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Atombombe auf Nagasaki - Japan hätte auch ohne Bombe kapituliert

Am 6. August 1945 fiel die erste Atombombe der Kriegsgeschichte auf die japanische Stadt Hiroshima. Drei Tage später war Nagasaki das Ziel der US-Armee. Der Autor Klaus Scherer bezweifelt, dass der zweite Angriff kriegsentscheidend war. Er beschreibt den Bombenabwurf als Kriegsverbrechen

Autoreninfo

Klaus Scherer, 1961 geboren, ist Sonderreporter beim NDR in Hamburg. Zuvor arbeitete er als ARD-Korrespondent in Japan und den USA. Er wurde u. a. mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm „Nagasaki: Der Mythos der entscheidenden Bombe“ (2015).

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Historiker gegen Verklärung Das Gewissen der Nachwelt

Als ich die Hausherrin der Gedenkstätte von Los Alamos auf die zweifelhafte Errungenschaft von Ohrschmuck in Atombombenform hinwies, erwiderte sie zu Recht, dass ihr Museum auch ein Regal voller Fachliteratur zum Kauf anbiete. Tatsächlich sind darunter auch die Bücher Martin Sherwins, dem wohl ausgewiesensten Kenner der Biographie Robert Oppenheimers und der Geschichte der Atombomben, den ich bald darauf in seinem Wohnort Washington dazu befrage. Sherwin, der auch mit über siebzig Jahren noch als wissensdurstiger Historiker auf die Welt blickt, lehrte an Universitäten in New Jersey und Virginia sowie als Gastdozent in Florenz. Die Frage, warum sich Amerikas Rückblick auf das Kriegsende so dramatisch wandeln konnte wie in den Wochenschauen, hat auch er sich oft gestellt.

[[{"fid":"66420","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":500,"width":750,"style":"width: 240px; height: 160px; float: left; margin: 3px 6px;","title":"Credit © NDR/ Bacher","class":"media-element file-full"}}]]»Es gab vor den Atombomben sehr viele Berichte, dass die Japaner bereits geschlagen seien, dass ihre Marine nicht mehr seetüchtig sei, ihre Flugzeuge mehr fliegen könnten, die Menschen Hunger litten und vieles mehr«, bestätigt er im Gespräch. » Tatsächlich drehte sich nach dem Krieg dann die Berichterstattung. Von da an hieß es, die Japaner seien immer noch stark gewesen, das Militär kampfbereit und dass eine Invasion viele Opfer gefordert hätte. Vermutlich sind beide Varianten nicht völlig falsch. Dennoch macht der Kontrast deutlich, dass im Nachhinein die Lage zurechtgerückt wurde, um daraus dann den Einsatz der Bomben abzuleiten.«

Sherwin zufolge war auch offensichtlich, dass die erwarteten US-Verluste im Falle einer Invasion Japans aufgebauscht wurden, um die Bomben zu rechtfertigen. Auch dies sei Teil der Nachkriegspropaganda gewesen. Tatsächlich habe es nie eine ernsthafte Voraussage gegeben. Zwar hätte die Invasion sehr viele Opfer gefordert, so dass es begründet gewesen sei, den Krieg zuvor zu beenden. »Das heißt aber nicht, dass es nur die Alternative gab, entweder die Atombombe zu werfen oder im November mit der Invasion zu beginnen«, sagt er. »Die wahren Optionen waren, wie wir heute wissen, entweder zu klären, dass der Kaiser überleben dürfe, oder zu warten, bis die Sowjets in den Krieg eintraten.«

Warum fiel die zweite Bombe?
 

Wie es eigentlich dazu gekommen sei, dass zwei Bomben gebaut wurden, stelle ich auch ihm unsere Ausgangsfrage. »Es gab zwei Bomben, weil es zwei Elemente gab, aus denen man sie bauen konnte«, sagt er, »zum einen Uran 235 und zum anderen Plutonium. Ersteres war technisch recht einfach und ist deshalb vorab nie getestet worden. Da war in beiden Kammern Uran, die Bombe wurde gezündet und explodierte. Das war die Hiroshimabombe.

