- „Ein Feind Israels bin ich nicht“
Der deutsch-französische Politikwissenschaftler und Publizist Alfred Grosser gilt aufgrund seiner scharfen Israelkritik als äußerst umstritten. Grosser war in diesem Jahr am 9. November Hauptredner bei der Gedenkfeier an die Pogromnacht in der Frankfurter Paulskirche. Die Einladung löste bereits im Vorfeld heftige Kontroversen aus, insbesondere der Zentralrat der Juden hatte diese harsch kritisiert. Im Interview mit Cicero-Online wehrt sich Grosser gegen die Vorwürfe. Er wirft Israel vor den Antisemitismus zu verstärken und spricht davon, dass es in Bezug auf Kritik an Israel in Deutschland ein Redeverbot gebe.
Professor Grosser, bei der großen Aufregung vor Ihrer
Rede in der Frankfurter Paulskirche hatte man fast das Gefühl, die
Leute seien hinterher enttäuscht gewesen, dass es nicht zum Eklat
kam...
Ja, sie waren sehr enttäuscht. Besonders die Fotografen.
Stattdessen habe ich ihnen ein Bild geliefert, wie Graumann und ich
uns sehr freundlich die Hände reichen.
Haben Sie ihre Rede aufgrund des Wirbels im Vorfeld
bewusst entschärft?
Keineswegs. Mir ging es nicht darum einen Eklat zu provozieren. Ich
wollte sagen, was ich zu sagen hatte.
Mit dem was Sie zu sagen haben, gelten sie bei vielen
als höchst umstritten. Sie gehen die israelische Politik so hart an
wie sonst kaum einer. Kritiker werfen ihnen vor, Sie verbreiten
Hass gegen Israel, auch indem Sie behauptet haben, Israel
provoziere durch seine Politik den Antisemitismus.
Nun, jedenfalls hat Israel Schuld an der Verstärkung des
Antisemitismus. Und weil der Zentralrat sich immer auf die Seite
Israels stellt und sich mit dem Staat identifiziert, fällt die
Kritik an der israelischen Politik auch auf den Zentralrat zurück
und damit auch auf die von ihm vertretenen deutschen Juden.
Nun ist der Antisemitismus viel älter als der Staat
Israel.
Ich habe ja auch nicht von dem Antisemitismus an sich gesprochen.
Ich habe gesagt Antisemitismus. Das gilt insbesondere bei jungen
Leuten arabischen Ursprungs, bei denen man verhindern muss, dass
sie Antisemiten werden, weil sich ständig der Zentralrat mit
israelischer Politik identifiziert.
Was entgegnen Sie Menschen, die Ihnen jüdischen
Selbsthass vorwerfen?
Was man mir höchstens vorwerfen kann, ist Selbstüberschätzung. Im
Übrigen ist das Argument dumm. Es geht dabei nur darum
Israelkritiker zu diskriminieren.
Salomon Korn hat im Vorfeld gesagt, es sei für die
Deutschen sehr bequem einen Mann wie Sie in die Paulskirche zu
schicken, einen der sich funktionalisieren lässt, wohl auch, um das
deutsche Gewissen zu entlasten. Was erwidern Sie
darauf?
Er hat sich ja dann beruhigt und später auch applaudiert. Der harte
Angriff auf mich zuvor, den wollte ich nicht beantworten. Die
Angriffe waren Ausdruck einer Angst, dass ich Israel kritisieren
würde, was ich ja auch getan habe. Am 09. November sollte es keine
Israelkritik geben. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler hat
2005 vor der Knesset gesagt, aus der Vergangenheit, aus Auschwitz
ergibt sich die Pflicht für jeden Deutschen, überall für
Menschenrechte und Menschenwürde einzutreten. Ich dachte, er habe
auch über die Palästinenser geredet. Aber das war wohl nicht der
Fall.
Im Zuge von Köhlers Israelreise sagten Sie auch, man
könne in Deutschland keine Israelkritik äußern.
Ich versuche die Deutschen in meinem Buch zu ermuntern: Jeder hat
das Recht und die Pflicht Menschenrechtsverletzungen zu benennen.
Die israelische Regierung verletzt Menschenrechte. Als ich in einer
Rede 1975 die Berufsverbote kritisierte, hat mich niemand als
deutschlandfeindlich bezeichnet. Als ich Frankreichs
Algerienpolitik kritisierte, hat mich niemand als Frankreichfeind
bezeichnet. Nun heißt es, weil ich die israelische Regierung
kritisiere, ich sei israelfeindlich. Das geht nicht.
Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, warum Alfred Grosser glaubt, es gebe in Deutschland bezüglich der Isrealkritik ein Redeverbot.
