Das Journal: Buchrezension - Was von der Formel übrig bleibt

Mathematik Neue Bücher zeigen, wie schwer es ist, große und kleine Rechenmeister richtig zu verstehen

Sein Buch solle Lust machen, tiefer in die «präzise Phantasie» der Mathematik einzudringen, schreibt Dietmar Dath im Vorwort seiner Sammlung von Mathematiker-Portraits. Damit bringt der Autor, Feuilleton-Redakteur der FAZ, elegant auf den Punkt, was die Mathematiker an ihrem Fach so reizvoll nden und Laien oft verzweifeln lässt: Auf den ersten Blick scheint die Mathematik nur aus Formeln zu bestehen, bei denen man nichts falsch machen darf. Erst dahinter öffnet sich eine Welt, die voller Metaphern und interessanter Ideen ist.
 
Die große Frage ist und bleibt jedoch, wie man diese faszinierende Seite auch Nicht-Mathematikern näher bringen kann. Die meisten Autoren versuchen es auf mathematischem Weg: Sie stellen Formeln und Theorien auf, führen Beweise durch – und hängen ihre Leser sehr schnell ab. Dath geht einen anderen Weg, der eher an «Mathematische Unterhaltungen» erinnert. Hier wird die Disziplin in ktive Geschichten verpackt, um sie lesbarer zu machen. Der englische Mathematiker Ian Stewart ist darin ein Meister. In seinem jüngsten Buch «Flacherland» erzählt er etwa im Stil von «Alice im Wunderland» die Abenteuer eines Mädchens und erklärt gleichzeitig die Mathematik von Raum und Zeit (siehe Literaturen 5/2003).
 
Auch Dath verwendet ktive Geschichten, jedoch etwas anders: Er lässt in seinen 20 Portraits fast ausnahmslos historische oder noch lebende Personen auftreten, und er kümmert sich kaum um die mathematischen Details. In seiner Erzählung über John von Neumann, den er als Wolf in einem von zwei konkurrierenden Rudeln vorstellt, schimmert ein wenig Spieltheorie durch. In einer anderen Geschichte verfährt sich der Chaos-Forscher Benoit Mandelbrot in einer Kleinstadt, deren Straßennetz sich wie ein mathematisches «Fraktal» unaufhörlich knickt und ineinander wuchtet.
 
Gespür für interessante Köpfe Dath schreibt bedeutend freier und mutiger über die Charakterzüge der Mathematiker, als dies Journalisten in der Regel tun. Auch sind seine Portraits kunstvoller gestaltet, insbesondere das über Alan Turing, der im Zweiten Weltkrieg deutsche Funksprüche zu entschlüsseln half und als Mitbegründer der Informatik gilt. Diese Geschichte gerät ihm zu einer Liebeserklärung an den berühmten Engländer. Indem er auch weithin unbekannte Mathematiker wie André Weil, Alexandre Grothendieck oder Julia Robinson vorstellt, zeigt Dath zudem großes Gespür für interessante Köpfe.
 
Das Buch hat aber auch unübersehbare, zum Teil ärgerliche Schwächen. Oft wird nicht deutlich, wo sich Dath an die Fakten hält und wo er seine eigene Phantasie spielen lässt. Er legt die Quellen nicht immer offen. Seine Charakterstudien scheinen ihm vor allem dann zu gelingen, wenn entsprechende Biograen bereits in Buchform vorliegen, wie bei David Hilbert oder Alan Turing. Die Texte über noch lebende Mathematiker wirken blasser. Viele Journalisten und Mathematiker werden den streitbaren Chaos-Forscher Mandelbrot noch nie so ruhig und gelassen erlebt haben, wie ihn Dath beschreibt. Warum erwähnt Dath die vielen Anekdoten der Kollegen und Feinde nicht, die über Mandelbrot in der Fachwelt kursieren?
 
Die größte Schwäche des Buches zeigt sich jedoch dort, wo Dath mathematische Inhalte zu erklären versucht. Vieles davon ist schlichtweg falsch oder kann so, wie er es tut, nicht gesagt werden – etwa bei den Denitionen von Reihen, Modulen oder diophantischen Gleichungen. Offenbar sind die Texte nicht von Mathematikern gegengelesen worden. Viele Passagen hören sich, auch wenn sie inhaltlich falsch sind, gleichwohl vollkommen mathematisch an. Sie vermitteln den Eindruck, dass die Formeln allein als Schmuckwerk dienen und die mathematischen Erklärungen vor allem den Klang der mathematischen Sprache wiedergeben sollen.
 
Wie Kinder rechnen lernen Auch andere Autoren wollen nicht in erster Linie mathematische Inhalte vermitteln, werden der Wissenschaft aber weit besser gerecht. Wirklich bemerkenswert ist das jüngste Buch, das die Didaktiker Hartmut Spiegel und Christoph Selter vorgelegt haben. Das Autoren-Duo beschäftigt sich nicht etwa mit den großen Mathematikern, wie es sonst üblich ist, sondern mit den ganz kleinen: nämlich Grundschulkindern. Wie denken die beim Rechnen? Das ist aus Sicht der Erwachsenen oft merkwürdig. Denn Kinder rechnen meist schon los, bevor sie eine Rechenaufgabe richtig verstanden haben. Oder sie machen auch bei Aufgaben Fehler, die sie eigentlich durchschaut haben.
 
Mit unterhaltsamen Beispielen erklären die Autoren die fundamentalen Erkenntnisse der mathematischen Didaktik: dass es ein Lernen ohne Fehler nicht gibt, dass man Kinder deshalb nicht zu streng korrigieren sollte und dass sie oft eigene und sehr clevere Rechenwege nden, die Erwachsene nur mühsam nachvollziehen können.
 
Übungsaufgaben ergänzen den Band. So soll sich der Leser die Zahlen von 1 bis 10 auf Japanisch einprägen; eine einfache Aufgabe wie «1+3» wird danach plötzlich furchtbar schwer. Andere Aufgaben stellen falsche Rechnungen von Kindern vor, die nach einigem Nachdenken völlig einleuchtend sind. Das macht Spaß, und man kann auch ein wenig über die Mathematik lernen. Weil Spiegel und Selter auch noch Tipps für den Umgang mit Mathe-geplagten Schülern geben, möchte man das Buch sofort weiterempfehlen und verschenken – an Lehrer, Studenten und Eltern.  

 

Dietmar Dath Höhenrausch. Die Mathematik des  XX. Jahrhunderts in zwanzig Gehirnen Eichborn, Frankfurt a.M. 2003. 340 S., 27,50 €
 
Hartmut Spiegel/Christoph Selter Kinder & Mathematik.  Was Erwachsene wissen sollten Kallmeyer, Seelze-Velbert 2003. 112 S., 14,90 €

 

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