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Zukunftsliteratur - Das Spiel mit dem linguistisch Ungewohnten

In Zukunftsromanen hat das Spiel mit der Sprache eine besondere Bedeutung. Worüber aber schreibt, wer Geschichten erzählt, die in der Zukunft spielen?

Autoreninfo

Dietmar Dath arbeitete für das Feuilleton der FAZ und gilt als Sozialist. Mit seinem Essay Maschinenwinter versuchte er sich an einem neuen sozialistischen Ansatz. Er ist Autor und Publizist

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Man wird es mir in Deutschland wieder mal nicht glauben, aber es geht um Sprache. Im Ausland weiß man längst Bescheid; von dorther hat sich schließlich auch bei manchen hiesigen Leserinnen und Lesern von Literatur herumgesprochen, dass, wie und weshalb etwa Anthony Burgess für «A Clockwork Orange» 1962 das Russische in sein Englisch geschoben hat wie einen Satz gezinkter Spielkarten in einen anderen, oder dass George Orwell ums Jahr 1948 herum für «Nineteen Eighty-Four» die totalitäre Amts- und Propagandasprache «Newspeak» erfand, die in seinem ausgedachten Horrorstaat Ozeanien geredet wird. Dass es auch jüngere Beispiele gibt, durfte man letztes Jahr sogar im Kino erleben, wo David Mitchells postapokalyptische Inselmenschen aus dem von Tom Tykwer und den Geschwistern Wachowski verfilmten Roman «Cloud Atlas» in ihrem pastoralen Hirtendialekt Prophezeiungen raunen.

Das alles sind keine obskuren, gar alleinstehenden Abnormitäten – es gibt eine ganze literarische Gattung der Verschränkung des erzählerisch zeitlich und räumlich ins «Weiter» (statt, wie sonst erzählüblich, in irgendein «Damals») Entrückten mit dem linguistisch Ungewohnten.

«Babel-17» von Samuel R. Delany aus dem Jahr 1966 erörtert eine Sprache der fernen Zukunft, die zugleich eine Waffe ist. Dieser Verfasser vereinigt die beiden Berufungen zum Schriftsteller und zum Literaturwissenschaftler auf sich und hat 2012 ein erschütterndes Spätwerk, die sechshundert Seiten mächtige dichterisch-futuristische Großgrenzverletzung «Through the Valley of the Nest of Spiders» veröffentlicht, vor der sich in Deutschland, wo man dergleichen im offiziellen Literaturwesen sonst nicht beachtet, der Schriftsteller Clemens J. Setz unlängst ehrfürchtig verneigt hat.

In Ian Watsons komplexer Groteske «The Embedding» von 1973 erfährt man von künstlichen Sprachen, die ein Projekt der Verhaltensforschung und der radikalen Pädagogik in ihnen gemäße künstliche Welten eingebettet hat: Drei Gruppen von Kindern wachsen unter der Aufsicht virtueller Erziehungsberechtigter auf, die drei verschiedene, von Computern synthetisierte Sprachen sprechen – eine rein poetische, eine streng logische und eine von explizit nichtmenschlichen Kategorien beherrschte. In der feministischen «Native Tongue»-Romantrilogie von Suzette Haden Elgin (erschienen zwischen 1984 und 1994) geht es um die fiktive Sprache «Laádan», mit der ein unterdrücktes Geschlecht, die Frauen, in einer regressiv-rigiden zukünftigen Gesellschaft spezifische, bis dahin von jeder öffentlichen Diskussion ausgeschlossene Erfahrungsinhalte zu thematisieren lernt. In Geoff Rymans «A Child Garden: A Low Comedy» von 1989 wird sexuelle Abweichung von einem biotechnisch avancierten Regime als «schlechte Grammatik» verfolgt («A liebt B» muss dort spezifischen, sehr engen Regeln folgen).