Die zweite war wissenschaftlich eine viel größere Herausforderung, denn eine Plutoniumbombe explodierte nicht, sondern musste im Gegenteil zu einer Implosion gebracht werden.« Dafür ein verlässliches Verfahren zu entwickeln sei in den anderthalb Jahren vor dem Abwurf die Hauptaufgabe der Wissenschaftler gewesen. »Das Groteske daran ist, dass sie ja schon eine Atombombe hatten«, legt er dar. »Sie hatten die Hiroshimabombe. Trotzdem floss der ganze enorme Aufwand noch in eine Plutoniumbombe. Deshalb muss man sich fragen, ob nicht allein schon dieser Aufwand dazu beitrug, dass diese Bombe auch fiel.«

Was denn seine Antwort darauf wäre? »Sie lautet: Ja, absolut«, antwortet er. »Die Herausforderung der Wissenschaftler in Los Alamos war die Plutoniumbombe, denn die Implosionstechnik war die effizientere, sowohl für Uran als auch für Plutonium. Das war die Zukunft.« Auch für Sherwin war die Nagasakibombe trotz des vorausgegangenen Tests somit ein Feldversuch unter Kriegsbedingungen.

Opfer eines Menschenversuchs
 

Was dann von der Version zu halten sei, frage ich, wonach die Japaner zu stur und zu zögerlich waren. Die vorherrschende Auffassung der Öffentlichkeit sei bis heute, dass erst die Bomben sie umgestimmt hätten.

»Natürlich, das ist die offizielle Version«, sagt er und winkt ab. »Nur ist sie weder aus den Tatsachen abgeleitet, noch entspricht sie der Chronologie der Kapitulationsentscheidung.« In Wahrheit wüssten wir, dass die Japaner bereits über Wochen, wenn nicht Monate nach Wegen gesucht hatten, zu kapitulieren, und dass sie das Leben des Kaisers sichern wollten. »Sie hofften auf die Sowjets als Vermittler«, bilanziert er wie seine Kollegen, »aber diese Hoffnung zerplatzte, als Moskau Japan den Krieg erklärte, so dass Tokio militärisch wie diplomatisch die Optionen wegfielen.«

Die Opfer zweier Atombomben zu Opfern eines Menschenversuchs zu erklären sei ein schwerer Vorwurf, werfe ich ein. Und frage, an wen er ihn richten würde.

»Es war ziemlich klar, dass die Bomben benutzt würden, wenn der Krieg anhielt. Und sobald die erste geworfen war, gab es sicherlich zumindest bei General Groves das Verlangen, auch die zweite Bombe explodieren zu sehen. Wäre Amerika glücklich gewesen, wenn der Krieg sagen wir am 15. Juli ohne die Atombomben zu Ende gegangen wäre? Ich denke, ja. Wäre auch General Groves glücklich gewesen? Ich denke, nein.«

Die Rolle Trumans in jenen Wochen schätzt Sherwin differenzierter ein. »Ich denke, der Präsident selbst wäre im Grunde auch erleichtert gewesen, den Krieg ohne Atombomben zu beenden«, sagt er uns. »Wer ihn aber sehr dazu drängte, die Kapitulationsbedingungen nicht zu verändern, war Außenminister Byrnes. Er verhinderte unerbittlich, dass die Frage des Kaisertums vorab geklärt wurde. Das war jedoch keine militärische, sondern eine politische Entscheidung. Er glaubte, es würde Truman schaden, wenn er von harten Kapitulationsforderungen abrückte. Zudem versprach sich Byrnes vom Einsatz der Bomben einen Vorteil gegenüber den Sowjets mit Blick auf die Nachkriegsordnung.«

