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() Integraler Bestandteil der neuen Verfassung, die Stephanskrone

Ungarn - Sehnsucht nach Vergangenheit

Erst das umstrittene Mediengesetz, dann Meldungen über militante Bürgerwehren – jetzt schockiert Ungarn mit einer Verfassung, die mit einem nationalen Glaubensbekenntnis eröffnet.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Órban war diese Woche zu Besuch bei der Kanzlerin. Die eine oder andere Rüge von Merkel hätte er verdient gehabt, die Kritik an seiner Politik ist massiv. Zuhause hingegen bekommt er eine glatte Eins – zumindest von jenen, die seine Vision vom neuen Ungarn teilen. Der Lohn für harte Arbeit. Von 1998 bis 2002 war Órban schon einmal Ministerpräsident. Dann musste er nachsitzen, acht lange Jahre die Oppositionsbank drücken – bis ihn die Ungarn April vergangenen Jahres erneut an die Macht wählten. Mehr als zwei Drittel ihrer Stimmen gaben seine Landsleute ihm und seiner Union aus FIDESZ (Ungarischer Bürgerbund) und Christdemokraten. Damit vertrauten sie ihm die Macht über die ungarische Verfassung an. Órban versprach eine Revolution – und sie kam. Seit einem Jahr krempelt er systematisch den Staat um, richtet die Republik auf seine Person aus, auf seine Partei und auf einen mystischen Nationalismus.

Sein erster Streich war das umstrittene Mediengesetz, das die ungarische Pressefreiheit aushöhlt und die Journalisten des Landes auf FIDESZ-Kurs bringen soll. Seinen letzten Coup landete er Ostermontag, rund ein Jahr nach seinem Wahl-Triumph: eine neue Verfassung. Er bezeichnet sie als die moderneste Europas. Zum heiligsten aller christlichen Feste ließ er das ungarische „Grundgesetz“ mit der Unterschrift des linientreuen Staatspräsidenten Pál Schmitt absegnen. Die Präambel heißt „Nemzeti Hitvallás“, nationales Glaubensbekenntnis. Würde sie in einer ungarischen Messe gelesen – keiner würde es merken. Bezüge zu Rechtsstaat, Republik oder Demokratie sucht man vergebens. Stattdessen findet man Stolz, Stolz und nochmals Stolz.

Stolz sollen die Ungarn sein, stolz auf ihren heiligen Stephan und seine Krone. Sie verkörpert den Staat. Im Jahr 1000 vom Papst zum ersten ungarischen König gekrönt soll er die Magyaren christianisiert haben. Stolz sollen die Ungarn sein, stolz darauf, dass sie „Europa jahrhundertelang in Kämpfen verteidigten“. Vor den Osmanen? Zwei Mal standen sie vor den Toren Wiens, 1529 und 1683. Ein derart pathetischer Bezug auf die ungarische Geschichte zeichnet die angeblich moderneste Verfassung Europas aus?„Szegény Magyarország“, armes Ungarn! Die Präambel der neuen Verfassung verdient in Sachen Demokratie eine glatte Sechs. Ihr Text gehört weder in eine moderne Verfassung noch in ein Geschichtsbuch. Er gehört ins Museum – und zwar in eine Ausstellung über das 19. Jahrhundert.

Doch Ungarn alarmiert derzeit nicht nur mit seinem umstrittenen Mediengesetz und einer antiquierten Verfassung. Auch Antisemitismus und Rassimus machen Schlagzeilen, ebenso die massive Gewalt gegen Roma. Bürgerwehren machen gegen die vermeintliche Zigeunerkriminalität mobil, patrouillieren durch ostungarische Dörfer und vergehen sich an der dortigen Roma-Minderheit. Etliche Menschen wurden bereits ermordet. In enger Verbindung zur rassistischen Gewalt steht die rechtsradikale Partei Jobbik. Sie besetzt seit der Wahl 2010 gut zwölf Prozent der Sitze im Budapester Parlament. Lange Zeit hatte sie einen paramilitärischen Arm, der sich Neue Ungarische Garde nannte. Die Gardisten marschierten in der Uniform der faschistischen Pfeilkreuzer auf – bis sie 2008 unter Orbans Vorgänger Ferenc Gyurcsány verboten werden. Inzwischen werden die selbsternannten Bürgerwehren von neonazistischen Jobbik offen unterstützt.

Ungarns Demokratie ist bedroht, die Kritik an dem EU-Land, das derzeit die Ratspräsidentschaft innehält, berechtigt. Und dennoch machen es sich hierzulande viele sehr leicht. Am lautesten schreien jene, die von Ungarn nicht mehr kennen als Puszta, Paprika und Plattensee. Lange musste Deutschland für seine Verbrechen büßen. Langsam heilen die Wunden, die Narben bleiben ewig. Eine solche Kur zerrt an den Kräfte. Angenehm, wenn nun andere die Bösen sind.

