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(Mitteldeutscher Verlag) Ob ein Kind den sozialen Aufstieg schafft, hängt nur allzu oft von der Unterstützung der Eltern ab

Buchrezension zu Hartz-IV - Offenen Auges in den sozialen Abstieg

Etwa zwei Millionen Kinder leben in der Bundesrepublik in Hartz-IV. Nur wenige von ihnen schaffen das Abitur. Woran liegt das? Ein gesellschaftliches Problem, ein familiäres? Nicole Glocke begleitete drei Familien aus prekären Verhältnissen und gelangte zu ernüchternden Erkenntnissen. Eine Rezension ihres neusten Buches „Wir Kinder von Hartz IV“

Nicole Glocke war sich sicher: Die meisten von Hartz-IV Betroffenen sind schuldlos an ihrer unsicheren Lage. Mit ihrem Buch „Wir Kinder von Hartz IV“ wollte sie die Diskussion um die unentwegt aufklaffende Schlucht zwischen Arm und Reich in Deutschland befeuern. Drei Familien aus prekären Verhältnissen hat Glocke über mehrere Monate begleitet, interviewt und porträtiert. „Ich hatte mich (…) auf Menschen eingestellt, die mein Projekt als eine Gelegenheit sehen, die Öffentlichkeit für ihren belastenden Alltag zu sensibilisieren und auf eine Verbesserung ihrer derzeitigen Lebenssituation hinzuwirken“, schreibt Glocke in der Einleitung. Während ihrer Recherchen stellte sie verwundert fest: Diese Annahme war nicht nur naiv sondern auch falsch. Die aus Bochum stammende Schriftstellerin traf auf Menschen, die sich selbst in ihre schwierige Lage manövriert hatten und die ihren Kindern offenen Auges einen sozialen Aufstieg verwehrten.

So erlebte es Nicole Glocke etwa bei der achtköpfige Familie Hoffmeister aus Berlin-Reinickendorf. Zunächst scheint die Großfamilie vielmehr bildungsnah als -fern. Ihren Kindern zu vermitteln, dass Bildung essenziell für ein erfolgreiches Berufsleben ist, sei das Ziel ihrer Erziehung, bekundet das Ehepaar Hoffmeister. Mit minutiöser Genauigkeit interviewt die Autorin jedes Familienmitglied. Die oftmals seitenlangen Passagen, in denen Glocke etwa die Kindheit und Jugend des Familienvaters wiedergibt, wirken an manchen Stellen zwar überbordend, erweisen sich aber als essenziell, um die gegenwärtige Situation der Familie in all ihren Facetten begreifen zu können. Auch, dass die Autorin Außenstehende zu Wort kommen lässt, erweist sich als Bereicherung. So wandelt sich das Bild der zwar finanzschwachen aber um Bildung ihrer Kinder bemühten Familie, das Glocke bislang gezeichnet hat erst, als Judith Beck ihre Eindrücke vom Familienleben schildert.

Zugleich wird unmissverständlich klar, wie genau man hinschauen muss, um Einzelschicksale in ihren ganzen Ausmaßen begreifen zu können. Gemeint ist das Schicksal der elfjährigen Tochter Julia Hoffmeister. Die Rentnerin und Gründerin der „Beck-Wegener-Ulrich-Stiftung“ Judith Beck ist auf das Mädchen aufmerksam geworden, will sie mittels ihrer Stiftung fördern, ihr die Schulbildung ermöglichen, für die ihren Eltern das Geld fehlt. Mit der Familie vereinbart Judith Beck, dem Mädchen nach der Grundschule die Ausbildung an der Schulfarm Scharfenberg in Berlin zu finanzieren, einem renommierten Internat mit gymnasialer Oberstufe. Doch plötzlich verkündet Jennifer Hoffmeister, der Familienrat habe sich nun doch gegen Scharfenberg entschieden. Ihre Tochter könnte dem emotionalen Druck und den Lernzwängen nicht standhalten. Außerdem sei Scharfenberg eine „Eliteschule“, in die Julia, ein Kind aus einer Großfamilie, nicht hineinpassen würde. Wenn sie tatsächlich das Potenzial für das Abitur hätte – was diese selbst bezweifelt – könnte sie es auch später nachholen.