Trumans Zwiespalt, Oppenheimers Reue
 

Byrnes habe folglich Japaner und Sowjets gleichermaßen mit der Bombe beeindrucken wollen. Für ihn und auch für Kriegsminister Stimson habe sie auf einen Schlag nicht nur den Krieg beenden, sondern auch die konventionelle Überlegenheit Moskaus ausgleichen sollen. Sie war der »great equalizer«, der große Gleichmacher, zitiert Sherwin aus den Akten. »Sie wollten den Sowjets auch sagen können, ihr habt zwar zwölf Millionen Soldaten, aber wir haben die Bombe. Das gleicht sich aus.«

Ob denn Byrnes’ Sorge berechtigt gewesen sei, frage ich, dass Truman jede Nachsicht gegenüber Hirohito geschadet hätte? Später habe man ihm ja auch nicht vorgehalten, dass Japans Kaiserhaus überlebte. »Nein, sie war unbegründet«, erwidert der Historiker. »Die Amerikaner waren so glücklich, dass dieser Krieg endlich vorüber war. Das ganze Land feierte. Dass General MacArthur den Kaiser verschonte, blieb dagegen eine unerhebliche Randnotiz. Dennoch hatte Byrnes ein Debakel befürchtet. Dabei ging es damals gar nicht um ein Aufweichen der Potsdamer Erklärung, sondern nur darum, den Nachkriegsstatus des Kaisers klarer zu formulieren.«

Truman scheine in die Entscheidung, wann welche Bomben abgeworfen wurden, gar nicht eingebunden gewesen zu sein, bemerke ich. Erst danach habe er angeordnet, eine dritte Bombe dürfe nur mit seiner ausdrücklichen Zustimmung fallen. Was bewirkte den Unterschied?

»Das stimmt«, erwidert Sherwin. »Der Präsident war anfangs zwar nicht ganz außen vor, aber Bau und Einsatz der beiden Bomben hatte er bereits durchgewinkt. Erst danach wurde ihm offenbar klarer, dass die Atombomben mehr bedeuteten als die Zerstörung weiterer Städte. Deshalb stoppte er weitere Abwürfe.«

Glaubte er denn wirklich, dass die Atombombe, wie es immer wieder hieß, nur militärische Ziele zerstören würde?

»Jeder, der damit befasst war, wusste, dass das nicht stimmte. Das Ziel waren die Stadtzentren von Hiroshima und von Nagasaki. Nur weil Nagasaki unter Wolken lag, verfehlte die Bombe das Zentrum, deshalb war dort die Zahl der Opfer geringer, obwohl die Bombe mehr Sprengkraft hatte.«

Die Frage, wie sinnvoll es sei, moralisch zwischen der ersten und der zweiten Bombe zu unterscheiden, prüft der Historiker seit dem Beginn seiner Forschungen. Seine Antwort darauf, sagt er, habe sich gewandelt. »In meinen ersten Arbeiten aus jüngeren Jahren schrieb ich zunächst noch, dass es vielleicht ein Argument für die Hiroshimabombe gebe, keinesfalls aber mehr für die Nagasakibombe«, resümiert Sherwin. »Je mehr ich aber aus amerikanischen, japanischen und auch russischen Archiven lernte, desto klarer wurde das Bild, dass beide Bomben unnötig waren. Auch wenn Kriege immer unmoralisch sind und die Ermordung und Vernichtung von Zivilisten allemal.«

Zuletzt frage ich den Oppenheimerexperten nach der Episode, die mir Museumschefin Heather McClenahan in Los Alamos geschildert hat: Stimmt es, dass Oppenheimer nach dem Krieg zu Truman ging und klagte, er fühle das Blut an seinen Händen? Und dass Truman ihn deshalb aus seinem Büro warf?

