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Nationalistische Gewalt in Moskau - „Rassismus in Russland ist primär ethnisch“

Vor knapp einer Woche wurde ein 25-Jähriger im Moskauer Bezirk Birjuljowo erstochen - vermutlich von einem Ausländer. Am Wochenende kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, nationalistische Demonstranten stürmten einen Gemüsemarkt. Rechtsextremismus-Expertin Natalija Judina über verfehlte Migrationspolitik und das „tschetschenische Problem“

Autoreninfo

Vinzenz Greiner hat Slawistik und Politikwissenschaften in Passau und Bratislava studiert und danach bei Cicero volontiert. 2013 ist sein Buch „Politische Kultur: Tschechien und Slowakei im Vergleich“ im Münchener AVM-Verlag erschienen.

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Frau Judina, ist Russland ein fremdenfeindliches Land?

Ich kann nicht sagen, dass Russland ein fremdenfeindliches Land ist. Xenophobie, die Angst vor dem Fremden, ist grundsätzlich vielen Menschen zu eigen. Es ist eine biologische Angst vor dem Unbekannten und Unverständlichen.

Was ist das Unverständliche für die Russen?

Auf den Straßen in russischen Städten gibt es einige Menschen, die sehr schlecht Russisch sprechen, die anders aussehen, die unter fürchterlichen Bedingungen leben und sich auch öfter aggressiv verhalten. Das ruft in einigen Teilen der Gesellschaft Angst hervor – und Aggressionen bei ultrarechten, radikalen Jugendgruppen.

Die Reaktion in Birjuljowo macht nicht den Eindruck, dass nur ultrarechte, radikale Jugendliche fremdenfeindlich sind. An den Demos haben nicht nur kahlköpfige Neonazis teilgenommen, die „White Power“ riefen. Sondern auch ältere Frauen, ganz normale Bürger.

Birjuljowo hat seine bedauerlichen Eigenheiten. Die Tötung von Jegor Schtscherbakow ist kriminell. Die Details des Tathergangs sind unbekannt, aber vermutlich war es eine Auseinandersetzung, die leider mit Totschlag endete. Die Situation ist aber mit dem großen, ethnisch heterogenen, nicht kriminalitätsfreien Gemüsemarkt verbunden. Traurig ist, dass die Anwohner nicht nur und nicht in dem Maße über diesen konkreten Totschlag erzürnt sind, wie sie sich über die „Zugereisten“ insgesamt empören.

Immigranten werden in Sippenhaft genommen – für die Tat eines Individuums.

Die Reaktion der Anwohner war dezidiert nationalistisch. Für den Vorfall haben sie sofort alle „Nichtrussen“ verantwortlich gemacht, die in dem Bezirk wohnen. Und als dann Nationalisten nach Birjuljowo kamen, brachen – das ist eine Tatsache – die Pogrome aus.

Was ist Ihrer Meinung nach ursächlich für Rassismus in Russland?

Der Rassismus in Russland ist primär ein ethnischer. Es gibt auch Islamophobie, aber sie zeigt sich in geringerem Maße. Hauptsächlich haben wir es hier mit Feindseligkeit dem gegenüber demjenigen zu tun, der äußerlich als Fremder zu erkennen ist. Gerade das ist ethnischer Rassismus.

Kaukasier und Zentralasiaten, die man in Russland „Gastarbajter“ nennt, sind meist Muslime, die Russen sind mehrheitlich christlich-orthodox. Welche Rolle spielt die orthodoxe Kirche, die sich auch als slawische Religionsgemeinschaft wahrnimmt?

Die russisch-orthodoxe Kirche weicht dieser Problematik in den meisten Fällen aus. Es gibt aber einige Äußerungen gegen den Bau von Moscheen in Moskau und einzelne Aussagen gewisser Kirchenführer. Zum Beispiel von Oberpriester Vsevolod Tschaplin, dem Leiter der synodalen Abteilung für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft. Er erklärte, man könne die Empörung der Menschen verstehen. Es sei die Angelegenheit des Staates, zu erreichen, dass ein Mensch, der unverschämt und herausfordernd die in russischen Städten üblichen Normen mit Füßen trete und dann noch zu einem Messer greife, ganz klar verstehe: „Wäre er von einem Dach gesprungen, wäre das nicht gefährlicher gewesen als das, was er sich selbst angetan hat.“

Die Antipathie gegenüber den muslimischen „Gastarbajtern“ stützt sich allerdings auch auf konkret Wirtschaftliches: Meist wird argumentiert, die Zuwanderer würden zu viel schlechteren Löhnen und Arbeitsbedingungen schuften und daher den Russen die Arbeitsplätze wegnehmen.

