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Shiitenprediger Musa al Sadr - Der Papst der Muslime

Vor 32 Jahren verschwand Musa al Sadr in Libyen. Hat ihn Gaddafi töten lassen oder lebt er doch noch in einem seiner Geheimgefängnisse? Der berühmte Schiitenführer könnte die neue politische Landkarte des Nahen Ostens entscheidend verändern.

Seine letzten überlieferten Worte sprach er zu einem Portier: „Ich bin auf dem Weg zu Gaddafi.“ Dann stieg Musa al Sadr in einen Regierungswagen, fuhr die mit Palmen gesäumte Auffahrt des Strandhotels „Ash-Shathi“ in Tripolis hoch zum leeren Meeresboulevard und verschwand. Seit diesem 31.August 1978 verliert sich die Spur jenes Mannes auf Staatsbesuch, den Zeitungen als „Papst der Muslime“ feierten, Anhänger als Imam huldigten und der zu den bekanntesten und einflussreichsten schiitischen Persönlichkeiten weltweit gehörte.

Sein Konterfei schmückt noch heute die Straßen Beiruts. Das melancholische Lächeln Musa al Sadrs haben aber auch die Rebellen in Libyen vor Augen, während sie in den befreiten Gebieten die zahlreichen Geheimgefängnisse öffnen, die Libyens selbst ernannter Revolutionsführer Muammar Gaddafi im ganzen Land, zumeist unterirdisch und gänzlich abgeschirmt, anlegen ließ. „Wir haben Informationen, nach denen er noch lebt“, sagte al Sadrs Tochter Houra der libanesischen Tageszeitung Daily Star.

Der Nahe Osten wappnet sich für eine mögliche Sensation. Beirut sieht dem ersten Prozesstag im Verfahren gegen Gaddafi am 20.Mai entgegen – der Oberst ist in Abwesenheit wegen des Verschwindens al Sadrs angeklagt. In Teheran haben Anfang März iranische Abgeordnete einen Untersuchungsausschuss beschlossen, der den Verbleib al Sadrs klären soll. Und Großajatollah Ali al Sistani, religiöses Oberhaupt der Schiiten im Irak, hat zum Gebet „für die Befreiung“ al Sadrs aufgerufen.

Schon immer wirkte al Sadr, der heute 83 Jahre alt wäre, über Grenzen hinweg: ein Iraner, im Irak bei den höchsten schiitischen Gelehrten theologisch ausgebildet, der 1958 in den Libanon gezogen war. Zügig avancierte al Sadr zum Führer der sozial und politisch marginalisierten Schiiten; 1,90 Meter lang, mit leuchtend grünen, tief liegenden Augen und einem fein gestutzten Bart – ein Popstar im Klerikergewand, der in Moscheen und Kirchen für religiöse Toleranz und Demokratie predigte.

Mit Beginn des libanesischen Bürgerkriegs 1975 schwand jedoch sein Einfluss. Viele Potentaten der Region mischten mit ihren Söldnern mit, auch Gaddafi fehlte natürlich nicht. Der träumte davon, aus dem Süden Libanons, dem Stammland der Schiiten, „eine gigantische Militärbasis zur Zerstörung Israels“ zu machen und sponserte palästinensische Milizen. Al Sadr entgegnete, die Linken im Libanon seien bereit, die herrschenden Christen bis zum letzten Schiiten zu bekämpfen. Vor allem aber wendet er sich dagegen, dass die arabischen Staaten ihre Auseinandersetzungen in den Libanon tragen. Was folgte, liest sich wie ein schlechter Kriminalroman.

Am 25.August 1978 fliegt al Sadr zusammen mit zwei Begleitern auf Einladung Gaddafis nach Tripolis. Nach den medialen Wortgefechten in den Wochen zuvor möchte man sich aussprechen, heißt es. Doch im Hotel „Ash-Shathi“ angekommen, sehen die drei dabei zu, wie der „Führer“ das Treffen von Tag zu Tag verschiebt. Dann kommt der 31.August. Am nächsten Tag soll das Treffen stattfinden. Bei einem Mittagessen mit einem Diplomaten der libanesischen Botschaft sagt al Sadr: „Es kann stürmisch werden.“ Wenige Minuten später steigt er in den Regierungswagen.

Gaddafi lässt Anfang September verlautbaren, al Sadr habe mit seinen Begleitern den Flug AZ 881 der Alitalia nach Rom genommen. Zeitgleich checkt ein „Musa al Sadr“ im Holiday Inn am Parco dei Medici ein. Allerdings trägt er einen riesigen Vollbart, ist kleiner Statur und verwechselt in der lateinischen Handschrift Klein- mit Großbuchstaben. Al Sadr indes spricht Englisch und Französisch. Der Gast zahlt im Voraus und verschwindet. Die italienische Polizei zweifelte nie an einer Aktion des libyschen Geheimdiensts. Gaddafi aber schweigt.

Heute berufen sich viele in der arabischen Welt auf al Sadr – und müssten ihn doch eher fürchten. Das Regime in Iran feiert ihn als Opfer des Obersts. Doch al Sadr stand immer für einen reformtheologischen Kurs und wäre damit heute Parteigänger der iranischen Opposition; schließlich nahm der Iran unter Revolutionsführer Ruhollah Khomeini recht schnell nach al Sadrs Verschwinden diplomatische Beziehungen zu Libyen auf. Khomeini dürfte in seinem Schwager al Sadr nicht nur einen theologischen Rivalen gesehen haben. Auch die libanesische Hisbollah sieht sich in al Sadrs Nachfolge, ist die islamistische Partei doch eine Abspaltung der von ihm begründeten Amal-Gruppe. Doch die strikte Dominanz des Militärapparats innerhalb der Partei dürfte bei al Sadr kaum auf Gegenliebe stoßen. Und schließlich müsste sich die Elite Libanons die Frage gefallen lassen, warum die Probleme, die der Bürgerkrieg damals aufgeworfen hatte, niemals angegangen wurden, und warum sich die sozialen Unterschiede im Land sogar noch verstärkt haben. Al Sadr wäre ein unbequemer Kritiker und Volkstribun.

Ob er tatsächlich noch lebt, darüber kursieren unterschiedliche Meldungen. Im Interview mit der panarabischen Tageszeitung Al Hayat sagte Libyens ehemaliger Botschafter bei der Arabischen Liga, Abdel Monem al Houni, al Sadr sei auf Gaddafis Befehl hin erschossen worden. Die Tageszeitung Asharq al Awsat dagegen vermeldete, er lebe immer noch in einem Gefängnis in Sabha, rund 650 Kilometer südlich von Tripolis. Die Wahrheit wird wohl erst herauskommen, sollte Sabha, eine Hochburg des Regimes, von den Rebellen eingenommen werden.

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