»Oppenheimer war besorgt, weil er nach dem Krieg ein nukleares Wettrüsten kommen sah«, bestätigt er. »Darüber sprach er mit jedem, auch mit Politikern in Washington. So kam es zu einem Termin mit Truman. Als der Präsident ihn auf den Kopf zu fragte, wann er damit rechne, dass Moskau über Atomwaffen verfüge, antwortete Oppenheimer zunächst verschüchtert, er wisse es nicht. Dabei hatte er selbst vorhergesagt, es werde nur drei bis fünf Jahre dauern.

Truman konterte daraufhin, aber er wisse es. Er sei sicher, dass die Sowjets die Bombe niemals würden bauen können. Daraufhin war Oppenheimer dann so außer sich, dass dieser Satz aus ihm herausplatzte. Er fühle sich, als klebe an seinen Händen Blut. Das hieß wiederum im Klartext, dass Truman Blut bis zu den Achselhöhlen hätte fühlen müssen. Deshalb schickte der Oppenheimer verärgert hinaus und sagte zu seinem Büromitarbeiter, er wolle diesen Hundesohn nie mehr sehen.«

Es gab keine gute Ausrede für die Nagasakibombe

 

Wer sich auf dem Campus der American University in Washington dem Lehrstuhl Peter Kuznicks nähert, fühlt sich, als betrete er allmählich asiatischen Boden. Zunächst verdichten sich auf Seminartafeln und Türschildern die Hinweise auf das Forschungsgebiet des Historikers, von »nuklearen Studien« über den Kalten Krieg bis zur Geschichte der Atombombe und den Perspektiven des Rückblicks, bis sich im Zimmer des Institutsleiters die Bilder, Buchrücken und Papierstapel aus Fernost, Japan, Hiroshima und Nagasaki derart dicht drängen, dass er kaum genug Platz findet, um sich dazwischenzuzwängen.

Die wenigen regalfreien Wände sind von großflächigen Fotos aus Kriegstagen bedeckt. Kuznick hat gemeinsam mit Japanern Geschichtsbücher verfasst, mit Erfolgsregisseur Oliver Stone Filmprojekte erarbeitet und mit Studenten gegen eine zweifelhafte Ausstellung des Hiroshimabombers Enola Gay in der Luft- und Raumfahrt-Sektion des renommierten Smithsonian Museum protestiert. Danach organisierte er selbst ein Projekt unter Beteiligung Hiroshimas und Nagasakis, und er ermöglicht seinen Studenten bis heute jährliche Austauschbesuche. Kuznick würde Wissenschaft nie in Elfenbeintürmen ansiedeln. Sein Wissen begreift er als zwingenden Grund, um als Kriegsgegner und Aussöhnungsaktivist zu wirken.

Auch ihn frage ich zuerst, warum es eigentlich zwei Atombomben gab. Er antwortet mit einem Zitat des Chefanklägers der Nürnberger Prozesse. Die Argumente für und wider die Hiroshimabombe seien immerhin verfügbar, habe der gesagt. Aber eine gute Ausrede für die Nagasakibombe habe er nie gehört.

Die USA sendeten ein Signal an Moskau
 

»Warum gab es die zweite Bombe?«, fragt sich Kuznick dann selbst und kommt wie Sherwin zuerst auf die technischen Gründe. »Es gab eine zweite Bombe, weil es zwei Bauarten gab. Hätte Amerika neben der Uran- und der Plutoniumbombe auch eine Thoriumbombe gehabt, wäre auch eine dritte Stadt bombardiert worden.« Es habe aber auch das Motiv gegeben, den Japanern und Sowjets zu zeigen, dass man nicht nur eine einzelne Bombe zur Verfügung habe, sondern ein ganzes Arsenal.

Das war das Argument derjenigen, hake ich ein, die mit den Bomben Japan den größtmöglichen Schrecken einjagen wollten. Ob denn die Sorge vor einem weiteren Atombombenhagel nicht doch dazu beigetragen habe, dass Tokio kapitulierte?