Eine bestimmte Art von Stoff und ein spezifischer sprachlicher Einfallsreichtum gehören offensichtlich zusammen. Das gilt nicht allein für den angelsächsischen Sprachraum, aus dem alle oben genannten Beispiele stammen, wenngleich man dort, weil die betreffende Tradition weiter zurückreicht (nämlich bis zur sogenannten «Scientific Romance» um Leute wie H.G. Wells und Charles Howard Hinton vor über hundert Jahren), besonders weit fortgeschritten ist. Denselben Wechselgesang zwischen der stofflichen Entrückung und der sprachlichen Ideenfülle findet man auch in Frankreich – von Jules Verne über Pierre Boule und Stefan Wul bis Maurice G. Dantec und Michel Houellebecq –, in Italien – von Emilio Salgari über Dino Buzzatti bis zu Italo Calvino – und im Rest der Welt – von Kobo Abe bis Jorge Luis Borges.

Selbst in Deutschland, also bis vor Kurzem in zwei Staaten, auf deren Gebiet die Wiedergeburt der literarischen Moderne nach 1945 im Zeichen einer unglücklichen Gleichsetzung von ernsthafter Literatur mit allerlei Realismen und Naturalismen (zwischen psychologisch und sozialistisch) geschah, hat man vergleichbare Erscheinungen erlebt – die spekulativ neugierigsten Autorinnen und Autoren waren hier auch in den letzten sechzig bis siebzig Jahren die linguistisch experimentierwilligsten, von Irmtraud Morgner bis Arno Schmidt, von Carl Amery bis Myra Çakan.

Man kann die Spiele mit Sprachmaterial, die solche Leute spielen, wenn sie auf der Höhe ihrer oft eher privaten denn Schulen bildenden Künste schreiben, als eitlen Selbstzweck sehen – und deshalb ablehnen. Die deutsche lesende Öffentlichkeit ist dieser Spiele nach ein paar Generationen Wirklichkeitsknast inzwischen entwöhnt. Schon Anfang der sechziger Jahre, beim Erscheinen von «A Clockwork Orange», beschwerten sich sogar durchaus gutwillige Menschen über «Unverständlichkeit» und «sprachschöpferische Angeberei» des Autors, und auf der Seite eines Internet-Buchversands erregt sich die Kundschaft noch heute darüber, Mitchells «Cloud Atlas» sei unlesbar, nämlich voller Druckfehler (so schimpfen sie, falls sie nichts merken) oder Fremdwörter (so ächzen sie, falls ihnen immerhin etwas dämmert).

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Auch wenn man das, was die Genannten treiben und getrieben haben, tatsächlich für bloße Spielerei hält, die sich selbst genügt, mag man es, statt es zu hassen, vielleicht mögen. Kunst um der Kunst willen ist ja allemal erfreulicher, menschenwürdiger, gescheiter und ansprechender als Kunst um des Profits willen oder der Einhämmerung von Gehorsam gegenüber irgendwelchen Autoritäten.

Entscheidend bleibt indes, dass die allermeisten der Erwähnten in Wahrheit nichts derart Verspieltes im Sinn hatten, als sie sich an ihre jeweilige Arbeit machten, sondern – ausweislich entsprechender Äußerungen der meisten – die eigene Sprache einfach biegsam genug machen wollten, um damit einige Voraussetzungen überprüfen zu können, unter denen Menschen leben und miteinander umgehen – wirtschaftliche, politische, biologische, physikalische, selbst solche des Erkenntnisvermögens und der denkbaren Wahrheitstafeln für alle Sorten von Aussagen überhaupt.

Indem man am Erzählen dreht – oft nur ein winziges Bisschen –, rückt man die Invarianten und die Variablen des denkenden und sprechenden Lebens in den Blick und macht sie gegeneinander beweglicher, als sie sonst sind. Damit beginnt die schöne und fordernde Arbeit des Unterscheidens und Vergleichens. Kann man beides nicht sonderlich gut, packt man die mehr oder weniger reich ausgestalteten Phantasien, zu denen der erzählerische Dreh jeweils führt, auf ungeschickte Art mit Informationen voll: «Das Labor diente der Umrüstung von Affen in Servicedienst-Mitarbeiter, dazu war eine Maschine namens Prekarikon erfunden worden, die … » Ist man etwas versierter, so wird man sich lieber an ein Prinzip halten, das die Science-Fiction-Autorin Gwyneth Jones als Erste explizit aufgestellt hat: Was man erklären will, weil es nicht vertraut ist, muss man zuerst in seine Einzelteile zerlegen.

