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(picture alliance) Ein zertrümmertes Haus in der Stadt Schuschi in Berg-Karabach (2010)

Krisenregion in Aserbaidschan - Jeden Tag auf Krieg gefasst

Während des Eurovision Song Contest sind die Augen der Welt auf Aserbaidschan gerichtet. Doch weil Journalisten die Einreise dorthin verboten ist, dringen kaum Berichte über eine kleine Krisenregion im Westen des Landes nach außen: Berg-Karabach, eine armenisch besetzte Enklave, die für ihre Unabhängigkeit kämpft. Cicero Online war dort und berichtet von einem eingefrorenen Konflikt

SCHUSCHI. Saro Saryan trägt eine Uniform mit Goldknöpfen und Abzeichen. Sein Kopf verschwindet unter einer übergroßen Mütze, auf der vorn ein Adler prangt – das Wappen der Republik Berg-Karabach.

Saryan arbeitet in der Stadt Schuschi für die Zivilpolizei, eine Art Bürgerwehr. Die überschaubare 140.000-Einwohner-Enklave mitten in Aserbaidschan leistet sich gleich vier Ordnungsmächte: Neben der Zivil- und der normalen Polizei gibt es noch die Militärpolizei und die Armee.

Der 39-Jährige setzt seinen Hut ab und bestellt sich einen Kaffee. In der Pause und nach Feierabend ist er nicht Beamter, sondern Bürgerrechtler. Denn Saryan leitet die Flüchtlingsorganisation NKR Berg-Karabach. Es ist die größte des Landes – und die einzige. [gallery:Berg-Karabach: Kalter Krieg im Kaukasus]

Er nennt sie „Nichtregierungsorganisation“ (NRO), auch wenn sie vom Staat finanziert wird. Saryan erzählt, wie schlecht es den Armeniern gehe, die während des Konflikts mit Aserbaidschan vor rund 20 Jahren vertrieben wurden. Er war selbst Flüchtling, floh aus der Hauptstadt Baku. Saryan spricht von aserbaidschanischem „Genozid“, von „ethnischer Säuberung“. Eigentlich gehört Berg-Karabach zu aserbaidschanischem Territorium. Doch Saryan sagt: „Es ist wichtig, dass wir unabhängig sind.“

Es ist nicht klar, ob der Zivilpolizist das als NRO-Vertreter oder als Staatsdiener sagt. Über seine Regierung darf er jedenfalls nichts Schlechtes sagen. „Aber wenn die Republik Berg-Karabach erst einmal international anerkannt ist, werde ich ihr größter Kritiker und der Wortführer der Opposition.“

Ein unabhängiges Berg-Karabach, etwa nach dem Vorbild des Kosovo: Es ist ein Wunsch, den hier viele äußern. Zugleich ist es ein hoffnungsloser. Die Kaukasusnachbarn Armenien und Aserbaidschan beanspruchen schon seit über 100 Jahren das kleine Territorium in ihrer Mitte. 1988 erklärte sich die Provinz unabhängig. Außer Armenien erkannte aber kein Staat der Welt Berg-Karabach an. Nach der Auflösung der Sowjetunion führten die Nachbarn Krieg um die Provinz. Es kam zu grausamen Massakern, 30.000 Menschen starben. Hunderttausende wurden vertrieben – Aseri flohen aus Armenien und Berg-Karabach, Armenier aus Aserbaidschan.

Seite 2: Zwischen den Nachbarn herrscht ein brüchiger Waffenstillstand

1994 endete der Krieg. Baku verlor die Gebietshoheit über die Bergregion. Zwischen beiden Ländern herrscht seitdem ein brüchiger Waffenstillstand.

Die Deutsche Botschaft in Jerewan nennt Berg-Karabach nur ein „schwarzes Loch“. „Wenn Ihnen da etwas passiert, können wir Sie nicht mehr rausholen“, heißt es.

Die Armenier nennen die Frontlinie „Schutzzone“, die Aseri sprechen von den „besetzten Gebieten“. Agdam, einst ein aserbaidschanischer Ort mit 100.000 Einwohnern, ist heute nur noch eine Geisterstadt, in der die Häuser wie Ruinen in den Himmel ragen. „Da gibt es sogar ein Dorf, in dem nur noch ein altes Ehepaar wohnt“, erzählt eine armenische Menschenrechtlerin.

Der Grenzstreifen ist vermint, immer wieder eskaliert dort die Gewalt. Zuletzt Anfang März, als bei einem Schusswechsel erst ein armenischer und dann zwei aserbaidschanische Soldaten starben. Armenien sagte daraufhin seine Teilnahme am Eurovision Song Contest in Baku ab.

Saro Saryan hat die Vorbereitungen für den Sängerwettstreit schon vor einem Jahr beobachtet. Er glaubt nicht, dass sich Aserbaidschan dadurch stärker öffne: „Vor einiger Zeit war ein Journalist aus Baku – sein Name ist Einula Fatulaev – für sieben Tage in Berg-Karabach. Er schrieb etwas Kritisches, und seitdem sitzt er im Gefängnis.“

Saryan hat einen anderen Vorschlag: „Wir müssen Aserbaidschan helfen, demokratischer zu werden.“ Mit „wir“ meint er das kleine Berg-Karabach. Wenn es erst einmal völkerrechtlich anerkannt sei, sagt Saryan, könne es langfristig vielleicht zu einer Wiedervereinigung mit Armenien kommen.

Diese unrealistische Hoffnung spiegelt sich auch in Stepanakert, der Hauptstadt der selbst ernannten Republik, wider. Im sogenannten Außenministerium erhalten Einreisende günstige Visa. Auf dem Dokument steht: „Republik Artsakh“. Es ist eine historische Anspielung: Das heutige Gebiet war im Mittelalter Teil der gleichnamigen Provinz im armenischen Großreich.