»Nein, denn tatsächlich war dieses Signal eher an die Sowjets gerichtet«, antwortet Kuznick. »Dass Amerika in Japan ganze Städte auslöschen konnte, hatte es hinlänglich bewiesen. Aus japanischer Sicht war es kein großer Unterschied mehr, ob dafür 200 Flugzeuge ankamen und Tausende Bomben abwarfen oder nur eines mit einer Bombe. Andere Großstädte, Toyama etwa, waren sogar noch vollständiger ausradiert worden. Für Japan machte die Atombombe also allenfalls einen quantitativen, aber keinen qualitativen Unterschied.«

So viele Zivilisten wie möglich
 

Kaiser Hirohito, halte ich dagegen, erwähnte in seiner Rede ans Volk die Bombe trotzdem. »Sie war ein Grund, aber nicht der Hauptgrund. In seiner zweiten Rede, die er ans Militär richtete, nannte Hirohito nur Moskaus Kriegserklärung als Ursache.

Militärisch waren die Bomben tatsächlich nicht nötig, und ethisch waren sie ohnehin nicht zu rechtfertigen. Das bestätigten nach dem Krieg viele hochrangige Generäle, die selbst darüber entsetzt waren. Der entschiedenste war Trumans eigener Stabschef, Admiral William Leahy, der dem Präsidenten vorwarf, er habe ihn in die Irre geführt.« Leahy habe die Atombombe als Massenvernichtungswaffe verurteilt. Truman habe ihm deshalb eigens versichert, damit nur militärische Ziele anzugreifen.

In Wahrheit habe Amerika dann aber auch so viele Zivilisten wie möglich getroffen. »Leahy war darüber ebenso empört wie seine Kollegen Eisenhower, Nimitz, Spaatz und Arnold. Fast alle Top-Militärs widersprachen, wir können die ganze Liste durchgehen. Alle wussten, dass Japan längst besiegt war und kapitulieren wollte. Wie konnte unser Land das erste sein, kritisierten sie, das da noch diese schreckliche Bombe einsetzte?«

Tatsächlich kam eine US-Untersuchung nach dem Krieg zu dem Schluss, dass »in offiziellen Befragungen, Tagebüchern und anderen privaten wie öffentlichen Quellen alle führenden Militärs bestätigten, der Einsatz der Bombe sei nicht aus militärischer Notwendigkeit erfolgt«. Leahy sprach in seinen Memoiren ausdrücklich von »ethischen Standards, die unter Barbaren finsterer Zeiten üblich waren«. Er sei als Soldat nicht gelehrt worden, dass man »Kriege auf diese Art führe«. Sie könnten nicht dadurch gewonnen werden, »indem man Frauen und Kinder zerstört«.

Auch wenn die Befehlshaber die gleichen Zweifel schon nach dem Flächenbombardement Tokios hätten äußern können, machen die Aussagen klar, dass die Befürworter der Bombe bewusst nur im engsten Kreis agierten. Oder, wie Flottenadmiral Chester Nimitz 1946 in einem Brief schrieb, dass »die Entscheidung über den Abwurf der Atombomben auf japanische Städte auf höherer Ebene als der des Generalstabs getroffen« worden sei.

Sogar General MacArthur, ergänzt Kuznick, der nicht eben als Pazifist aufgefallen sei und später selbst die Bombe im Koreakrieg einsetzen wollte, sei von den Abwürfen geschockt gewesen. Ebenso wie Ex-Präsident Herbert Hoover habe er bekräftigt, dass Japan schon im Mai kapituliert hätte, wäre nur der Status des Kaisers klar gewesen. »Ich denke, er war da zeitlich etwas zu optimistisch. Aber die Chance war da, dass im Juni oder Juli eine Kapitulation erreicht worden wäre.«

Entschied Washington erst nach der ersten Bombe über eine weitere?
 

