Wer ist Thomas Pynchon? - Wir knacken den Code der Welt

Im Universum von «Against the Day» melden sich die Dinge, die es gibt, zuerst in der Mathematik. Nur die Mathematiker merken es nicht

Ich möchte mit der Erinnerung anfangen, wie ich von Thomas Pynchons neuem Roman «Against the Day» erfahren habe. Damals, 1999, war «Mason & Dixon» gerade auf Deutsch erschienen, der Roman über die Grenzziehung zwischen Maryland und Pennsylvania, und das «Literarische Colloquium Berlin» hatte zu einer Podiumsdiskussion darüber eingeladen. Im Lauf dieses Gesprächs – vier Leute, alle rauchend und Rotwein trinkend damals noch – erzählte der damalige Kulturstaatsminister Michael Naumann, dass er im Unterschied zu all uns anderen Pynchon persönlich kenne. Naumann ist scheint’s der einzige Deutsche, der Pynchon je zu Gesicht bekommen hat, diesen amerikanischsten oder unamerikanischsten aller Autoren, für den das Passfoto «die Guillotine des Staatsapparats» ist und der sich deshalb weigert, fotografiert zu werden.

Einmal sei er zu einem Weihnachtsbratenessen bei der Familie samt Sohn eingeladen worden, so Naumann. Und bei dieser Gelegenheit habe Pynchon erzählt, er habe gerade sein Romanprojekt über japanische Godzillas fallen lassen und sich stattdessen dem Problem Göttingen und Deutschland zugewandt. Da komme eine junge, russische, brillante Mathematikerin namens Sonja Kowalewskaja aus St. Petersburg nach Göttingen, um dort bei dem Mathematiker David Hilbert deutsche Mathematik und Physik zu lernen. Ich malte mir aus, wie dieser Roman aussehen könnte; das ist jetzt sieben Jahre her. Ich dachte, unter Hilberts mathematischer Leitung und Johann von Neumanns mathematischer Brutalität entsteht das Konzept der Atombombe, und Pynchon würde jetzt, indem er über Göttingen schreibt, die Vorgeschichte der amerikanischen Atombombe, von Hiroshima und Nagasaki, liefern – die Parallele zu «Gravity’s Rainbow», seinem WK-II-Roman.

Nichts konnte falscher sein als meine damaligen Hypothesen, stellte sich nun heraus, als ich «Against the Day» las. Ein Buch von mehr als tausend Seiten, das sich kaum knapp zusammenfassen lässt, hocherotisch, hochwissenschaftlich, hochpolitisch. Wahrscheinlich ist Pynchon die einzige Stimme, die aus der Zeit der politischen und der Drogen-Revolution von 1968 noch immer – nobelpreisverdächtig – zu uns schallt.


Überall ist die Vierzahl am Werk

Während ich in den vergangenen Jahren über Pythagoras und die Pythagoreer und dergleichen nachdachte, hat Pynchon offensichtlich dasselbe gemacht. Pythagoras wird in dem Buch erwähnt, und Philolaos von Kroton, den nur ein paar Spezialisten überhaupt beim Namen nennen können, tritt zweimal auf. Einmal in seiner grundlegenden Funktion: als vorsokratischer Held sagt er, die Erde ist gar nicht das Zentrum des Universums, sondern wir Pythagoreer verehren die ausgelegten Steinchen – eins, zwei, drei, vier –, die zusammen die Zahl zehn ergeben. Das einzige Diagramm auf den tausend Seiten des Romans sind zehn als Dreieck ausgelegte Steinchen, die die heilige Vierzahl der Pythagoreer bilden.

Auch die «Chums of Chance» werden kommandiert von den wahren Verehrern der unsäglichen Tetraktys, also genau dieser grafisch-mathematischen Gestalt, die bei den Pythagoreern für alles Mögliche steht. Und weil dem so ist, sagt Philolaos, ist nicht nur auf den Oktaven und Quarten und Quinten der Kithara diese relationale Struktur von eins-zu-zwei-zu-drei-zu-vier am Werk, sondern überall auf der Welt; nicht nur in der Musik hier auf Erden, sondern auch am Himmel. Deshalb gibt es scheinbar zwar nur sieben bewegliche himmlische Elemente, nämlich Sonne, Mond und die fünf damals bekannten Planeten – aber nein, es sind zehn. Das zitiert Pynchon in aller Liebenswürdigkeit. In der Mitte ist ein unsichtbares Feuer, dann gibt’s die Erde und die Gegenerde, die Erde ist exzentrisch. Und insgesamt sind das dann sieben plus drei gleich zehn; die Tetraktys ist wieder in der Physis am Werk. Und «True Worshippers of the Ineffable Tetraktys», wie die heimlichen Auftraggeber der «Chums of Chance» sich nennen, haben die Aufgabe, sie zu implementieren.

