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Altes Deutschland - Wir haben keine Flüchtlings-, sondern eine Demografie-Krise

Kolumne Grauzone: Wir sind auf dem besten Wege, unsere Zukunft und unseren Wohlstand zu verspielen. Alle reden über die Flüchtlingskrise, dabei scheint keiner zu bemerken, welche Probleme wirklich drängend sind

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Seit Monaten beherrscht nur ein Thema die deutsche Medienlandschaft: die Flüchtlingskrise. In allen Facetten wird das Thema hoch- und runterdekliniert, von den Landtagswahlen über die AfD bis zur Europapolitik oder zum Terrorismus.

Man greift sich an den Kopf. Hat dieses Land keine anderen Probleme? Fast hat man den Eindruck. Und es überkommt einen ein Verdacht: Dient das Thema Flüchtlinge am Ende als willkommenes Vehikel zur Realitätsflucht? Als Ausrede, um sich den wirklich entscheidenden Zukunftsfragen nicht stellen zu müssen?

Denn wir sind auf dem besten Wege, unsere Zukunft und unseren Wohlstand zu verspielen. Doch das scheint niemanden zu tangieren. Stattdessen erregt man sich über Merkels „Wir schaffen das“. Blauäugiger geht es kaum. Denn wenn wir so weiter machen, werden wir nicht nur die Flüchtlingskrise nicht bewältigen. Dann stehen ganz andere Probleme ins Haus.

Die Kurzsichtigkeit der politisch Verantwortlichen
 

Mitte März etwa veröffentlichte die Citigroup eine Studie über die Rentensysteme der 20 größten OECD-Staaten. Etwas wirklich Neues stand da nicht drin. Altbekannte Zahlen, altbekannte Prognosen. Doch gerade deshalb ist das Material so brisant. Es belegt die Kurzsichtigkeit der politisch Verantwortlichen.

Konkret: Nach Berechnungen der Citigroup beträgt der Wert der Ansprüche an die öffentlichen Rentenkassen der betroffenen OECD-Staaten 70 Billionen Euro. Das ist fast doppelt so viel wie die Staatsverschuldung besagter Staaten in einer Höhe von 40 Billionen Euro. Allerdings sind diese Ansprüche chronisch unterfinanziert oder schlicht ungedeckt. Allein die Bundesrepublik Deutschland schießt jedes Jahr 86 Milliarden Euro Steuergelder zusätzlich in die Rentenkassen. Tendenz steigend. Fachleuchte rechnen damit, dass die 100-Milliarden-Marke spätestens im Jahr 2020, also in vier Jahren, geknackt werden wird.

Dabei gründet das Problem nur zum Teil im Unabwendbaren, im demographischen Wandel. Da in Zukunft wesentlich weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner versorgen müssen, wird die Belastung für den Staatshaushalt explodieren. Doch über dieses unvermeidbare Faktum hinaus wurden und werden die Rentenkassen mit versicherungsfremden Leistungen belastet: etwa mit Kindererziehungszeiten, Frühverrentungen und Entschädigungsleistungen.

Neue Geschenke belasten Rentenkassen zusätzlich
 

Nicht durch den demographischen Wandel, sondern durch den Beglückungswahn der Sozialpolitiker ist die Rentenversicherung katastrophal unterfinanziert. Doch statt das Ruder radikal herumzuwerfen, belastet Sozialministerin Andrea Nahles die Rentenkassen weiter. Allein die Kosten für die Rente mit 63 mussten immer wieder nach oben korrigiert werden – auf über 13 Milliarden Euro bis 2018, bis 2030 rechnen manche mit bis zu 50 Milliarden. Hinzu kommt die Mütterrente – 6,7 Milliarden im Jahr. Die für 2017 geplante Lebensleistungsrente ist da noch gar nicht eingepreist.

Ergebnis: Der Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt wird 2018 einen Rekordwert von 53,7 Prozent erreichen. Und das bei vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenzahlen. Statt Niedrigzins und günstige Konjunktur zum Schuldenabbau und zur Bildung von Reserven zu nutzen, werden die Rücklagen der Sozialkassen geplündert.

Schäubles „schwarze Null“ ist daher eine Lachnummer. Tatsächlich baut die Bundesregierung – wie andere Regierungen vor ihr – einen gigantischen Berg zukünftiger Sozialausgaben auf, die nicht zu bezahlen sein werden.

Der zu erwartende Gau der öffentlichen Finanzen
 

Dabei herrscht in vielen Bereichen dringender Investitionsbedarf, von der äußeren und inneren Sicherheit (Bundeswehr, Polizei) über die Bildung bis zur Infrastruktur. Doch statt in die Zukunft investiert man lieber in die Vergangenheit.

Um den zu erwartenden Gau der öffentlichen Finanzen effektvoll zu flankieren, haben die Notenbanken, insbesondere die EZB, alles getan, um private Vorsorgen wie Riester-Rente oder Lebensversicherungen zur Makulatur werden zu lassen. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass auch zukünftige Ansprüche aus Betriebsrenten zum Großteil ungedeckt sind.

Erst wenn man dieses Panoptikum vor Augen hat, kann und muss man zu der Flüchtlingsdebatte zurückkehren. Nach Berechnungen des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) vom Dezember belaufen sich die Kosten für die Flüchtlinge im Moment auf jährlich 25 Milliarden Euro, 2022 dann auf 55 Milliarden per anno. Eine gewaltige Herausforderung. Wir könnten das vielleicht schaffen – wenn die Politik der letzten Jahrzehnte die Voraussetzungen dafür geschaffen hätte. Hat sie aber nicht. Und so steuern wir gemeinsam – Neu- und Altbürger – auf ein Desaster zu.

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