle die staatlichen Institutionen säubern und
„die Infrastruktur des alten Regimes zerstören“, erklärte Mursi
danach zur Begründung. Die alte Garde des gestürzten Staatschefs
dürfe im Justizapparat nicht länger Reformen blockieren. „Das sind
Rüsselkäfer, die an der ägyptischen Nation nagen“, sagte er vor
tausenden Anhängern. „Ägypten braucht eine Justizreform, es gibt
ein fundamentales Problem mit der politischen Unabhängigkeit der
Justiz“, erläuterte Heba Morayef, ägyptische Chefin von Human
Rights Watch. „Absolute Macht und Immunität für den Präsidenten
aber sind dazu der falsche Weg.“
Wie reagierte die Opposition?
Aus deren Lager hagelte es sofort heftige Proteste. Der
Muslimbruder auf dem Präsidentensessel verschaffe sich
diktatorische Vollmachten und gebärde sich wie ein neuer Pharao,
schlimmer noch als sein gestürzter Vorgänger Hosni Mubarak, lautete
die Kritik. Friedensnobelpreisträger Mohammed al Baradei trommelte
zusammen mit den früheren Präsidentschaftskandidaten Amr Moussa und
Hamdeen Sabahi die Anhänger der Demokratiebewegung zum Protest auf
dem Tahrir-Platz zusammen, wo die Auseinandersetzungen zum Abend
hin immer gewalttätiger wurden. In den Suez-Kanal-Städten Port Said
und Ismailia gingen die Parteizentralen der Muslimbrüder in Flammen
auf. In Alexandria wurde ihre Bürozentrale gestürmt; vor einer
Moschee bewarfen sich nach den Freitagsgebeten tausende
Demonstranten beider Lager mit Steinen und Feuerwerkskörpern.
Mindestens 15 Menschen wurden verletzt. Dagegen karrte die Führung
der Muslimbrüder ganze Busladungen von Mitgliedern vor den
Präsidentenpalast nach Heliopolis. „Wir werden nicht zurückweichen,
unser klares Ziel sind Freiheit und Demokratie“, rief Mursi der
Menge zu.
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Welche Ziele verfolgt Mursi mit den
Dekreten?
Es sind zwei Hauptziele. Zum einen will er alle Gerichtsverfahren
gegen Verantwortliche der Mubarak-Zeit neu aufrollen lassen, die
während der Revolution Demonstranten eigenhändig getötet oder
Schießbefehle erteilt haben. Der spektakulärste Freispruch bisher
galt Anfang Juni sechs Polizeigenerälen, die in dem Mubarak-Prozess
zusammen mit dem früheren Innenminister Habib al Adly der Beihilfe
zum Mord angeklagt waren. Die Muslimbruderschaft, aber auch das
säkulare Lager werfen dem gleichfalls per Dekret entlassenen
Generalstaatsanwalt Abdel Maguid Mahmoud vor, solche Anklagen
niemals ernsthaft betrieben und die Beweise äußerst schlampig
ermittelt zu haben. Sein Nachfolger Talaat Ibrahim wurde bereits am
Donnerstagabend vereidigt.
Zum anderen will Mursi die in den letzten beiden Wochen am Rande des Scheiterns stehende verfassunggebende Versammlung stabilisieren. Das von Islamisten dominierte Plenum bekommt zwei Monate mehr Zeit für seine Beratungen, muss einen endgültigen Verfassungsentwurf erst Mitte Februar 2013 vorlegen. Gleichzeitig schiebt der Staatschef der drohenden vorzeitigen Auflösung durch das Verfassungsgericht einen Riegel vor. Die Kläger argumentieren, die Versammlung sei illegal, weil von dem im Juni annullierten Parlament bestellt. Für den Fall einer Auflösung hatte sich Mursi bereits in einem früheren Dekret das Recht zugebilligt, dann im Alleingang eine neue Versammlung zu bestimmen, die noch einmal ganz von vorne hätte anfangen müssen. Stattdessen zementiert der Präsident jetzt den Status des bestehenden 100-köpfigen Gremiums, auch wenn praktisch alle Vertreter säkularer Parteien, Gewerkschaften und Kirchen inzwischen ihre Mandate niedergelegt haben.
Leistet Mursi damit einer weiteren Islamisierung
Vorschub?
Die aus dem Gremium ausgetretenen Kräfte werfen der Versammlung
vor, sie plane die Islamisierung der Verfassung. Vor allem stoßen
sie sich daran, dass in Artikel 2 die Prinzipien der Scharia als
Grundlage des ägyptischen Rechtssystems festgeschrieben werden
sollen. Und sie kritisieren, dass in dem bisherigen Entwurf die
Rechte von Frauen und Minderheiten nicht ausreichend berücksichtigt
seien. „Wir stecken in einer Sackgasse“, erklärte der bisherige
Sprecher des Plenums, Wahid Abdel Meguid, Mitglied der liberalen
Wafd-Partei. Und der ehemalige Präsidentschaftskandidat und
langjährige Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa,
sekundierte: „Die Verfassung gehört allen Ägyptern, nicht nur einer
spezifischen politischen Partei, auch wenn sie die Mehrheit
besitzt.“
Wie stehen die Amerikaner zu Mursi?
Amerikaner loten lieber Chancen als Risiken aus, praktische Politik
ist ihnen wichtiger als ideologisch motivierte Rhetorik. Die
Machtfülle des gewählten Präsidenten Mohammed Mursi betrachten sie
in erster Linie als innerägyptische Angelegenheit. Wer
jahrzehntelang mit den Despoten in der Region paktierte, sollte
sich mit Ratschlägen an die neuen Herrscher zurückhalten. Mursi hat
sich im Gaza-Konflikt aus US-Sicht bewährt. Außenministerin Hillary
Clinton hat ihm ausführlich für seine Vermittlung gedankt. Ägypten
findet unter seiner Führung offenbar zu seiner alten, mächtigen
Rolle in der Region zurück. Am Friedensvertrag mit Israel rüttelt
Mursi nicht, Militär und Geheimdienste von Israel und Ägypten
kooperieren. Das ist in einem Land, wo Muslimbrüder und Salafisten
in der Mehrheit sind, keine Selbstverständlichkeit. Amerika wird
weiterhin verfolgen, ob ein pragmatischer Mursi auch mäßigend auf
die radikalen Elemente in seinem Land einwirken kann. In diesem
Prozess kann ihm eine gewisse Machtfülle durchaus nützen.
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