Seite 2: „Die Väter und Mütter übertragen unbewusst ihre Bildungsferne auf ihren Nachwuchs“

An dieser Stelle ihres Buches verlässt Nicole Glocke endlich ihre bisherige Rolle als Interviewerin und geht auf Recherche. Ist Julias Schicksal ein Einzelfall? Leider nein. Entscheidungen wie diese kennt Elisabeth Rehr von der „Arche“ nur zu gut. Dass Arche-Kinder statt eines Gymnasiums die Realschule besuchen, läge oftmals nicht an mangelnder Intelligenz, sondern am fehlenden Rückhalt der Eltern. „Die Väter und Mütter übertragen unbewusst ihre Bildungsferne auf ihren Nachwuchs, sodass bei diesen Kindern eine Scheu zu beobachten ist, von sich aus Neugierde zu ent­wickeln, Freude am Lernen zu entdecken und generell vorwärts zu stre­ben“, so Rehr.

Als Gegenbeispiel porträtiert Glocke im dritten von vier Kapiteln die türkische Fa­milie Hirik. Obwohl der Vater seit Jahren keinen Einstieg in das Berufsleben findet, ist von Resignation nichts zu spüren. Statt mangelnder Integrationsbe­reitschaft oder Bildungsferne trifft die Autorin auf engagierte Eltern, die alle Bildungsangebote für ihre Tochter Nuray in Anspruch nehmen, um ihr das Abitur und Studium zu ermöglichen.

Insbesondere dieses dritte Kapitel ist eine wahre Erfrischung, bildet es doch jenes Stück Wirklichkeit ab, das in der gegenwärtig oftmals plakativ und vorurteilsbehaftet geführten Debatte immer wieder verloren geht. Wenngleich „Wir Kinder von Hartz IV“ nur einen geringen Bruchteil unserer Gesellschaft abbildet, zeichnet sich ab, wie komplex das Thema ist. Glocke resümiert: Die eigene Kindheit und Schulbildung, das Berufsleben, die Misserfolge und Erfolge, die sie betreffenden Entscheidungen und Reaktionen der Gesellschaft und nicht zuletzt der Charakter sind ausschlaggebend dafür, wie sich ein Mensch entscheidet, ob er handelt oder nicht.

Im vierten und letzten Kapitel schafft Nicole Glocke schließlich den Spagat zur aktuellen politischen Debatten um Hilfseinrichtungen für Kinder aus prekären Verhältnissen, um Elternrechte, die Verantwortung der Lehrer und des Staates. Sie interviewt Walter Riester, den ehemaligen Bundesminister für Arbeit und Soziales, der unter Gerhard Schröder die Riester-Rente auf den Weg brachte und wirft die Frage auf, ob eine bessere finanzielle Unterstützung von Hartz-IV-Familien tatsächlich zielführend wäre.

Ein so tiefgründiger Blick, wie ihn Nicole Glocke hinter die Kulissen der Familien gewährt, findet man in der deutschen Sachbuchlandschaft nur allzu selten. Vorurteils- und wertfrei konfrontiert die Autorin den Leser mit jenen Wahrheiten, die für Außenstehende sonst oft unbemerkt bleiben und zwingt ihn geradezu, das Handeln oder Nichthandeln jedes einzelnen Protagonisten zu verstehen.

Da stören auch weder die passagenweise in fade Zeugnissprache verfallende Erzählweise der Autorin noch der Buchtitel, der an den von Drogen dominierten Alltag jener Berliner Kinder erinnert, die Christina Felscherinow in „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ porträtierte. Vielmehr muss der Titel doch als gelungener Versuch anerkennt werden, die Geschichte gescheiterter deutscher Kindheiten weiterzuerzählen.

Nicole Glocke ist 1969 in Bochum geboren. Ihre eigene Kindheit war nicht gerade bilderbuchreif: Im Alter von neun, wurde ihr Vater Karl-Heinz Glocke inhaftiert. Seine Tarnung als West-Agent der Stasi war aufgeflogen. Werner Stiller, ein Oberleutnant der Hauptverwaltung Aufklärung, hatte ihn enttarnt. In ihrem Erstling „Verratene Kinder“ verarbeitete sie ihre Erlebnisse.

„Wir Kinder von Hartz IV“ ist das neuste Buch der promivierten Geschichts- und Politikwissenschaftlerin.

Nicole Glocke: Wir Kinder von Hartz IV, Mitteldeutscher Verlag 2012, 208 Seiten, Euro 14,95

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