Seite 3: Ein Flughafen in einem Krisengebiet, das ist so eine Sache

Die Anspielung findet sich auch in der Separatisten-Luftflotte „Artsakh Air“ wieder. Die Fluggesellschaft besitzt gerade mal drei Maschinen. Die sollten eigentlich vor genau einem Jahr zu ihrem Jungfernflug abheben: vom neuen Flughafen Stepanakert nach Jerewan. 45 Dollar die Strecke, 200 Passagiere stündlich. Mit dem Auto dauert es über die kaputten Gebirgsstraßen zwischen acht bis zehn Stunden. Mehr Handel, mehr Touristen – für Berg-Karabach wäre der Airport ein wichtiger Schritt in Richtung internationaler Anerkennung gewesen.

Doch ein Flughafen in einem Krisengebiet, das ist so eine Sache. Baku drohte, das erste Flugzeug, das aserbaidschanischen Luftraum erreiche, abzuschießen. Armeniens Präsident Serzh Sargsyan heizte den Konflikt zusätzlich an, indem er drohte: „Dann werde ich in dieser ersten Maschine sitzen.“ Seitdem ist es still geworden um die zwei Kilometer lange Landebahn in Stepanakert.

Das ist auch für die Wirtschaft fatal. Denn Berg-Karabach hängt für den Export vollständig vom benachbarten Armenien ab, das seinerseits nach drei Seiten verriegelt ist: im Süden die Türkei, mit der Armenien über den Völkermord von 1915 im Clinch liegt, Iran, wo der Atomkonflikt gerade eskaliert und im Westen der Erzfeind Aserbaidschan.

Die gegenseitigen Hasstiraden erreichten im September während der UNO-Vollversammlung einen neuen Höhepunkt. Sargsyan pochte auf das Selbstbestimmungsrecht Berg-Karabachs. Der aserbaidschanische Außenminister entgegnete, Armenien stifte „künftige Generationen zu neuen Kriegen, Gewalttaten und Aggressionen an“.

Bakus Verteidigungsetat ist zwischen 2003 und 2011 von 135 Millionen auf rund 3,12 Milliarden US-Dollar angewachsen, wie die Konrad-Adenauer-Stiftung berichtete. Die Friedensgespräche, die von der Minsk-Gruppe um Russland, Frankreich und den USA finanziert werden, sind bislang ohne Ergebnis geblieben.

Berg-Karabach ist jeden Tag auf Krieg gefasst: zwischen Stepanakert und Schuschi spannt sich ein riesiges Kabel über ein Tal. „Eine Flugabwehr für feindliche Tiefflieger“, erklärt ein Einheimischer. Von vielen Dörfern sind nur Ruinen übrig, die Mauern rußgeschwärzt, die Dächer aufgesprengt.

Seite 4: „Ich sah noch, wie die Rakete herausfiel“

Sargisova Surenovna erinnert sich noch an ihren schlimmsten Tag, fast jede Nacht durchlebt sie ihn. Es war der 22. August 1992. Ihre Familie war da gerade in einem Auffanglager in Stepanakert. 500 Familien waren zusammengepfercht; das Gebäude beherbergt heute die staatliche Universität von Berg-Karabach. Am Himmel entdeckte sie ein Flugzeug. „Ich sah noch, wie sich die Luke öffnete und eine Rakete herausfiel.“ Die erste Bombe landete im Vorgarten, die zweite traf das Dach. Dann wurde alles dunkel. 20 Menschen starben, darunter mehrere Kinder, Surenovna wachte schwer verletzt im Krankenhaus  auf.

Die 62-Jährige im blau-grünen Morgenmantel wohnt mit ihren beiden Söhnen noch immer in einem Flüchtlingsheim, jenes aber eher am Rand von Stepanakert. Der Boden in der dunklen Zwei-Raum-Wohnung wellt sich, in den Ecken schimmelt es. Eine Küche gibt es nicht. Das Waschbecken teilt sie sich mit drei anderen Familien.

Die alte Frau kann sich weder eine Traumatherapie noch eine anständigere Wohnung leisten. Und das, obwohl ihre Tochter verheiratet ist und beide Söhne einen Job haben – einer als Goldmacher, der andere in einer internationalen Logistikfirma. Trotzdem reicht es kaum zum Leben.

Wie es geht, lebt die Familie Soghomonyan in Schuschi vor. Alla, 35, und Azmen, 43, haben zehn Kinder, darunter neun Jungs. Auch sie, wie fast alle hier, wurden aus Aserbaidschan vertrieben. Jahrelang lebten sie in einer zerfallenen Hütte, bis 2003 ein russischer Millionär kam. „Edward Gulyan“, sagt Alla Soghomonyan fast sehnsüchtig. Der Exilarmenier, zugleich Patenonkel der jüngsten Tochter, habe etwas Gutes für die Kinder seines Landes tun wollen, erzählt sie. „Also baute er uns ein neues Haus.“ Inklusive Terrasse und kleinem Swimmingpool.

Es scheint, als brauche es in Berg-Karabach nur Geld, um glücklich zu sein – und unabhängig. Die Soghomonyans konnten so ihre drei ältesten Söhne auf die Militärschule schicken. „Sie werden dort stärker“, erzählt die Mutter stolz. „Und eines Tages werden sie für unser Land kämpfen.“

Hinweis: Die Autorin reiste im Juli 2011 nach Berg-Karabach. Die Reportage spiegelt daher die Verhältnisse ein Jahr vor dem Eurovision Song Contest wider.

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