Bücher des Monats - Worüber Kleist sich schlapplachte

Der Schweizer Germanist Peter von Matt, soeben siebzig geworden, gilt als Edelfeder der Branche. Das beweist auch seine neue Aufsatzsammlung, die von Nestroy bis Kafka reicht. Hans-Ulrich Treichel würdigt das Werk mit kollegialem Blick.

Der Schweizer Germanist Peter von Matt ist nicht nur ein äußerst fleißiger, belesener und gebildeter Autor, er gehört auch zu den Germanisten, die sich öffentlicher Aufmerksamkeit erfreuen und deren Bücher in den Auslagen der Buchhandlungen zu fin­den sind. Das ist keineswegs der Normalfall, besonders dann nicht, wenn es sich um germanistische Aufsatzsammlungen handelt. So viele germanistische Aufsätze auch Jahr für Jahr geschrieben werden, so wenige davon er­rei­chen eine nennenswerte Öffentlichkeit außerhalb der Fachwelt. Wenn sie nicht sogar innerhalb der Fachwelt ein Schat­­tendasein führen, denn oft genug liest man als Germanist einen Aufsatz ja nur aus dem einzigen Grund, weil man gerade selbst an einem Text zum gleichen Thema schreibt, und nicht etwa, um sich an dem Wissen, der Bildung und dem Stil eines Kollegen zu erfreuen.

Zumal es mit Letzterem nicht immer gut bestellt ist. Nicht jeder germanistische Aufsatz ist ein guter germanistischer Aufsatz, wobei sich natürlich fragen lässt, was  einen solchen überhaupt charakterisiert. Die Poetologie des germanistischen Aufsatzes ist noch nicht geschrieben worden, davor haben sich die Germanisten bisher gedrückt. Auch Peter von Matt hat sich meines Wissens noch nicht über sein eigenes Handwerk geäußert, obwohl er aufgrund seiner Schreib­praxis, seines oftmals produktions- und schreiborientierten Blicks auf literarische Texte und seines Ansehens als Autor doch der geeignete Mann dafür wäre. Wenn es einen Germanisten gibt, dem man nachsagt, gut zu schreiben, und der dafür auch die entsprechenden Preise bekommen hat (unter anderem den Deutschen Sprachpreis), dann ist es Peter von Matt. Es gibt auch andere, die gut oder sogar glänzend schreiben, aber denen sagt man es nicht nach, weil ihnen eben die entsprechende öffentliche Wirkung versagt bleibt.

Was also zeichnet Aufsätze wie diejenigen aus, die in «Das Wilde und die Ordnung» versammelt sind? Zum einen ohne Zweifel die Tatsache, dass sie uns belehren, Lese-Irrtümer korrigieren und Bildungslücken beseitigen, ohne uns zugleich in den Staub der Archive zu hüllen. Belehrend beispielsweise ist von Matts Reflexion über «die Wahrheit eines mißverstandenen Satzes», den jeder von uns kennt, und von dem die meisten glauben, ihn auch schon immer auf die richtige Weise verstanden zu haben. Der Satz lautet: «Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen.» Das kann doch nichts anderes heißen als: Wer den exotischen Verlockungen der Ferne folgt, der muss sich nicht wundern, wenn er in Sizilien friert, sich in Luxor eine Infektionskrankheit holt und in Casablanca Heimweh nach Schleswig-Holstein hat.


Mit Goethe unter Palmen wandeln

Von Matt belehrt uns eines Besseren: Zum einen erinnert er uns daran, dass die berühm­te Wendung aus Goethes «Wahlverwandtschaften» stammt, und zum anderen liefert von Matt uns den Satz in ganzer Länge: «Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.» Keine sauertöpfische Ermahnung also, nicht die kleinmütige Aufforderung, bloß zu Hause zu bleiben, hat Goethe hier formuliert, sondern das genaue Gegenteil: dass wir auf Reisen und in der Ferne die Chance haben, ein anderer Mensch zu werden, mit einer anderen Weltsicht und ande­ren Gesinnungen.

Es ist beruhigend zu wissen, dass Goethe es so gemeint hat und nicht etwa oberlehrerhaft-provinziell. Von Matt freilich ist nicht nur beruhigt, sondern fast ein wenig außer sich, wenn er schreibt: «Der Satz von den Palmen aber zieht uns den Teppich unter den Füßen weg.» Das scheint, mit Verlaub, ein wenig übertrieben, doch neigt von Matt, obwohl er Germanist und zudem noch Schweizer ist, gelegentlich durchaus zur Emphase: am stärksten in seinen «Dreizehn Variationen über Lichtenberg», wo er sich selbst lautstark mit dem Ausruf «Einwand! Einwand!» ins Wort fällt.

