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(picture alliance) Die Mittelschicht in England fordert allergrößte Härte gegen die Randalierer

Unruhen in England - Die Wut der Gutbetuchten ist die größere Gefahr

Nach den tagelangen Gewaltexzessen in England glauben immer mehr Menschen, gegen die Täter helfe nur noch ein hartes Durchgreifen. Die Wut der Mittelschicht gegen die Unteren bedroht jedoch den Grundkonsens der Demokratie

Die Brutalität der Unruhen in England muss jeden, der sie beobachtet, sprachlos machen. Fünf Menschen kamen bei den Randalen bislang ums Leben, zahllose Geschäfte wurden geplündert, Molotow-Cocktails flogen, ein Popmusik-Archiv brannte aus. Die Zerstörung ist groß, doch noch größer droht die Zerstörung der wichtigsten demokratischen Prinzipien, die eine demokratische Gesellschaft zusammenhalten: Solidarität und Sozialpolitik.

Premierminister David Cameron verkündete auf einer Sondersitzung im Parlament, mit aller Härte gegen die Gewalttäter vorzugehen. Er kündigte an, die Polizei binnen 24 Stunden mit Wasserwerfern – die bislang nur in Nordirland eingesetzt wurden – auszurüsten. Zuvor hatte er von einer „Gegenwehr“ und einer „kranken Gesellschaft“ besprochen. Die Kriegsrhetorik mag übertrieben wirken, aber für den obersten Chef der Sicherheitskräfte nicht unangemessen. Dass seine Strategie zunächst aufging, wurde in der vierten Krawallnacht deutlich: Die rund 16.000 Polizeibeamten in London konnten die Anarchie zumindest etwas einschränken.

Viel beängstigender als die harten Töne von Seiten der Behörden ist jedoch eine Stimmung in der Mitte der Gesellschaft, die den Unruhen immer weniger Verständnis entgegenbringt. Wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov am Mittwoch ergab, stimmt die Mehrheit der Briten für eine repressivere Strategie gegen die Unruhestifter. Neun von zehn Briten würden den Einsatz von Wasserwerfern befürworten, jeder dritte würde den bislang unbewaffneten Polizisten das Schießen erlauben. Auch den Einsatz von Pferden, Tränengas, Elektroschockpistolen und Plastikgeschossen begrüßt die Mehrheit der Befragten. Mehr als drei Viertel der Briten fordern sogar den Einsatz der Armee, den selbst die Regierung nicht mehr ausschließt.

Die Umfrage zeigt auch, wie groß die Bürger der Politik und der Justiz misstrauen: 57 Prozent der Briten glauben, dass Cameron die Situation nur „schlecht“ im Griff habe, und 85 Prozent fürchten, dass die Schuldigen ungestraft davonkommen.

In einem ohnmächtigen Versuch, der Gewalt Herr zu werden, setzt sich die Mittelklasse gegen die Unteren, die scheinbar Asozialen, zur Wehr. Es gilt Mut statt Mitgefühl zu zeigen, Selbstverteidigung statt Solidarität zu praktizieren. Die Gutbetuchten versammeln sich nachts in Bürgerwehren und morgens in Putzkolonnen, die die Spuren der Verwüstung wegräumen. Die Wut der Mittelschicht nutzt auch den Rechtsradikalen: So präsentierten sich Vertreter der „English Defence League“ und der „British National Party“ als Helfer in Not, mischten sich unter die Bürgerwehren.

Lesen Sie weiter, wie die Bürger im Internet nach Randalierern fahnden.

Auch im Internet formiert sich der Gegenprotest, ein Nutzer spricht von „feigen Taten von Verbrechern und Kleinkriminellen“. Tausende versuchen auf Webseiten, Unruhestifter anhand von Videoaufnahmen zu identifizieren. In London gibt es rund 12.000 Kameras, mehr als in jeder anderen Stadt der Welt. Der Blog „Catch a Looter“ wurde so überrannt, dass der Initiator keine eigenen Aktualisierungen mehr vornahm. Und die Homepage eines Webaktivisten, der die Kürzung der Sozialhilfe für die Randalierer forderte, brach wegen des Ansturms gleich ganz zusammen.

Die britische Mittelschicht, die sich gemütlich eingerichtet hat, ein Häuschen im Grünen bewohnt und täglich zur Arbeit geht, wendet sich angewidert von den Krawallmachern ab. Dabei verkennt sie zwei Dinge: Erstens sind die sichtbarsten Zerstörer nicht unbedingt nur Angehörige der Unterschicht. Unter den mehr als 1.300 Personen, die im Zusammenhang mit den Protesten in ganz England festgenommen wurden, sind etwa auch ein Lehrer, ein Küchenchef, die Tochter eines Millionärs und ein elfjähriger Schuljunge. Nicht alle Unruhestifter kommen aus der Unterschicht, und nicht alle Angehörigen der Unterschicht nehmen an den Protesten teil.

Zweitens verdrängt die Diskussion um Polizeitaktiken und Armeeeinsatz den Blick auf die wirklichen Probleme: die immer stärkeren sozialen Spannungen, die Ausgrenzung von Armen und Immigranten, die Perspektivlosigkeit der Jugend. Doch statt nach echten Lösungen in einer verbesserten Sozialstruktur zu suchen, ist es leichter, an den Symptomen zu operieren. Das war auch schon bei den Krawallen in den französischen Vororten 2005 so: Nicolas Sarkozy, damals noch Frankreichs Innenminister, schlug vor, die Banlieues „mit dem Kärcher“ von Kriminellen zu befreien. 2007 wurde er zum Präsidenten gewählt.

Den größten Fortschritt in ihrer Geschichte machten die westlichen Demokratien, als sie die Klassenkonflikte mit Sozialpolitik dämpften, als sie im Laufe des 20. Jahrhunderts der Unterschicht durch Umverteilung im Staatshaushalt, Sozialversicherungen, Wohlfahrtsprogramme und bessere Bildungsangebote mehr Aufstiegsmöglichkeiten einräumten. In Großbritannien ist gerade das Gegenteil zu beobachten: Der Staat kürzte immer mehr Sozialprogramme. Bildung ist kaum noch bezahlbar, für viele Jugendliche sind die teuren Studienplätze unerschwinglich. Die Gesundheitssysteme sind marode, und der Staat kann selbst kaum noch Jobs anbieten, weil seit den 1990er Jahren die Axt an öffentliche Unternehmen wie die Eisenbahn gelegt wurde. Mittlerweile ist jeder fünfte Jugendliche unter 25 Jahren ohne Job.

In einer Demokratie ist die Mittelschicht die wichtigste, weil tragende Schicht. Nur, wenn die Menschen ausreichend wohlhabend sind, werden sie sich intelligent am politischen Leben beteiligen, sagte der Politikwissenschaftler Seymour Lipset und wiederholte damit eine uralte Erkenntnis des Philosophen Aristoteles. Wenn die Mittelschicht aber blind ist für die Probleme der Ärmsten, an denen sie auch teilweise selbst schuld ist, droht sie selbst das soziale Band zu zerschneiden, das eine demokratische Gesellschaft zusammenhält. Was dann passiert, kann man etwa in Südafrika und Lateinamerika beobachten: Dort schotten sich die Reichen mit Mauern, Stacheldraht und Personenschutz gegen die Mittellosen ab. Großbritannien sollte daher lieber auf seine Ärmsten zugehen, anstatt sie auszugrenzen.

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