Die Primzahlen, das Chaos in der Mathematik

Die Pythagoreer haben um 450 vor unserer Zeit aus dem Rechnen, das die Babylonier und Chinesen und Ägypter viel besser als die Griechen konnten, etwas gemacht, was seitdem Mathematik heißt. Mathematik, das ist eben nicht einfach: zwei plus sieben gleich neun, sondern die Frage: Was sind die allgemeinen Eigenschaften von Zahlen? Da gibt es die fundamentale Aussage von Philolaos, die ich etwas deutlicher zitieren möchte, als Pynchon das tut. Jede Zahl (außer der Eins, die heilig ist und gar keine Zahl) ist gerade oder ungerade. Damit kann man Ordnungsprinzipien in die Zahlen einführen, weil man ja nicht mehr mit einzelnen Werten rechnet (mit vier Äpfeln oder sieben Zwergen), sondern man macht jetzt allgemeine Aussagen: Jede gerade Zahl hat eine bestimmte Struktur und jede ungerade hat eine andere.

Das ist wunderschön und scheitert an einem einzigen Problem, das auch die späten Pythagoreer entdeckt haben: Es gibt etwas radikal Chaotisches, Unordentliches in der Mathematik. Theaitetos, der Mathematiklehrer keines Geringeren als Platons, nennt diese Monstren Primzahlen, diejenigen Zahlen, die sich nur durch sich selbst oder durch eins teilen lassen, die durch keine andere diagrammatische oder arithmetische Struktur einfangbar sind, weil sie vollkommen zufällig in die natürlichen Zahlen hineintröpfeln. So dachten zumindest alle Mathematiker bis zu Leonhard Euler: dass keine Struktur dahinter ist. Adrien-Marie Legendre und der 15-jährige Gauss haben sich dann hingesetzt und alle Primzahlen bis 100.000 oder 50.000 aufgeschrieben – und siehe da: Es ergab sich eine erste Vermutung über die Struktur der Primzahlen, der Primzahlen-Verteilungssatz.

Seit Gauss, seit etwa 1800, ist klar, dass die Anzahl der Primzahlen von 2 bis x etwa der Gleichung gehorcht: x durch natürlicher Logarithmus von x; das lässt sich mit einem Integral analytisch angeben. Aber natürlich kann man auf diese Weise noch nicht auf einzelne Primzahlen, das Gegenteil aller mathematischen Ordnung, präzise zugreifen – was wir doch wollen, weil wir alle fremden Codes knacken wollen, weil wir doch die National Security Agency sind und weil wir selbst die Einzigen sein wollen, die nicht geknackt werden können. Das ist schließlich das Geheimnis der amerikanischen Informationsmacht. Deshalb sind die Primzahlen kein harmloses Spiel mehr, sondern seit siebzig Jahren das wichtigste mathematische Tool der Kryptografie.

Dann kommt Bernhard Riemann und schreibt 1859 auf sechs Seiten ein kleines Memoire für die Berliner Akademie der Wissenschaften, in dem er seine Hypothese äußert, dass man die Primzahlen viel schärfer in ihrer Verteilung angeben kann, indem man die Riemannsche Zeta-Funktion benutzt – und dann vermutet, dass alle nicht-trivialen Nullstellen der komplexen Zeta-Funktion beim Real-Anteil von 0,5 liegen. Ich gestehe, dass ich als Computergrafiker die trivialen Nullstellen der Zeta-Funktion viel mehr geliebt habe, die sind aufregend, grafisch. Aber es geht um die nicht-trivialen. Der Beweis für Riemanns Vermutung steht bis heute aus und würde die gesamte Zahlentheorie praktisch und mathematisch um einen Quantensprung weiterbringen.


Eine Offenbarung der griechischen Götter

Dies Problem ist es, worum es in «Against the Day» zwischen David Hilbert und der jungen Mathematikerin Sonja Kowalewskaja – im Roman heißt sie Yashmeen Halfcourt – geht. Hilbert hat in seinem berühmten Vortrag 1900 in Paris auf der Jahrhundertvereinigung der Mathematiker gesagt: Die Riemann’sche Vermutung über die Zeta-Funktion ist eines der zwanzig Probleme, die das 20. Jahrhundert unbedingt lösen muss (was es aber nicht geschafft hat, wie man im Jahr 2007 feststellen muss). Im Roman meldet sich die Heldin Yashmeen Halfcourt und sagt: «Herr Geheimrat» – auf Deutsch, mitten im englischen Text –, «diese Nullstellen haben doch ein symmetrisches Muster und sind auf eine bestimmte Weise verteilt. Könnte man die nicht als Eigenwerte in einer Hermite-Matrix lesen?» «Wieso, Fräulein Halfcourt», fragt der reale Hilbert hier im Roman zurück. Sie entgegnet einfach: «Könnte es nicht sein, dass physikalische Eigenschaften des Universums sich bei uns Mathematikern in diesen Nullstellen der Zeta-Funktion anmelden?»