Damit das F… kein L… bekommt

Man kann als Rezensent einen Sammelband mit Aufsätzen über Goethe, Nestroy, Lichtenberg, E. T. A. Hoffmann, Wilhelm Hauff, Mörike, Heine und Schumann, Grillparzer, Keller und Fontane, Kafka, Ingeborg Bachmann, den «Unternehmer in der Literatur», «Die biographische Falle im Umgang mit Literatur», «Das Lesen als Katastrophe», «Die Wissenschaften und die Zeit» sowie die «Wildheit und Ordnung deutscher Sprache» nicht zusammenfassen, ohne sich in ellenlanges knochentrockenes Referieren noch der interessantesten Thesen zu verlieren. Daher verzichten wir lieber darauf.

Und wenden uns einem weiteren Fall von Übertreibung zu, der allerdings nicht dem Autor von Matt zuzuschreiben ist, sondern Heinrich von Kleist. Dieser erzählt in einer seiner Anekdoten die Geschichte eines preußischen Tambours, der nach der Schlacht von Jena als Heckenschütze gefangengenom­men und von den Franzosen zur Hinrichtung geführt wird. Vor der Exekution bittet er um eine letzte Gnade: «Und da der Obrist ihn fragte: was er wolle? zog er sich die Hosen ab, und sprach: sie möchten ihn in den … schie­ßen, damit das F… kein L… bekäme.»

Von Matt kommentiert: «Die Lücken ergänzen sich leicht: in den Hintern sollen sie den Mann schießen, damit das Fell kein Loch bekommt. Daß Kleist den Namen des Körperteils nicht hinschreibt, ist verständlich und in der Zeit üblich, warum er aber auch Fell und Loch nur mit je einem Buchstaben angibt, leuchtet weniger ein.»

Noch weniger freilich leuchtet ein, wie begeistert sich Kleist selbst von dieser Anekdote und dem Scherz des Tambours zeigt. Für Kleist ist es «der ungeheuerste Witz, der vielleicht, so lange die Erde steht, über Menschenlippen gekommen ist», und der Tambour «ein Mensch, wozu weder die griechische noch römische Geschichte ein Ge­genstück» liefere.


Wo ein Witz heroisch wird

Der Leser ist ratlos, denn es scheint, als habe Kleist jeden Maßstab verloren. Hier ist Germanisten-Rat gefragt, und von Matt liefert ihn uns insofern, als er zum einen eine Bemerkung Wilhelm Grimms zitiert, der glaubt, «daß der Tambour sein Herz nicht zum Ziel will geben». Denn das Herz, so von Matt, sei «die Mitte von Kleists Denken und Erfahren». Und: «Indem der Tambour sein Herz im Tode unverletzt bewahrt, ist er ein Gegenbild zu Preußen, das gegenüber Napoleon die Ehre verloren hat.» Das könnte so sein. Muss es aber nicht. Und von Matt resümiert denn auch: «Ganz schlüssig allerdings wird diese Deutung nicht.»

Was den Interpreten dazu veranlasst, noch weiter in der Geschichte zurückzugehen, um nun «den Bericht des Tacitus über den Tod der Agrippina» heranzuziehen, die auf Befehl ihres Sohnes Nero gemordet wird und ihrem Mörder zuruft: «Stoß mir in den Unterleib.» Also dorthin, wo sie ihren Sohn einst getragen hat. Dies, so von Matt, sei ganz und gar kein Witz, sondern eine eindeutige heroische Geste. Und erst vor dem Hintergrund dieses Heroismus werde deutlich, dass Kleist mit der Heroisierung seines ja eher in die plebejische Schwank-Tradition gehörenden Tambours «die Ordnung der Gattung oder des Diskurses aufbricht» und mit diesem «Bruch der Gattungsregeln» voraus­weist «auf die Entwicklung des Themas in der literarischen Moderne». Gemeint ist die oftmals pietätlose, komische oder sarkastische Verbindung von Tod und Gelächter in der modernen Literatur und die Aufhebung der Grenze zwischen dem Tragischen und dem Komischen.

Wer von Matts Aufsätzen folgt, der lernt also dazu, ohne vorschnell mit Gewissheiten konfrontiert zu werden, wenn es um Interpretationen und Lesarten geht. Und die sind oft genug unsicher, denn Lite­ratur ist ein vieldeutiges Signalsystem und Autoren sind unzuverlässige Gesellen mit oftmals irritierenden oder gar haarsträubenden Ansichten, wie wir im Fall Kleist gesehen haben.

Und nicht nur das: sie sehen manchmal auch merkwürdig aus.

So ist es denn zugleich komisch und tragisch, wie Peter von Matt den Dichter Eduard Mörike beschreibt: «Mörike sieht aus wie eine alte Frau, die aussieht wie ein alter Mann.» Allein so ein Satz sollte für jeden Leser Anlass genug sein, alle Romane eine Zeitlang beiseite zu legen und sich endlich einmal wieder mit Muße und froher Erwartung einer germanistischen Aufsatzsammlung zu widmen.

 

Hans-Ulrich Treichel ist Lyriker, Essayist und Erzähler und lehrt am Leipziger Literatur-Institut. Zuletzt veröffentlichte er «Südraum Leipzig. Gedichte» und den Roman «Menschen­flug».

 

Peter von Matt
Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur
Hanser, München 2007. 292 S., 24,90 €

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