Ob denn bekannt sei, was Truman wann über die Auseinandersetzungen in Tokios Führung gewusst habe, frage ich Kuznick. »Wir wissen es nicht genau«, antwortet er. »General Eisenhower, der die US-Besatzungstruppen in Deutschland anführte, sagte später seinem Biografen, dass er damals eigens nach Berlin gereist sei, um Truman mit seinem Vorwurf zu konfrontieren, die Kapitulationsforderungen seien zu rigide. Andere Militärführer bestätigen das, aber es gibt kein Protokoll des Treffens.

Was wir wissen, ist, dass die meisten Berater Truman dazu drängten, die Potsdamer Erklärung so zu formulieren, dass sie Japan die Kapitulation erleichtere. Nur sein Außenminister warnte ihn immer wieder davor, dadurch Reputation einzubüßen. In Wahrheit drohte ihm nichts, und Truman hätte das auch wissen können. Auch die Washington Post beispielsweise forderte damals ausdrücklich, den Kapitulationstext abzumildern. Selbst die Republikaner im Kongress, seine eigene Partei, drängten ihn dazu. Doch er weigerte sich.«

Die vorherrschende Sichtweise sei es, dass nach dem Fall Hiroshimas eben noch die Bombardierung Nagasakis nötig gewesen sei, damit Japan aufgab, sage ich Kuznick. Das erwecke den Eindruck, Washington habe erst nach der ersten Bombe entschieden, noch eine zweite zu werfen. Truman war auf dem Rückweg von Potsdam, als der Nagasaki-Bomber losflog. Wusste er da überhaupt schon, was die Hiroshima-Bombe angerichtet hatte? Oder wurde die zweite Bombe nur geworfen, weil es ohnehin so geplant war?

Weder Skrupel noch Zweifel
 

»Die zweite Mission folgte, weil sie ohnehin folgen sollte«, bestätigt auch Kuznick. »Truman war durchaus informiert. Er hatte unterwegs den Bericht erhalten, dass die Stadt Hiroshima von der Landkarte verschwunden war. Er sprang daraufhin auf und sagte, das sei das größte Ding der Geschichte. Er hatte nie Skrupel oder Zweifel daran, dass dies richtig sei. Zumindest räumte er damals nie welche ein.

Der einzige Grund, weshalb wir ihm gelegentlich moralische Betroffenheit unterstellen, ist die Tatsache, dass er danach beharrlich die Zahl der erwarteten US-Gefallenen bei einer Invasion erhöhte. Er begann mit einigen Tausend, dann sprach er von Zehntausenden, danach nannte er eine Viertelmillion. Später hieß es, das Militär habe ihm gegenüber eine halbe Million Toter angegeben, und zuletzt sprach er von einer Million oder mehr.«

Wie war es auf japanischer Seite?, frage ich. Selbst wenn man der späteren amerikanischen Deutung folgt: Reichten drei Tage, um in Tokio den ersten Atombombenabwurf zu begreifen und noch vor der zweiten Bombe zu kapitulieren?

»Ja, das wäre möglich gewesen«, erwidert Kuznick, »wenngleich es auch Experten gibt, die das anzweifeln. Tatsächlich entschied sich Japans Führung keineswegs für die Kapitulation, als die Berichte aus Hiroshima eintrafen. Armeeminister Anami kam sogar mit der Ankündigung ins Kabinett, er habe Hinweise darauf, dass Amerika noch hundert weitere Bomben habe und dass ihr nächstes Ziel Tokio sei. Selbst das hat die Führung nicht so beeindruckt wie kurz darauf die Moskauer Kriegserklärung.«

Zum gleichen Thema sendet die ARD am Abend eine Reportage: Nagasaki – Warum fiel die zweite Bombe? 23:45 im Ersten, ab 20:00 Uhr in der Mediathek.

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Klaus Scherer: Nagasaki. Der Mythos der entscheidenden Bombe, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München, 2015, 272 Seiten, 19,90 Euro.

Fotos: (c) NDR / Bacher, Hanser Verlag.

 

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