Dabei bekäme auch Deutschland in diesen Tage kein gutes Zeugnis für ethno-kulturelle Verständigung. Ängste, Vorurteile und Feindseligkeiten gegen den Islam sind offenkundig und fanden in Tilo Sarrazin ihr Idol. Sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ wurde über anderthalb Millionen Mal verkauft, bei fast jedem fünfzigsten Deutschen steht ein Exemplar im Bücherregal. Die Bild-Zeitung prägte den Begriff der Ausländerkriminalität. Auch viele Unionspolitiker zögern nicht, Ressentiments gegen Ausländer zu schüren, wenn es darum geht, Wahlen zu gewinnen. Dabei ist mit dumpfen Verallgemeinerungen niemandem geholfen.

Natürlich sind Rassismus und Gewalt gegen die Roma-Minderheit ein Skandal. Die Übergriffe dürfen von Europa und von Deutschland nicht schweigend hingenommen werden. Trotzdem hilft es wenig vom Lehrerpult herab auf die Ungarn zu schimpfen. Vielmehr lohnt es sich, den Zeigestock beiseite zu legen und zu fragen: Wie konnte das einstige europäische Musterland derart auf Abwege geraten?

Man sagt den Magyaren einen Hang zur Melancholie nach. Er entlockt ihren Fiedeln herzzerreißende Noten. Die Neigung,Trübsal zu blasen, scheint in ihrer kollektiven Erinnerung verwurzelt sein. Die Seele des Ungarn jault, flennt und winselt – natürlich auf der Violine und zu kräftigem Rotwein. Vor lauter Selbstmitleid vergessen die Ungarn zu oft ihre eigenen Gräueltaten, ihre Morde an Juden und Roma in der Zeit des Faschismus.

Der in der Präambel reklamierte Stolz der Ungarn ist ein verletzter. Der Stolz des Geschlagenen, desjenigen, der nichts mehr zu verlieren hat – außer eben den letzten Funken Stolz. Nur, woher kommt dieser Stolz? So manchem Magyaren geistert noch immer die Erinnerung an Großungarn im Hinterkopf, an ein Königreich, das einst dreimal so groß war wie das heutige Ungarn. Dass in diesem Reich Menschen mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen lebten, dass die Magyaren zwar die größte Bevölkerungsgruppe stellten, nicht aber die Mehrheit – auch das vergessen die meisten. „Schwach und vergänglich ist ein Reich, in dem nur eine Sprache gesprochen“, soll einst der heilige Stephan seinen Sohn gemahnt haben. Wenn’s schon der Vater der Nation sagt, na bitte.

Der Traum von Großungarn starb zum ersten Mal vor 500 Jahren. Die Osmanen besetzten einen Großteil des Königreiches, etwa anderthalb Jahrhunderte lang. Dreieinhalb Jahrunderte später handelte man mit den Habsburgern die K-und-K-Monarchie aus. Nach dem ersten Weltkrieg war der Traum von Großungarn dann endgültig begraben. Der Geist, der heute noch in so manchen ungarischen Köpfen spukt, heißt Trianon, so wie der Pariser Vorort, in dem 1920 der Friedensvertrag mit Ungarn geschlossen wurde. Ungarn stand auf der Seite der Kriegsverlier. Der Frieden, im Vertrag von Trianon besiegelt, kostete dem Land zwei Drittel seiner Gebiete.

Auch Deutschland hat Gebiete verloren, aber im Unterschied zu Ungarn eine dreifache Therapie hinter sich: Auf die Schocktherapie durch den Zweiten Weltkrieg folgte die Amputation durch Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten. Vom Großmachts-Wahn geheilt wurden die Deutschen letztlich durch eine Art Gruppentherapie, sechzig Jahre Demokratie mit Wirtschaftswunder – genügend Zeit für die historische Aufarbeitung der eigenen Verbrechen und genügend Zeit für Reue. All das fehlt den Ungarn.

Anders als die Deutschen erlebten sie keine Vertreibung ins geschrumpfte Mutterland. Jenseits der neuen Grenzen findet sich in den Anrainerstaaten – bis heute – ein Fleckenteppich mit ungarischen Minderheiten. Nach dem Krieg sind meisten Magyaren geblieben. Die neuen Grenzen nahmen sie zähneknirschend hin, ihre neuen Landsleute blieben ihnen fremd. Egal ob sie etwa in Rumänien oder der Tschechoslowakei lebten – sie blieben Ungarn. Der Kommunismus legte den Mantel des Schweigens über das multi-ethnische Osteuropa. Als dieser sich dieser 1989 lüftete, durften Ungarn wieder sagen, wer sie sind. „Ich bin der Ministerpräsident von 15 Millionen Ungarn“, hatte schon József Antall gesagt, der erste Regierungschef nach der Wende. Dabei hatte Ungarn nur zehn Millionen Einwohner.

Die Ungarn haben noch einiges zu verarbeiten, viel zu lernen, wenn sie ein Teil des freien Europas bleiben wollen. Deutschland könnte ein Vorbild sein, wenn es seinen Oberlehrerton ablegen würde. Und man sollte seinen Schüler kennen, will man ihm etwas lehren. Donnerstag war Ungarns Ministerpräsident Viktor Órban zu Besuch in Berlin. Er hätte lernen können. Doch die bitter nötige Lektion blieb aus – Merkel schwieg, sie verlor kein Wort über die Ereignisse in Ungarn.

Der Autor, Peter Knobloch, wurde als Kind ungarischer Eltern in Rumänien geboren, wuchs in Deutschland auf und ist deutscher Staatsbürger.

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