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Reaktionäre Visionen - Die Irrlehre vom Eisplaneten

Die Welteislehre: Vom Aufstieg und Fall eines Wissenschafts-Spleens

Autoreninfo

Felsch, Philipp

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Im Jahr 1894 hatte der Kältetechniker Hanns Hörbiger eine Vision. Beim Blick auf den Sternenhimmel erkannte er, dass die Welt aus Eis bestand. Genauer: Sie bestand aus eisigen und feurigen Himmelskörpern, deren kosmisches Ballett einen ewigen Kreislauf bildete. Zerstörung und Wiedergeburt, Eisstürze, Kernschmelzen und Verpuffungen von planetarischen Welten lösten einander ab. Erste Konsequenz, noch bevor Hörbiger seine Frau geweckt und darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass der Mond, der vertraut über Wien leuchtete, eine blanke Eiskugel war: Er würde mit seiner bahnbrechenden Entdeckung unsterblich werden. Denn, zweite Konsequenz, die der Ingenieur ungläubig noch in derselben Nacht zog: Die Welteislehre widerlegte das Entropiegesetz.

Dieses hatte die Angst vor dem Wärmetod geschürt: Langsam, so fürchtete man, würde das Universum im Einheitsbrei nutzloser Energie erstarren – und die Industriegesellschaften des Fin de Siècle so vom Gespenst ihres Fortschrittsglaubens heimgesucht werden. Hörbigers glaziale Kosmogonie hielt dem physikalischen Geschichtspessimismus die Aussicht auf ewige Wiederkehr entgegen. Wie attraktiv diese Aussicht war, lässt sich nicht zuletzt bei seinem Zeitgenossen Nietzsche nachlesen. Auch er beschritt einen Denkweg, der aus dem Zeitalter der bürgerlichen Geschichtsphilosophie geradewegs in die heroische Moderne führte.

In ihrem Buch „Welteis. Eine wahre Geschichte” blättert die Wiener Wissenschaftshistorikerin Christina Wessely die heroische Moderne dort auf, wo sie buchstäblich am kältesten war: an der „Schnittstelle im kalten Weltanschauungsdiskurs”, der sich zwischen den Vereisungsszenarien reaktionärer Modernisierungskritiker und dem Lob der Kälte ausspannte, das die zeitgenössischen Avantgarden anstimmten. Von Hörbigers Heureka-Moment bis zur Gründung der Welteisgesellschaft, von seinen Paraffin­experimenten im selbstkonstruierten „Megvan”-(ungarisch für „Ich hab’s!”)-Apparat bis zum Rekrutenheer der „Welteis-Männer”, Privatdozenten, Autodidakten und Gymnasiallehrer, die den Kälteglauben in die Welt der Urania trugen, zeichnet sie die erstaunliche Wirkungsgeschichte der Welteislehre nach, die nicht nur Spinner und größenwahnsinnige Projektemacher, sondern auch Geister wie Gottfried Benn und Max Bense in ihren Bann zog. Nur der junge Marxist Ernst Bloch zeigte sich unbeeindruckt und attestierte Hörbigers Wissenschaftshoax 1934 hellsichtig, eine „spießig ausgebosselte Phantasterei” zu sein, die faschistischem Denken Vorschub leiste. Einen seiner wertvollsten Verbündeten fand der Ingenieur dagegen in dem Raketenpionier Max Valier, der in den späten zwanziger Jahren mit seinen Raketenautoversuchen auf der Avus das Berliner Publikum begeisterte. Valier machte sich den glazialen Standpunkt nicht nur theoretisch zu eigen. Seine Raketenexperimente dienten dem offen eingestandenen Zweck, die Theorie durch eine Eisfahrt zum Mond zu beweisen. Ähnlich wie die NASA heute plante Valier sogar, seine Rakete in einem Eis-Kraftwerk auf dem Mond zu betanken, um sie anschließend weiter zum Mars zu schicken. Zum Nachsehen der Welteis-Gemeinde zerriss es ihn bei einem seiner riskanten Experimente 1930 in der Luft. Es wundert nicht, dass die Nazis am Welteis Gefallen fanden.

Heinrich Himmler, der Esoteriker unter den NS-Granden, verordnete die Verifizierung der Theorie durch seinen Think Tank der Gegenaufklärung, das „Ahnenerbe”. Von den eigentlichen Vordenkern, den Welteis-Amateuren, wollte Himmler nichts mehr wissen. Stattdessen träumte er von der Zusammenarbeit mit Werner Heisenberg. Für so manchen zu kurz gekommenen Wissenschaftler eröffneten seine Spleens Karrierechancen. Nach 1945 trug die staatliche Förderung der Welteislehre dafür umso gründlicher zu deren Diskreditierung bei. Die kalten Krieger, die sich in den sechziger Jahren ihren Wettlauf zum Mond lieferten, hatten keine Schlittschuhe im Bordgepäck.

Warum die Geschichte der Pseudowissenschaft noch einmal erzählen? Die Wissenschaftshistorikerin Wessely verfolgt einen tieferen Zweck. „Sage mir, was du ausschließt, und ich sage dir, was du denkst”: Unter diesem Motto des Philosophen Michel Serres im Hinterkopf macht sie sich daran, die Grenzen des Denk- und Undenkbaren als die Grenzen der Wissenschaft selbst zu vermessen. Daher bietet ihr Buch unter anderem auch eine elegante Einführung in die Geschichte der Thermodynamik. Denn Hörbigers Kosmotechnik ist keinesfalls als das Andere dieser Supertheorie anzusehen. Überaus lesenswert zeigt die Autorin, wie sich die Irrlehre großzügig aus dem Repertoire ihrer Episteme bediente, wie „das Fantastische aus fast unmerklichen Variationen des Gesicherten entsteht”. Die simple Gegenüberstellung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft wird dabei gründlich unterwandert. Wie im Brennglas treten die Gesten der Wissenschaft hervor.

Christina Wessely: Welteis. Eine wahre Geschichte. Matthes und Seitz, Berlin 2012. 354 S., 29,90 €

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