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Sibylle Lewitscharoff - Eine Schwäbin, die über Engel schreibt

Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff schreibt über Menschen und Engel, schwäbische Krämerseelen und bulgarische Hallodris

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Dieser Artikel erschien zuerst in der Oktober-Ausgabe des Cicero. Das Magazin für politische Kultur erhalten Sie am Kiosk oder direkt hier im Online-Shop.

 

 

Romifiziert sei sie. Wieder einmal. Wie vor elf Jahren, als sie in der Heiligen Stadt für den Roman „Montgomery“ recherchierte. Nun sitzt Sibylle Lewitscharoff im Garten der Villa Massimo, wo die Deutsche Akademie Rom beheimatet ist. Der Chor der Grillen steigert sich zum Crescendo, der Wind hält Siesta, die hartnäckigste aller römischen Fliegen umkreist den Tisch. Nebenan, in der Atelierwohnung, ihrer Stipendiatenbleibe für ein Jahr, feilt sie gleich an der Rede zum Büchner-Preis, der ihr am 26. Oktober verliehen wird. Und an dem Krimi „Killmousky“, einem „Zwischenstückchen“. Und sammelt Ideen für das nächste Romanprojekt: In einen Kongress der Dante-Forscher fahren himmlische Zungen nieder. Ein veritables Pfingstwunder zu Rom, im 21. Jahrhundert.

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Sibylle Lewitscharoffs erzählerische Welt ist von Engeln und Menschen bevölkert, von Schlaflosigkeiten und Träumen und sonderbaren Todesfällen, von Vätern, die sich aus dem Staub machen, Heiligen, die am Leben abprallen, und immer von viel Aberwitz und einer großen Dosis Stuttgart-Degerloch. Dort kam Lewitscharoff 1954 zur Welt, dort ließ sie 2003 ihren Montgomery herstammen, diesen sonderbaren Filmproduzenten. Er will in Rom „Jud Süß“ verfilmen und fällt dabei zurück in die Kuttel- und Gaisburger-Marsch-Tage der Kindheit – o du „Blitzsauberkeit“! Natürlich war auch der Held des folgenden Romans „Consummatus“, der Deutschlehrer und Jenseitserforscher und Alt-Rock-and-Roller Ralph Zimmermann, mit Schwabenschläue gesegnet: „Wenn ich zurückrechne, komme ich wie Heidegger auf 15 Geliebte.“

Ruckweise fällt Lewitscharoff ins Schwäbische, sobald Herzinniges berührt wird. Dann sagt sie im schattenarmen Garten der Villa „Maikäferle“ oder „der Kerle“. In den Romanen lockert sie den Acker des Dialekts behutsam. „Heilandzack“, rufen die Figuren, wenn sie sich wundern. „Apostoloff“ erzählt gar auf burlesken Pfaden die eigene Lebensgeschichte. Ein streitfreudiges Stuttgarter Schwesternpaar fährt nach Sofia, um die Überreste nach Deutschland ausgewanderter Bulgaren der Heimaterde zurückzugeben. Bulgarien aber ist ein „lächerliches Land“, hässlich überall.

Lewitscharoff war elf Jahre alt, als der bulgarische Vater, ein Arzt, sich das Leben nahm. In „Apostoloff“ erscheint er als Mann mit dem Strick, „im Innersten verkorkst“. Damals, sagt sie, begann das familiäre Elend. Die schwäbische Mutter stand allein da und mittellos. Sibylle fing zu schreiben an, den ersten Roman mit 16, eine „vertrackte südamerikanische Jesus-Geschichte, eine Auseinandersetzung mit dem Tod des Vaters“, der Kristo geheißen und durch diesen Namen und diese Tat den Namen Jesu „eigentlich beschmutzt hatte“. Zeitgleich begann „das sehr fromme Kind, das ich war“, seine trotzkistische Trotzphase. Sie fühlte sich linksradikal, ehe die Weltliteratur sie rettete. „Ich las Flaubert, Kafka, dann Musil und Proust und merkte: Die Welt ist nicht so simpel, wie es diese allzu starke Form der Idiotisierung vorgaukelte.“

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Überhaupt solle Literatur „unser Menschenbild verfeinern“. Gerade so habe sie eine zivilisierende Wirkung. „Mich hat sie stabilisiert in meinen charakterlichen Anlagen und meine Verstörung gemindert.“ Wenngleich sie jedes Buch, kaum geschrieben, erst einmal für verdorben halte, hofft sie auf eine solche Wirkung auch für andere. Die „noble Aufgabe der Kunst“, sagte sie 2011 in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung, sei es, „wenigstens eine Ahnung davon aufblitzen zu lassen, was essenziell gut, was schön, was wahr sein könnte in uns selbst und in der Welt, in der wir leben“.
Zuletzt war die Geschichte des Philosophen Hans Blumenberg in „Blumenberg“ der Vordergrund einer, wie sie sagt, „Heiligenlegende“. Blumenberg ist bei ihr ein Mann im Gehäuse, dem ein Löwe erscheint, ein Einzelgänger, der den „Absolutismus der Wirklichkeit“ verwirft. „Blumenberg ist eine Gegenfigur zu all jenen, die in ihrer Betriebsamkeit gar nichts mehr sehen.“ Der bibelkundige Asket teilt Lewitscharoffs Unbehagen an der „Wegwerftendenz“ der Moderne. Er schätzt wie sie die Tradition als jenen Teich, in dem sich baden muss, wer wahrhaft kreativ sein will: „Wer“, sagte sie ebenfalls in der Frankfurter Vorlesung, „wer den Wunsch hegt, seriös zu schreiben und sich nicht mit Leidenschaft, ja, mit Haut und Haaren, der Tradition ausliefert, der steht als ein ziemlich armes Würstchen da, dem Affentheater des Zeitgeschmacks völlig ausgeliefert.“

Am Abend sitzen wir im Ristorante. Der Grillenchor schläft, ein Ventilator pfeift, da beginnt sie zu fabulieren, unterbrochen vom typisch lewitscharoffschen Lachen, einem salvenartigen Überfall des Gemüts auf die Stimmbänder. Sie erzählt vom Jahr, das sie einst in Paris verbrachte, und dem anderen in Brasilien und von den drei Monaten auf dem Amazonas. In einer Hängematte lag sie, am Bug des Schiffes, und fühlte sich wunderbar leicht und eins werden mit dem Strom und mit den Bäumen, die vorüberzogen. Nichts fehlte. Doch das ist lange her und eine ganz andere Geschichte.

Alexander Kissler leitet den Salon. Er traf Sibylle Lewitscharoff in Rom zum ersten Mal. Ihre Bücher mag er, weil sie Humor und Geist wunderbar verbinden

 

 

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