Die russische Wirtschaft ist gegenwärtig so aufgestellt, dass zu ihrer Aufrechterhaltung viele unqualifizierte, billige Arbeitskräfte benötigt werden. Diese Lücke schließen Einwanderer, denen sich eine gute Perspektive eröffnet, hier Geld zu verdienen.

Per se nichts Schlechtes.

Die Hälfte aller Arbeitserlaubnisse und Registrierungen von Einwanderern sind aber gefälscht und gegen Bestechungsgelder ausgestellt worden. Man muss also nicht das Problem eines Gemüse-Marktes lösen, sondern sich auch darum kümmern, dass im Föderalen Migrationsdienst aufgeräumt wird.

Was läuft in der russischen Zuwanderungspolitik falsch?

Die russische Migrationspolitik ist nicht durchdacht und das Ausmaß an Korruption im Bereich der Einwanderung ist sehr groß.

Ein Beispiel: Als ein Mann aus dem kaukasischen Dagestan im August dieses Jahres einen Polizisten auf dem Matwejewskij-Markt angriff, wurde eine breit angelegte Kampagne gegen illegale Immigration gefahren. Sie hat sich indes als Wahlkampagne für den Bürgermeister Sergej Sobjanin entpuppt. [Der Moskauer Bürgermeister stellte sich erneut zur Wahl und wurde im September wiedergewählt, Anm.d.Red.]

Dann versucht Russland nicht, das Problem an der Wurzel zu packen, sondern im Nachhinein die Dinge in Ordnung zu bringen.

Ich glaube nicht, dass die Vorgänge in Birjuljowo Ordnung schaffen werden – vielmehr werden sie nur die Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft auf die Spitze treiben.

Leider hat erst der Zusammenschluss von Nationalisten und den Bewohnern Birjuljowos die Staatsgewalt dazu bewogen, sich mit den Problemen dieses Marktes zu befassen. Ohne die Ereignisse auf diesem Markt wäre nichts passiert.

Heißt das, dass der russische Staat Rechtsextremismus solange toleriert, bis es wirklich brennt?

Nein. Nach den Vorfällen am Manegen-Platz 2010 [Nachdem ein russischer Fußballfan bei einer Auseinandersetzung - an der Kaukasier beteiligt waren - gestorben war, kam es zu Krawallen, Anm.d.Red.] hat der russische Staat aufgehört, Spielchen mit Rechtsextremisten zu spielen. Und jetzt zeigt er wenigstens die Bereitschaft, gegen die radikalen Erscheinungen von Fremdenfeindlichkeit zu kämpfen.

1999 ließ Wladimir Putin die russische Armee in Tschetschenien einmarschieren, um gegen die „Terroristen“ zu kämpfen. Glauben die Rechten, dass sie gegen Terroristen vorgehen, wenn sie Geschäfte von Kaukasiern oder Zentralasiaten stürmen?

Es gibt ein „tschetschenisches Problem“ in Russland. „Die Fremden“ aus Tschetschenien und Dagestan, also dem Nordkaukasus, werden automatisch als Terroristen wahrgenommen. Aber in den Sprüchen und Parolen, die in Birjuljowo gerufen wurden, ging es nicht um den Kampf gegen Terroristen. Die Menschen riefen „Das ist unser Zuhause“ und „Wir verteidigen uns selbst“.

Zum ersten Mal seit den Terroranschlägen auf die Moskauer U-Bahn von 2010 hat die Moskauer Polizei alle verfügbaren Kräfte im Stadtgebiet in Alarmbereitschaft versetzt („Plan Vulkan“). Will man mit dieser enormen Reaktion zeigen, dass man für die Sicherheit dieses Zuhauses steht?

Die Mächtigen in Russland sind von den Pogromen nicht weniger verschreckt als die anderen. Aber sie versuchen, die Sache auf dem traditionellen Weg der Gewalt zu lösen. Sie wollen zeigen, wer hier der Boss ist.

Leider weiß ich nicht, was man tun sollte, damit sich solche Konflikte wie in Birjuljowo nicht wiederholen. Es wäre wünschenswert, wenn der Täter gefasst würde. Aber es ist nicht abzusehen, ob sie ihn überhaupt finden. Die Hauptsache ist aber, die Unruhen zu untersuchen, denn das ist eine wirklich ernste Sache.

Die Polizei hat ja nicht nur Rechtsradikale, sondern auch einige Immigranten festgenommen. Warum? Will man den Rechtsradikalen den Wind aus den Segeln nehmen?

Ich glaube, es ist ein Zugeständnis an die Bevölkerung, dass sie die Migranten festgenommen haben. Man will zeigen, dass die Suche nach dem Täter genau so ablaufen wird. Bisher ist ja nur bekannt, dass er angeblich wie ein „Migrant“ aussah.

Natalija Judina ist Expertin für Rechtsextremismus am Moskauer Forschungsinstitut Sova, das sich mit Nationalismus, Extremismus und Religion beschäftigt.

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