Das ist, denke ich, der Grundgedanke des Romans: dass Dinge, die es gibt, sich als Mathematik melden; dass aber die Mathematiker, wie alle professionell Deformierten, taub dafür sind, dass sie in der Mathematik, in ihren Erleuchtungen, neuen mathematischen Einsichten der Welt ins Angesicht blicken. In jedem Handy, in jedem Fernseher, in jedem Radio, überall begegnet uns das physikalische Korrelat eines Satzes, den ein großer Mathematiker erträumt hat, ohne damals überhaupt Existenzaussagen zu wagen. Deshalb sind aus der Sicht derer, die an William Rowan Hamiltons Genialität glauben, die Quaternionen (eine bestimmte Erweiterung der reellen Zahlen) nicht etwas, das Hamilton etwa konstruiert hätte. Sie sind vielmehr etwas, das, als Hamilton mit seiner Ehefrau in Dublin an einer bestimmten Brücke spazieren ging, die Götter des griechischen-physischen Universums – und nicht der Christengott – ihm offenbart haben. Und deshalb ist der größte mathematische Verbrecher in «Against the Day» Leopold Kronecker, der behauptet hat, der Christengott habe den Menschen die natürlichen ganzen Zahlen gegeben, und alles andere sei Menschenwerk. Pynchon setzt demgegenüber darauf, dass in komplexen Zahlen und in Quaternionen und der Riemann’schen Vermutung das Universum codiert ist.

Das sagen auch die Mathematiker, nicht nur Pynchon: Wenn die Riemann’sche Vermutung bewiesen wäre, hätten wir die scheinbar heilloseste, chaotischste Struktur in der ganzen Mathematik, nämlich die Verteilung der Primzahlen über die ganzen natürlichen Zahlen, in einer einzigen winzigen Formel von sieben Zeichen codiert. Wir bräuchten die Formel nur auszurechnen und hätten gleichsam den Code der Welt. Dieser Code würde uns erlauben – das ist die wilde Hypothese des Romans –, das Verhältnis von Ursache und Wirkung umzukehren. Und wenn man Ursache und Wirkung vertauschen könnte, könnte man mit dem Pynchon von «Against the Day» Zeitreisen à la H. G. Wells unternehmen und Kongresse über Zeitreisen veranstalten, mit praktischer Durchführung. Wobei es dann natürlich wahnsinnig schwierig wird zu sagen, wann eigentlich der erste Kongress über Zeitreisen stattgefunden hat, weil die Zeitreisen ja den Kongress in jedes beliebige Jahr legen können.


Platon und Aristoteles bekamen rote Ohren

Damit versucht Pynchon nach 2000 Jahren literarischen Unglücks, etwas Neues zu beginnen. Das Unglück begann, als Platon und Aristoteles bei der Lektüre von Ilias und Odyssee rote Ohren bekommen haben – im Namen der jungen Schüler, die die erotischen Stellen in den beiden Epen lesen sollten, also wie Zeus mit Hera schläft oder Ares mit Aphrodite. Daraufhin hat Platon den Begriff der Allegorie kreiert, um diese Stellen wegzukriegen. Da schläft dann einfach der Regen mit der Erde. Und Aristoteles hat den Begriff der Metapher kreiert, dieses uneigentliche Wort, das nichts bewirkt. Die Dichter können die Liebe Venus nennen oder Aphrodite, und das heißt dann nichts mehr. Für mich heißt das aber was. Und ich glaube, für Thomas Pynchon heißt es in diesem physikalisch-mathematischen Sinn etwas: Wenn man mathematische Modelle der Welt wie die Zeta-Funktion nimmt und vor allem diesen mathematischen Modellen unterstellt, dass sie in der Wirklichkeit, in der Physik, ein Korrelat haben, das sich darin meldet, dann wird vielleicht etwas möglich, was wir als Wunder bezeichnen würden – dass das Perpetuum mobile läuft.

Oder dass ein Romancier 2000 bis 2006 sich wirklich der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anverwandeln kann; dass ein Roman also nicht bloß eine simulierte Zeitreise ist, sondern nach so vielen gelesenen Büchern und Quellen und Wissenschaften mehr ist als ein blöder historischer Zeitroman – vielmehr eine Anstrengung des Denkens, in die Zeit zurückzukommen, als Anarchie noch war. Und vielleicht die Hoffnung zu haben, dass, wenn man die Zeit damals so gut rekonstruiert samt ihren Wundern, die gar nicht eingetreten sind, die aber doch theoretisch, physikalisch, mathematisch hätten sein können, dass dann eine andere Zeit und Geschichte uns gegönnt wäre, in der die Wünsche wenigstens adressierbar, wenn nicht erfüllbar sind, immer. Dass es sich lohnt zu schreiben, anstatt Literatur zu verbrechen.

 

Der Text geht auf einen Vortrag im Stuttgarter Literaturhaus am 8. Januar 2007 zurück.

 

Friedrich Kittler ist Professor für Ästhetik und Geschichte der Medien an der Berliner Humboldt-Universität. Zuletzt veröffentlichte er «Musik und Mathematik I. Hellas 1: Aphrodite». In diesen Tagen erscheint der gemeinsam mit Ana Ofak herausgegebene Band «Medien vor den Medien. Übertragung, Störung, Speicherung bis 1700».

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