Das Journal: Buchrezensionen - «Schau zum Grund und gründlich»

Œuvre Rechtzeitig zum 80. Geburtstag des Lyrikers, Essayisten und Übersetzers Michael Hamburger rundet sich die Werkausgabe

Füge man die Gedichte eines einzigen Autors zusammen, seien sie in der Lage, die Kontinuität im Leben des Einzelnen und im menschlichen Leben schlechthin aufzuspüren. Davon ist der englische Lyriker, Kritiker und Essayist Michael Hamburger überzeugt. Er feiert am 22. März seinen 80. Geburtstag. «Wenn also mein realer und wesentlicher Lebensweg überhaupt irgendwo festgehalten wird, dann ndet man ihn in meinen Gedichten.»
 
Außer in den äußeren Umständen, wonach Michael Hamburger 1924 in Berlin zur Welt kam, 1933 mit seinen Eltern nach England emigrierte und sich nach einem wechselvollen Leben in Suffolk ansiedelte, kann man also seine Biograe in den zahlreichen auf Deutsch erschienenen Gedicht- und Essaybänden nachlesen. Der jüngste Gedichtband «Aus einem Tagebuch der Nicht-Ereignisse» erscheint zum Jubiläum und rundet die im Folio Verlag herausgekommene achtbändige Werk-Edition ab. Übersetzt und herausgegeben wurden die Bände von Peter Waterhouse (mit Ausnahme der von Hermann Fischer übersetzten Essays). 
 
Missverstehen sollte man den Titel aber nicht, das Langgedicht zieht keinesfalls enttäuscht die Quersumme gelebter Jahre. Das Wort Nicht-Ereignisse bezieht Hamburger auf eine Welt außerhalb der Menschen, die von der manipulativen Sprache nicht erreicht und daher auch nicht als Ereignis gefeiert werden kann, «schau zum Grund und gründlich: rät der bewegliche Wind». 
 
Es ist eine weitestgehend unübersetzte Welt, die für sich noch keine Identität und keinen Fortschritt erfunden hat und die deshalb nicht nur leichter vergehen, sondern auch leichter wiederkehren kann. Sie beherbergt Flora und Fauna, Wind und Wetter – die Natur schlechthin, in die der Mensch trotz genmanipulativer Hilfestellungen mehr eingebunden lebt, als ihm lieb ist, und die ihm auf eine stille Weise weiterhin überlegen bleibt. Vergehen lösche hier nicht aus, sondern belasse die Dinge im Bereich des Potenziellen und der Latenz, heißt es in der Buchankündigung, weil in der Welt der Nicht-Ereignisse der Tod keinen Verlust an Identität, Selbstsein und Selbständigkeit mit sich bringe. 
 
Wegbereiter Hölderlins in England Aus dem hier aufscheinenden poetischen Ethos spricht keine Altersweisheit oder gar vorsichtig beginnende Abschiednahme. Schon als Dreißigjähriger bemerkte Hamburger während einer Italienreise, dass er die Natur nötiger habe als die Kunst und dass er keine Gedichte über das Raffael-Bild in Castiglione oder andere Meisterwerke schreiben könne, sondern ausschließlich über die Fotos, mit denen die Lebenden das Bild der Toten bewahrten. Das sei der Punkt, an dem Kunst und Natur – menschliche Natur – sich träfen. 
Hamburgers Gedichte sind in einer klaren Form geschrieben, denn er beobachtet. Ihn interessierten die Phänomene selbst, nicht die Gefühle, die sie in ihm auslösten und die er in seine Gedichte übertragen könnte, wie er in seinen Erinnerungen «Verlorener Einsatz» schreibt.
 
Neben poetischen Arbeiten liegen von Michael Hamburger auch zahlreiche Übersetzungen vor. Ihm vor allem ist es zu verdanken, dass Hölderlin in England Verbreitung fand. Mit fünfzehn entdeckte Hamburger ihn in einer Anthologie. Unbeirrt von seinem Lehrer, der dem Schüler diesen «unbedeutenden Dichter» ausreden wollte, legte Hamburger drei Jahre später dem damaligen Lektor des Faber & Faber Verlages, T.S. Eliot, erste Übersetzungen vor. 
 
Eliot reagierte damals auf eine heute noch gebräuchliche Weise: Nach Beratungen und Rückfragen habe der Verlag beschlossen, dass er in Zeiten wie diesen für den Luxus eines solchen Buches das Papier nicht erübrigen könne. So Eliot, selbst Dichter. Übersetzungen von Dichtung verkauften sich immer schlecht. Dieser erste Misserfolg hielt Hamburger keinesfalls davon ab, ein Leben lang weiterhin Hölderlin zu übersetzen. Ebenso übertrug er, zum Teil erstmalig, Goethe, Rilke, Enzensberger, Eich, Huchel, Bobrowski, Celan und den vergessenen Dichter Franz Baermann Steiner ins Englische. 
 
Der Wahlverwandte W.G. Sebalds

Begleite einen der Schatten Hölderlins ein Leben lang, weil man zwei Tage nach ihm Geburtstag habe? Sei es möglich, dass man sich in diesem Haus in Suffolk habe niederlassen müssen, nur weil im Garten das Geburtsjahr Hölderlins, 1770, auf einer Wasserpumpe stehe? «Wie kommt es, daß man in einem anderen Menschen sich selber und wenn nicht sich selber, so doch seinen Vorgänger sieht?» fragt W.G. Sebald in seinem englischen Reisebericht «Die Ringe des Saturn».

Auch Sebald sah in Hamburger einen Wahlverwandten. «Daß ich dreiunddreißig Jahre nach Michael zum ersten Mal durch den englischen Zoll gegangen bin, daß ich jetzt daran denke, meinen Lehrberuf aufzugeben, wie er es getan hat, daß er sich in Suffolk und ich mich in Norfolk mit dem Schreiben plage, daß wir beide den Sinn unserer Arbeit bezweifeln und daß wir beide an einer Alkoholallergie leiden, das ist nicht weiter verwunderlich. Aber warum ich gleich bei meinem ersten Besuch bei Michael den Eindruck gewann, als lebte ich oder als hätte ich gelebt in seinem Haus und zwar in allem geradeso wie er, das kann ich mir nicht erklären.»



Michael Hamburger
Gedichte und Essays.  Werkedition in acht Bänden Hg. und aus dem Englischen von Peter Waterhouse. Folio, Wien/Bozen 1994–2004. Einzelbände, soweit lieferbar, zwischen 12 und 18 €
 
Aus einem Tagebuch der Nicht-Ereignisse Hg. und aus dem Englischen von Peter Waterhouse. Folio, Wien/Bozen 2004.  140 S., 17 €

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