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(picture alliance) Erster Durchbruch: Das Genom des Erregers ist entschlüsselt.

Ehec - Wie aus Sorglosigkeit Angst wird

Dioxin-Eier? SARS? Rinderwahn? Schweinegrippe? Haben wir doch alles überstanden. Nun also die Angst vor der Gurke. Lächerlich, dachte ich. Bis am Mittwoch das Telefon klingelte.

Seit gut drei Wochen teilt sich die norddeutsche Welt in Ängstliche und Nicht-Ängstliche. Sie teilt sich in solche, die keine Gurken mehr essen, die ihre Tomaten braten und Bohnen mindestens zehn Minuten bei 70 Grad Celsius kochen und in jene, die im Restaurant furchtlos ein blutiges Rindersteak mit Salat bestellen und damit die Blicke der Umsitzenden auf sich ziehen. Ich gehörte bis vor ein paar Tagen zu den mutigen Salatverzehrern. Genauer: Bis zum Klingeln des Telefons am Mittwochmorgen. Da erzählte mir meine Freundin von ihrer Mutter, Ende fünfzig, bis vor zwei Wochen eine gesunde Frau. Nun liegt sie auf der Intensivstation eines norddeutschen Krankenhauses. Kurz bevor sie am vergangenen Freitag ins Koma fiel, zitterte und lallte sie, lag mit weit aufgerissen Augen im Krankenbett und erkannte ihre Tochter nicht mehr.

Seitdem bleibt der Tochter nur das Hoffen. Darauf, dass das Gehirn ihrer Mutter nicht durch den Ehec-Erreger und das Hämolytisch-Urämische Syndrom (HUS) angegriffen wurde, das durch Bakteriengifte Blutzellen und Nierenfunktionen der Betroffenen zerstört. Sie hofft darauf, dass ihre Mutter diese Krankheit überlebt. Und wenn sie überlebt, dass sie nicht für den Rest ihres Lebens ein Pflegefall sein wird. Auf der Intensivstation dieses Krankenhauses liegen weitere 13 Personen im Koma, darunter zwei junge Mädchen. Es sind die schlimmsten Ehec-Fälle in diesem norddeutschen Hospital. Es sind bei weitem nicht die einzigen.

Seit diesem Morgen gehöre auch ich zu den ängstlichen Tomaten- und Gurkenverächtern. Und ein bisschen schäme ich mich dafür. Erst jetzt, wo ein bekannter Mensch unmittelbar betroffen ist, greift die Panik. Aus ist es mit der Souveränität, mit der auf weitere Epidemien und Lebensmittelverseuchung hingewiesen wurde. Dioxin-Eier? SARS? Rinderwahn? Schweinegrippe? Haben wir doch alles überstanden. Spricht doch niemand mehr darüber. Schauen wir uns die Lebensmittel an, vor denen wir uns in den vergangenen Jahren wechselseitig fürchten sollten, bleibt kaum ein Grashalm übrig. Schlagzeilen über Schlagzeilen landeten im Archiv – von der Bild, über den Spiegel bis hin zur Zeit. Die mediale Ausschlachtung der infektiösen Seuchenthemen machte vor der seriösesten Berichterstattung nicht halt. Nun also die Angst vor der Gurke. Lächerlich, dachte ich zunächst. Und da war ich nicht die einzige.

Nun aber ändert sich bei vielen Menschen die Wahrnehmung. Sei es, weil das Ausland reagiert – Russland hat jegliche Einfuhr von frischem Obst und Gemüse aus den EU-Ländern gestoppt – sei es, weil die Ehec-Fälle mehr werden, sei es, weil die tödlichen Folgen unmittelbar zu spüren sind. 17 Tote hat die Seuche mittlerweile gefordert. 1200 bestätigte und Verdachts-Ehec-Fälle gibt es mittlerweile in Deutschland. 470 Menschen sind an HUS erkrankt. Das Genom des Erregers ist inzwischen entschlüsselt. Woher der Erreger aber genau kommt – niemand weiß es. Waren es die Gurken? Ist es der Salat? Oder sind es die Tomaten? Warum sind vor allem Frauen unter den Erkrankten? Keine Antwort, keine Entwarnung. Der EU-Gesundheitskommissar John Dalli bezeichnet die Ausbreitung mittlerweile als "ernste Krise".

Aber nicht die veröffentlichten Zahlen der Ansteckungen, nicht die Warnung in den Zeitungen, erst das Miterleben einer Erkrankung bricht unser abgestumpftes Verhältnis zur medial aufgebauschten Gefahr. Die im Koma liegende Mutter der Freundin bringt mir das wahre Schreckensszenario nahe. Wie primitiv. Sind wir Menschen nicht als relativ intelligente Wesen zur Abstraktion fähig? Offensichtlich nein. Als in Japan die Erde bebte und der folgende Tsunami tausende Menschen das Leben kostete, gab es zunächst nur jene ritualisierte Betroffenheit, die auf jede Naturkatastrohe folgt. Nach den ersten Schlagzeilen über einen möglichen Atomunfall sorgten wir uns mehr um unsere Atomkraftwerke als um die von der atomaren Katastrophe betroffenen Japaner. Ein gesamtgesellschaftlicher Schockzustand aber erfasste die Nation erst bei der Sorge um zwei Männer, die mit undichten Stiefeln im havarierten Atommeiler von Fukushima im radioaktiven Wasser standen. Ob diese Männer eines Tages an Krebs erkranken würden, das interessierte den geneigten Zeitungsleser mehr als die Menschen, die ihre radioaktiv verstrahlten Häuser verlassen und wochenlang in japanischen Turnhallen übernachten mussten.

In Deutschland hat die Politik nun Konsequenzen gezogen. Sie musste auf die Ängste der Menschen eingehen, sie konnte diese Ängste aber auch für sich nutzen. Heute steigen wir mit aller Kraft aus der Nutzung der Atomenergie aus. Zu groß ist mittlerweile das Restrisiko, dass ein Flugzeug auf ein Atomkraftwerk stürzt. Was aber würde geschehen, wenn eine Boeing in das Chemiewerk Bayer in Leverkusen kracht? Das kann sich niemand vorstellen. Also findet darüber keine öffentliche Debatte statt.

Ich werde heute keinen Tomatensalat essen. Vielleicht zünde ich mir lieber eine Zigarette an. Wie bitte? Am Rauchen zu sterben ist wahrscheinlicher als an Ehec? Ach was, fast alle meiner Freunde rauchen doch.

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