Hätte also 1789 jemand einen phantastischen Roman übers Autofahren geschrieben (Kutschen ohne Pferde, bizarr), wäre es außerordentlich töricht gewesen, Schilderungen der oben angedeuteten Sorte hineinzusetzen – «Hans und Petra fuhren in einem mit Verbrennungsmotor bestückten Kraftfahrzeug von metallen blauer Farbe eine gerade Straße entlang, die … » Wenn der Wagen jedoch auf der Autobahn liegenbleibt, ergibt sich eine schöne Gelegenheit, die Figuren darüber streiten zu lassen, wie der Unfall behoben werden soll. Man kann dann, wenn man will, sogar zeigen, was ein ADAC ist, und wie eine Gesellschaft aussieht, die sich einen leistet. Darin, was die Erkenntnispotenziale von Aussetzern und Störungen des Komforts angeht, erweist sich Literatur, besonders die spekulative, gerade nicht als Gegenteil, sondern als Steigerung der Alltagserfahrung: Ein Wochenende ohne Handy bringt den Kopf auf autogene Neuigkeiten und Vergessenes.

Wer Geschichten schreibt, die in der Zukunft spielen, schreibt freilich in Wirklichkeit sowieso nicht über die Zukunft. Das ist nämlich unmöglich, weil es die Zukunft nicht gibt (sobald es sie gibt, ist sie ja die Gegenwart, also verschwunden). Worüber also schreibt, wer Geschichten schreibt, die in der Zukunft spielen? Über Mögliches und über Wahrscheinliches. Ein Philosoph namens ­David ­Lewis hat sich einmal sehr darüber geärgert, dass der Satz «Donald Duck hat drei Neffen» eigentlich nicht wahr sein kann – es gibt ja keinen Donald Duck, also kann er auch keine Neffen haben. Trotzdem ist der Satz richtiger als «­Donald Duck hat vierhundert Neffen».

Woher weiß man das? Wie geht das zu? Die Lösung, die Lewis gefunden hat, ist der sogenannte «modale Realismus»: Alle mit Möglichkeiten, also mit dem Modalen, auch dem Fiktiven befassten Sätze beziehen sich auf Sachverhalte, deren Wahrheit jeweils eine Frage des Zusammenhangs, der Stimmigkeit und Triftigkeit für eine jeweilige Welt ist, von der wir in einem höheren Sinn als dem der Erfahrung annehmen sollen, es gäbe sie, weil sonst nämlich Sätze wie «Donald Duck hat drei Neffen» nicht nur weder falsch noch richtig wären, sondern, schlimmer, gar keinen Sinn hätten (nur ein Satz, der wahr oder falsch sein kann, besitzt für Philosophen wie Lewis einen Sinn).

Leider hat niemand Herrn Lewis erzählt, dass es das, was er da erfunden hat, schon seit Jahrtausenden gibt. Es heißt Kunst, und wenn man es schriftlich erledigt, heißt es Literatur – das wissen wir spätestens seit der Poetik des Aristoteles. Deren Haltbarkeit durch die Jahrtausende belegt hinreichend, dass der artige und biedere Naturalismus, den sich das Schreiben auf Deutsch ein paar Jahrzehnte lang als künstlerisches Generalmaß hat aufzwingen lassen, selbst eine Art kühner Spekulation darstellt – das irre Gedanken-Experiment nämlich, sich eine Literatur vorzustellen, die nicht mehr weiß, dass der einzige ihr zugängliche Realismus der modale ist.

Die Zukunft? Darüber weiß ich nichts. Die der deutschsprachigen Literatur aber stelle ich mir als eine Heimkehr zum Richtigen vor: zur Spekulation, die wieder weiß, was sie ist.

Dietmar Dath wurde 1970 geboren. Er ist Schriftsteller und Redakteur der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Zuletzt erschien sein Zukunftsroman Pulsarnacht (Heyne, München 2012. 431 S., 13,99 €)

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