Worauf beruht eigentlich Ihre Einschätzung, es gäbe
bezüglich der Kritik an Israel in Deutschland ein Redeverbot? Sie
findet wöchentlich in deutschen Medien statt, insbesondere in der
linksliberalen Presse. Und praktisch kaum ein Thema wird doch
hierzulande so kontrovers diskutiert wie der
Nahostkonflikt.
Ich lese jeden morgen die Süddeutsche und die FAZ, und ich kann das
nicht bestätigen. In Israel selbst, da wird das Thema dagegen
wirklich kontrovers diskutiert. In Deutschland gibt es dieses
Redeverbot sehr wohl. Wenn ich Kritik übe, kommt aus dem Publikum
immer: Ja, sie als Jude dürfen das ja sagen. Ich antworte dann
immer: Wer hindert sie daran, es auch zu sagen?
Niemand. Selbst Norbert Lammert durfte doch 2008 in der
Paulskirche auf das Elend der Palästinenser hinweisen, die Frage
nach der israelischen Verantwortung stellen, und die, ob
israelische Politik nicht den Islamismus fördere.
Ich mag Lammert sehr. Aber im Großen und Ganzen folgt solcher
Kritik immer sofort der Angriff und der Vorwurf des Antisemitismus.
Als Norbert Blüm beispielsweise vor einiger Zeit leise Kritik
geäußert hat, wurde er vom Zentralrat als Antisemit eingestuft.
Blüm hat keine leise Kritik geübt, er hat vom
Vernichtungskrieg des israelischen Militärs gesprochen. Keine
glückliche Wortwahl.
In Nahost kämpft eine Macht gegen eine Ohnmacht. Die israelische
Regierung spricht von Terrorismus. Es ist aber ein Terrorismus, der
in keinem Verhältnis steht zu der Vernichtung die Israel in Gaza
betreibt. 1400 Tote, das hat sogar Broder erschüttert. Von der
notwendigen Freilassung des Soldats Shalit habe ich oft gesprochen,
aber immer in Verbindung mit der Tatsache, dass hunderte
Palästinenser ohne jede Anklage in israelischen Gefängnissen
sitzen.
Für Sie trägt Israel auch die Schuld daran, dass der
Konflikt bis heute nicht gelöst wurde. Ist das nicht ein wenig
einseitig?
Nein, natürlich trägt Israel die Schuld. Es liegt an Israel, dass
besetzt wird, dass an der Mauer die Menschen nicht rüber kommen,
dass sie an den Grenzen gedemütigt werden.
Israel ist umzingelt von Feinden, die es am liebsten von
der Landkarte tilgen würden. Jede verlorene kriegerische
Auseinandersetzung birgt eine unmittelbare Gefahr der Existenz
Israels. Trotzdem ist das Land ein demokratischer, multiethnischer
Staat geblieben. Muss man ihm das nicht zugute halten?
Nein. Erstens: Israels demokratisches Verständnis ist vergleichbar
mit dem der USA gegenüber ihrer schwarzen Bevölkerung: Eine
Demokratie, die Menschen ausschließt, eine Demokratie, die nur für
die jüdischen Israelis gilt. Zweitens: Israel hat viel mehr Waffen
als alle arabischen Länder zusammen. Hinzu kommt die Atombombe.
Israel wird beschützt von der ganzen Welt, von den USA, von
Frankreich, von der ganzen Welt. Gott sei Dank, natürlich, aber
dann soll nicht ständig gesagt werden, Israel handele gegen die
Palästinenser im Namen der Bedrohung Israels. Das ist doch ein
totaler Widerspruch.
Und dass es von Feinden umzingelt ist, stimmt einfach nicht. Die
jüngsten Wikileaks-Akten zeigen, dass der König von Saudi-Arabien
die USA gebeten hat, den Iran zu bombardieren. Wo ist da die
Feindschaft zu Israel?
Der heimliche Appell der Saudis an Amerika zeigt doch
vor allem, welche Bedrohung von Iran ausgeht, für die arabische
Welt im Allgemeinen und Israel im Besonderen.
Was hat das mit der Ausdehnung der Siedlungen zu tun? Was ist der
Bezug? Wenn man sich verteidigen muss, gilt es die Bevölkerung
hinter sich zu bringen. Israel müsste angesichts der Bedrohung auch
die palästinensische Bevölkerung auf seine Seite bringen.
Stattdessen ist seitens der Regierung bisher nicht ein Satz des
Mitgefühls gegenüber dem Leid der Palästinenser gefallen.
Würden Sie nicht sagen, dass auch die arabischen Staaten
eine Bringschuld haben? Und dass es nicht zu einer Lösung des
Nahostkonfliktes beiträgt, wenn von arabischer Seite der
Flüchtlingsstatus der Palästinenser aufrechterhalten und als
Druckmittel eingesetzt wird?
Auf das Problem habe ich schon mehrmals hingewiesen. Ich bin ja
selbst gegen die Rückkehr. Deshalb wurde ich auch schon von einer
Veranstaltung einer pro-palästinensischen Vereinigung ausgeladen.
