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(picture alliance) Timoschenko oder Fußball? Ist Sport wirklich nur Sport?

Ukraine, die EM und Timoschenko - The Games must go on?

Während Bundespräsident Gauck seinen Besuch in der Ukraine wegen der politisch motivierten Inhaftierung von Julia Timoschenko abgesagt hat, hält der DFB an seiner Teilnahme bei der Fußballeuropameisterschaft fest. Sport sei Sport und keine Politik, heißt die Begründung. Tatsächlich steckt dahinter das Interesse an einem gewaltigen Geschäft. Ein Kommentar

Von allen Reden, die Joachim Gauck als Bundespräsident bisher gehalten hat, ist – rein dialektisch gesehen – diejenige am besten, die er in der Ukraine nicht halten wird. Politisch erfrischend ist der Aplomb, mit dem er seine geplante Reise in das Land des zunehmend diktatorisch herrschenden Präsidenten Wiktor Janukowitsch abgesagt hat.

Der unmittelbare Grund für Gaucks Entschluss, die politisch motivierte Verurteilung und Inhaftierung der kranken Julia Timoschenko – der Protagonistin der „Orange-Revolution“ von 2004 – verweist auf den fortschreitenden Abbau rechtstaatlicher Ordnung und zahlreiche Menschenrechtsverletzungen (Pressefreiheit inklusive) in dem Land, das 1991 aus der Sowjetunion in die Unabhängigkeit entlassen wurde und seitdem nach einer eigenen Identität zwischen Russland und dem westlichen Europa sucht.

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Das Drama der hungerstreikenden Timoschenko, die Tatsache willkürlicher Verhaftungen und aufwachsender ukrainischer, mafiöser Herrschaftsstrukturen veführt den Deutschen Fußballbund (DFB) allerdings nicht dazu, die Teilnahme der Nationalmannschaft an der Europäischen Fußballmeisterschaft infrage zu stellen. Im Gegenteil, heißt es im Hauptquartier des DFB, hier sei die Politik gefragt und Sport sei eben Sport. Es ist das alte olympische Spiel – allerdings in neuer, kommerziell kontaminierter Verkleidung.

Aller Streit zwischen den Griechen der Antike, ob sie in Sparta oder in Athen wohnten, sollte ruhen während der heiligen olympischen Spiele. Davor oder danach durfte gekämpft, gebrandschatzt und gemordet werden. Einer der berühmtesten Olympioniken, Dorieus von Rhodos, stieg gar zum Feldherrn auf im furchtbaren Peleponnesischen Krieg zwischen den beiden Städten und ihren Bündnispartnern. Die blutigen Kämpfe dauerten fast drei Jahrzehnte und reichten bis in das Territorium der heutigen Ukraine.  Im Jahre 422 vor Christus verlor Athen eine Feldschlacht gegen die Thebaner bei Delion in Böotien. Der „ukrainische“ Handelsweg, auf dem Getreide und Holz nach Athen gerieten, blieb für lange Zeit verschlossen – eine Katastrophe. Aber die Spiele gingen immer weiter. Sie waren ursprüngliche Gottesdienste. Heute dienen sie anderen Götzen – der Befriedigung nationalistischer Sehnsüchte und den kommerziellen Interessen der Veranstalter, wie andere sportliche Mega-Meisterschaften auch.

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Seit der Renaissance der „Olympiade“ 1896 (als heidnisches Spektakel waren sie 393 vom römischen Kaiser Theodosius verboten worden) entwickelten sich die Spiele zur sportlichen Ritualisierung des europäischen Nationalismus –  dem Irrsinn der Weltkriege zweifellos vorzuziehen. Doch ihre propagandistische Funktion sollte spätestens 1936 in Berlin die Illusion vom „Völker verbindenden Sport“ als das entlarven, was aus den einst „heiligen“ Spiele geworden ist: Marketing-Events, die jederzeit sowohl politisch wie auch kommerziell missbraucht werden können.

Und das trifft auch auf ähnliche Sportereignisse zu. Herz- und hirnlos war die Fußball-WM in der argentinischen Diktatur 1976 – unzählige Folter- und Mordopfer des Regimes (am Ende waren es 30.000!) hielten die Fifa nicht davon ab, ihre Spiele zum Ruhme einer uniformierten, rechtsradikalen politischen Killerbande zu veranstalten. Die olympischen Spiele in China vor vier Jahren – ein globales Legitimationsspektakel für ein totalitäres Regime, das für jährlich über 10.000 Todesstrafen verantwortlich ist und Menschenrechte für eine Erfindung des dekadenten Westens hält.

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Und jetzt also die Europäische Fußball-Meisterschaft in Polen und der Ukraine. Die deutsche Nationalmannschaft wird zu ihren Qualifikationsspielen allein in der Ukraine antreten. Eine Absage ist vom DFB nicht zu erwarten, sein politischer Zynismus hat Tradition. Die kickenden Multimillionäre werden sich kritischer Stellungnahmen zum repressiven Charakter des ukrainischen Regimes enthalten. Die TV- und Radiokommentatoren der Wettbewerbe werden kurz ihre Hände ringen und dann zur Tagesordnung übergehen.

Natürlich werden sie auf Joachim Gaucks so rechtschaffene Entscheidung verweisen. Er wird als Repräsentant eines guten deutschen Gewissens gelten – der sympathische moralische Ersatzspieler aus Schloss Bellevue, zuständig für Politik, während die Nationalmannschaft im moralfreien Unterhaltungsgeschäft unterwegs ist. Sollte Julia Timoschenko während der Spiele ihrem Hungerstreik erliegen, würde das als grobes Foul empfunden werden. In den unsterblichen Worten des IOC-Präsidenten Avery Brundage: „The Games must go on.“ Das sagte er, nachdem 17 Menschen während der Olympischen Spiele in München (1972) nach einer palästinensisch-terroristischen Geiselnahme ums Leben gekommen waren. Die „heiteren Spiele“ gingen weiter - unter dem Jubel der Massen. Sie waren ein gewaltiges Geschäft.

Die Fußball-EM, soviel steht jetzt schon fest, wird den Umsatz der UEFA und ihrer angeschlossenen Fernsehanstalten in erstaunliche Höhen treiben. Die TV-Einschaltquoten werden neue Rekorde verzeichnen. Und Franz Beckenbauer wird wieder einmal sagen dürfen: „Schau’n wir mal.“ Ja, schauen wir mal – in die Gefängnisse der Ukraine.

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