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(picture alliance) Digitaler Exodus, inklusive Grabstein und Andachtseite

Webservice legt sich mit Facebook an - Sterbehilfe 2.0

suicidemachine.org – so hieß die virtuelle Sterbehilfe fürs Web 2.0. Jeder, der sich von seinem digitalen Leben verabschieden wollte, konnte dies hier in Würde erledigen. Doch damit ist Schluss, denn Facebook hat dem Service den Saft abgedreht. Aber nur für kurze Zeit… 

Als digitaler Dr. Kevorkian, dem 2011 verstorbenen „Dr. Tod“ aus Detroit, entpuppte er sich indem er schnelle, schmerzfreie und kostenlose Sterbehilfe im Netz anbot. Gordon Savicic erfand 2009 die „Web 2.0 Suicide Machine“. Zusammen mit Walter Langelaar und Danya Vasiliev vom niederländischen Medienlabor WORM, entwickelte Savicic einen Dienst, der auf Wunsch des Kunden dessen virtuelle Existenz bei Facebook, Twitter, Myspace und LinkedIn auszulöschen versprach – unauffindbar für Klassenkameraden, Partyflirts, Personalchefs und Steuerbehörden.

Auf Angabe von Logindaten löste die Suicide Machine nicht nur das Benutzerkonto auf, sondern löschte Stück für Stück so viele Hinterlassenschaften wie nur möglich. Jeden „Nicht-Algorithmiker“ würde es unzählige Stunden kosten,  all seine ehemaligen Posts, Likes und Kommentare zu finden und zu entfernen. Mit Hilfe einer Reihe intelligenter Skripte, wusste das System, wo sich welche Daten verstecken und innerhalb von circa sechzig Minuten war die Chronik gelöscht, nichts gefällt mehr, der Patient ist tot.

In den letzten Sekunden vor dem virtuellen Exodus sah man sein digitales Leben wie im Film noch einmal an sich vorbeiziehen, wie etwa die Facebook Freunde einer nach dem anderen aus dem eigenen Profil entfernt wurden, man aus sämtlichen Gruppen verschwand und eigene Kommentare von den Seiten anderer gelöscht wurden. Um ein Wiederauferstehen des Users zu verhindern, änderte die Suicide Machine zu guter Letzt auch noch das Passwort des eigenen Kontos. Zum Abschied gab es dann noch eine virtuelle Andacht. Die „Testimonial- Seite“ funktionierte als digitaler Friedhof, wo man auf Wunsch mit Foto und letzten Worten verewigt wurde und vermisst werden kann. [gallery:Von SMS-Merkel bis Flashmob-Horst – Politik trifft Moderne] 

Mit Hilfe der Suicide Machine sprangen 2009 über 90.000 Menschen über den digitalen Jordan. Mit meist fahler Haut und fettigem Haar, vermutlich von der Sonne geblendet wurde ein Neuanfang im Hier und Jetzt gewagt (Piraten und Frau Künast waren nicht dabei...). Überraschend schnell kam daher auch die Reaktion von Facebook. „Das Netzwerk hat mit Anwälten und Drohbriefen auf unsere Webseite reagiert und uns aufgefordert, unseren Dienst einzustellen.“ berichtet Savicic.

Seite 2: Die (Ich-bin-jetzt-mal-weg) Sehnsucht nach Freiheit und Anonymität blieb bestehen

Nach wenigen Monaten mussten die drei Gründer ihre digitale Dignitas einstellen. „Weniger wegen der Drohung, sondern vielmehr, weil Facebook und MySpace ihre Login-Prozedur so verändert hatten, dass man von einer fremden IP-Adresse (also einem fremden Computer) die Codes und Geheimantworten nicht mehr simulieren konnte“.

Aber die (Ich-bin-jetzt-mal-weg) Sehnsucht nach Freiheit und Anonymität blieb bestehen, deshalb entwickelt Savicic derzeit eine downloadbare Version der Suicide Machine. Mit dem neuen Programm können verzweifelte Netzgefangene den virtuellen „Sprung“ von der eigenen IP-Adresse aus wagen, und somit Facebook und MySpace überlisten. Die neue Software  legt außerdem gelegentlich Löschpausen ein, um den Anschein der Eigenhändigkeit zu wahren. Aber wirklich Tod ohne Leiche?

Nicht ganz: „Mit Hilfe der Suicide Machine kann zwar die Quantität der eigenen Daten im Netz verringert werden, wirklich verschwinden werden sie aber niemals. Auch weil wir keine Kontrolle darüber haben, was andere über uns ins Internet stellen“, erklärt Savicic. Ein Beispiel: Die Wahrscheinlichkeit, dass Facebook einen bereits kennt, bevor man sich als Mitglied anmeldet, ist relativ hoch. Wenn Facebook-User dem Netzwerk Einblick in ihr Adressbuch gewähren, ermöglichen sie damit ein relativ treffendes Bild des Bekanntenkreises auch noch unangemeldeter Menschen. Wenn nur jeder hundertste Einblick in sein Büchlein zulässt, so kennt das Unternehmen vermutlich alle seine zukünftigen Kunden“.

Ob verführt vom Internetexhibitionismus oder keusch und enthaltsam, im Netz sind wir inzwischen alle existent und verewigt.

„Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält“ schreibt Max Frisch in „Mein Name sei Gantenbein“. Heute schreibt wohl das Internet unsere Geschichten und das mit einem ewigen Gedächtnis.

Hinweis: In einer früheren Version enthielt der Name des Suchdienstes im Teaser einen Tippfehler. Dieser wurde korrigiert. Der Webservice heißt suicidemachine.org.

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