Eine Rückkehr ist nicht möglich, weil die Flüchtlingszahl
mittlerweile in der dritten Generation in den Millionenbereich
gewachsen ist.
Wie kann ein alternativer Lösungsansatz
aussehen?
Es gibt momentan keinen. Es kann keine Zweistaatenlösung geben.
Sehen sie sich die Karte an. Es ist kein Platz mehr für einen
palästinensischen Staat.
Lesen Sie im dritten Teil des Interviews, wie sich Alfred Grosser gegen den Vorwurf wehrt, er relativiere das Grauen der Shoah.
Wenn Sie vom Leid der Völker und dem Unrecht in der Welt
sprechen, haben Sie immer wieder auch Vergleiche mit dem Holocaust
herangezogen. Vielfach wurde Ihnen dabei vorgeworfen, Sie
relativierten damit das Grauen der Shoah.
Man soll immer vergleichen. Man kann eine Einmaligkeit nicht
behaupten, ohne verglichen zu haben. Ich mache enorme Unterschiede,
aber ich sage auch heute, dass in deutschen und französischen
Schulbüchern Mao und Stalin zu wenig berücksichtigt werden. Das hat
aber nichts damit zu tun, den Holocaust bagatellisieren zu
wollen.
Für mich ist die Frage auch: Wie kann ich junge Deutsche dazu
bringen an Auschwitz zu denken? Das beste Mittel ist zu sagen, nie
wieder Antisemitismus, aber auch immer für Gerechtigkeit und Würde
der Menschen überall eintreten. Nicht nur den Juden, sondern allen
Menschen.
Wobei das, was den Juden geschehen ist, doch tatsächlich
einzigartig in der Geschichte ist.
Das würde ich bedingt sagen. Ganze Völker sind im Osten ausgerottet
worden. Niemand interessiert sich dafür, weil die dortigen Opfer
keine Macht des Wortes haben.
Die systematisch auf ein einziges Volk ausgerichtete,
industrialisierte Massenvernichtung hat es in der Weise niemals
vorher oder nachher gegeben.
Das ist wahr. Aber der gewollte Hungertod hat Millionen Ukrainer
das Leben gekostet, Mao sind dreissig oder fünfzig Millionen
Landsleute zum Opfer gefallen. Nur hatten die Überlebenden kaum
Möglichkeit, in unseren Ländern Gehör zu finden. Anderthalb
Millionen Armenier sind gestorben, das ist auch keine Bagatelle.
Einmaligkeit ja. Aber das soll keine Bagatellisierung der anderen
Verbrechen sein.
Aber das tut doch niemand.
Doch, ständig. Jedes Erwähnen anderen Leids wird interpretiert als
Bagatellisierung des Holocaust. Dagegen wehre ich mich.
Kürzlich sprachen Sie in Berlin auf einer Veranstaltung
zum Thema Antisemitismus von der Bombardierung Dresdens als
Kriegsverbrechen. Man hat das Gefühl, dass Sie mit den Dingen, die
sie in einen Kontext stellen, ganz bewusst Fehlinterpretationen und
Entrüstung in Kauf nehmen.
Nein. Man muss deutsches Leid verstehen, um jungen Deutschen zu
erklären, was Hitler bedeutet hat. Und ich sage im selben Atemzug,
man muss ein Minimum von Verständnis haben für das Leid in Gaza, um
jungen Arabern erklären zu können, wie schrecklich die Attentate
sind. Und wie gesagt, den Holocaust stelle ich nicht gleich. Es
geht mir darum, andere Verbrechen nicht zu bagatellisieren.
Was ist eigentlich Ihre Motivation? Ihr zentrales
Anliegen?
Die Moral. In Heidelberg bei der Karl Jaspers-Sitzung, da habe ich
mich seinerzeit als Moralpädagoge vorgestellt. Ich fühle mich der
Aufklärung verpflichtet.
Es geht darum die Deutschen auch hier zu befreien, eine Normalität
herzustellen, dass jeder die Möglichkeit besitzt zu sagen, was er
will. Ich denke da auch an die Martin Walser-Rede.
Walser sprach damals von der „Auschwitzkeule“. Glauben
Sie, dass die These auch deshalb auf viel Resonanz stößt, weil die
lebendige Erinnerung an den Holocaust als wirkungsvollste
Prophylaxe gegen den Antisemitismus gilt?
Das glaube ich nicht. Die Israelis haben ja mit dem Beginn des
Eichmannprozesses überhaupt erst angefangen, sich als Überlebende
des Holocaust zu betrachten.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung des Antisemitismus in
Europa?
Heute ist in Deutschland und Frankreich der Antiislamismus stärker
als Antisemitismus. Aber die Lage in Ungarn und Rumänien, die macht
mir Sorge.
Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führten Timo Stein und Constantin Magnis
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